WINTER 1868
Mit der Fertigstellung der beiden Leuchttürme waren auch die Gefahren vor Åludden gebannt. Für die Schiffe und für die Menschen dort. Das glaubten zumindest die Männer, die sie gebaut hatten. Sie waren der Ansicht, dass ihr Leben an der Küste nun für alle Zukunft gesichert und geschützt sei. Die Frauen aber wussten, dass es nicht so war.
Der Tod war näher als früher, er kam in die Häuser.
Auf dem Dachboden der alten Scheune steht auf einem Balken ein hastig eingeritzter Frauenname: GELIEBTE CAROLINA 1868. Carolina ist schon seit über hundertzwanzig Jahren tot, aber sie hat mir durch die Wände zugeflüstert, wie es damals zugegangen ist auf Åludden – in der sogenannten guten, alten Zeit.
Mirja Rambe
Der Hof ist so groß, so riesig. Kerstin sucht in allen Räumen nach Carolina, aber es gibt so viele Schlupfwinkel. Zu viele Schlupfwinkel, zu viele Räume.
Und ein Nebelsturm zieht auf, die Luft ist schwer und drückend. Kerstin weiß, dass sie nicht viel Zeit haben.
Der Hof ist solide gebaut und wird von dem Sturm nicht beschädigt werden, die Frage ist, wie die Menschen ihn überstehen. Wenn ein Nebelsturm kommt, versammeln sich alle um die Kamine wie verirrte Vögel und warten, dass er vorbeizieht.
Dem zu milden Sommer mit schlechter Ernte ist ein schwerer Winter gefolgt. In der ersten Februarwoche ist es so eiskalt, dass niemand freiwillig das Haus verlässt. Aber die Leuchtturmwärter und Schmiede haben Wachdienst und müssen zu den Leuchttürmen hinunter. An diesem Morgen befinden sich alle gesunden Männer, außer dem Leuchtturmmeister Karlsson, bei den Leuchttürmen, um sie für den aufziehenden Schneesturm wetterfest zu machen.
Die Frauen sind auf dem Hof geblieben, nur Carolina ist nirgendwo zu finden. Kerstin hat in allen Zimmern in beiden Stockwerken nachgesehen und war sogar auf dem Dachboden. Sie kann mit keinem der anderen Mädchen oder gar mit den Ehefrauen der Leuchtturmwärter sprechen, weil niemand von Carolinas Zustand weiß. Einige von ihnen ahnen es vielleicht, aber keiner weiß es genau.
Carolina ist achtzehn Jahre alt, zwei Jahre jünger als Kerstin. Beide sind beim Leuchtturmmeister Sven Karlsson angestellt. Kerstin ist die Nachdenklichere und Vorsichtigere von den beiden. Carolina ist lebhafter und vertrauensseliger – fast so abenteuerlustig wie Kerstins große Schwester Fina, die letztes Jahr nach Amerika ausgewandert ist. Dadurch kommt sie aber auch häufiger in Schwierigkeiten. In den vergangenen Wochen wuchsen ihr die Schwierigkeiten über den Kopf und schließlich hatte sie sich Kerstin gegenüber anvertraut.
Wenn Carolina den Hof verlassen hat, um sich im Wald oder im Moor zu verstecken, würde Kerstin sie niemals finden. Carolina weiß, dass ein Nebelsturm aufzog – ist sie so verzweifelt?
Kerstin verlässt das Wohngebäude. Über den schneebedeckten Innenhof fegt der Wind und wirbelt zwischen den Häusern umher. Der Nebelsturm nähert sich unaufhaltsam, dies ist nur eine Vorahnung.
Sie hört einen Schrei, der aber sofort wieder verstummt. Das war nicht der Wind.
Das war der Schrei einer Frau.
Die Böen zerren an Kerstins Kopftuch und Schürze, sie muss sich gegen den Wind stemmen. Mit aller Kraft schiebt sie die Tür zur Scheune auf und geht hinein.
Die Kühe brüllen und bewegen sich unruhig hin und her, während sie im Stall nach Carolina sucht. Aber dort ist niemand. Dann klettert sie die steile Leiter zum Heuboden hinauf. Die Luft dort oben ist eiskalt.
Vor dem großen Heuhaufen an der Wand rührt sich etwas. Zaghafte Bewegungen in Staub und Schatten.
Es ist Carolina. Sie liegt zusammengekrümmt auf dem Heuboden, nur bedeckt mit einer schmutzigen Wolldecke. Ihr Atem ist flach und pfeift, beschämt sieht sie zu Kerstin hoch.
»Kerstin … ich glaube, es ist passiert«, stöhnt sie. »Ich glaube, es ist rausgekommen.«
Angsterfüllt kommt Kerstin näher und kniet sich hin.
»Ist da was?«, flüstert Carolina. »Oder ist es nur Blut?«
Die Decke ist klebrig und feucht. Kerstin hebt eine Ecke hoch und nickt.
»Doch«, beruhigt sie ihre Freundin. »Es ist draußen.«
»Lebt es?«
»Nein … es ist zu früh gekommen.«
Kerstin beugt sich über das bleiche Gesicht.
»Wie geht es dir?«
Carolinas Blick flackert.
»Es ist ungetauft gestorben«, murmelt sie vor sich hin. »Wir müssen … wir müssen es in geweihter Erde begraben, damit es kein Wiedergänger wird … Es wird verdammt sein, wenn wir es nicht begraben.«
»Das geht nicht«, widerspricht Kerstin. »Ein Nebelsturm zieht auf, wir kommen um, wenn wir uns hinauswagen.«
»Wir müssen es verstecken.« Carolinas Stimme ist nur noch ein Flüstern, und sie ringt nach Luft. »Sie glauben doch sonst alle, ich hätte Ehebruch begangen und versucht, es abzutreiben.«
»Kümmere dich nicht darum, was die anderen denken.« Kerstin legt die Hand auf Carolinas heiße Stirn und sagt leise: »Ich habe einen Brief von meiner Schwester bekommen. Sie will, dass ich zu ihr nach Amerika komme, nach Chicago.«
Carolina scheint ihr gar nicht zuzuhören, sie atmet nur schwach. Aber Kerstin erzählt weiter:
»Ich werde nach New York fahren und von dort weiter nach Chicago. Sie hat für mein Ticket in Göteborg Geld hinterlegt.« Sie beugt sich noch tiefer zu ihrer Freundin hinunter. »Und du kannst auch mitkommen, Carolina. Willst du das?«
Carolina antwortet ihr nicht. Sie ringt auch nicht mehr nach Luft, das Leben strömt aus ihr heraus, kaum hörbar.
Dann ist es vorbei, und sie liegt reglos und mit aufgerissenen Augen im Stroh. Kein Geräusch ist mehr in der Scheune zu hören.
»Ich komme gleich wieder«, flüstert Kerstin mit tränenerstickter Stimme.
Sie wickelt das, was zwischen Carolinas Beinen im Heu liegt, in die Wolldecke und versucht, die Blutspuren und die Flecken vom Fruchtwasser zu verbergen.
Mit dem Knäuel unter dem Arm verlässt sie die Scheune und kämpft sich, dicht an die Scheunenwand gedrückt, über den Innenhof zurück zum Wohnhaus. Der Wind hat an Stärke zugenommen. Sie geht geradewegs hinauf in ihr kleines Mädchenzimmer und packt Carolinas und ihre Habseligkeiten zusammen. Dann zieht sie sich eine Lage Kleidungsstücke über die nächste, damit sie für die harte Wanderung gerüstet ist, die ihr bevorsteht, wenn erst einmal der Sturm vorübergezogen ist.
Anschließend geht Kerstin, ohne zu zögern, hinunter in den großen Saal, in dem die Öllampen und der Kachelofen eine behagliche Wärme und ein gemütliches Licht in die Winterdun kelheit strahlen. Der Leuchtturmmeister Sven Karlsson sitzt in einem Lehnstuhl am Esstisch, der in der Mitte des Raumes steht. Sein dicker Bauch spannt sich prall unter seiner schwarzen Uniform.
Als königlicher Bediensteter gehört Karlsson zu den Privilegierten der Gemeinde. Ihm steht fast die Hälfte des Hofes zu seiner eigenen Verfügung zu, und eine eigene Bankreihe in der Kirche von Rörby ist für ihn reserviert. Neben ihm thront seine Ehefrau Anna in einem Lehnstuhl. Einige der Hausangestellten halten sich im hinteren Teil des Raumes auf und warten darauf, dass der Sturm vorüberzieht. In einer dunklen Ecke kauert Alt-Sara, die aus einem Armenhaus stammt und für deren Wohnrecht bei sich Karlsson auf einer Auktion eine sehr geringe Summe geboten hat.
»Wo hat sie sich aufgehalten?«, fragt die Dame des Hauses, als Kerstin den Raum betritt.
Die Stimme der Frau des Leuchtturmmeisters war schon immer hoch und schrill, aber jetzt klingt sie noch durchdringender, weil sie das Jaulen des Windes übertönen muss.
Kerstin macht einen Knicks, stellt sich schweigend an den großen Tisch und wartet, bis alle Augen auf sie gerichtet sind. Sie denkt an ihre große Schwester in Amerika.
Dann legt sie das Bündel aus der Scheune vor Sven Karlsson auf den Tisch.
»Guten Abend, Herr Leuchtturmmeister«, sagt Kerstin mit lauter Stimme und wickelt die Wolldecke auf. »Ich habe hier etwas, das Sie offenbar verloren haben.«