39
Tilda blinzelte die Tropfen der geschmolzenen Schneeflocken aus den Augen. Dann nahm sie eine Handvoll Schnee und drückte sie sich vorsichtig auf ihr schmerzendes Nasenbein. Langsam und mit wackligen Beinen erhob sie sich, die Pistole im Anschlag. Ihr Kopf tat so weh wie die Nase, aber wenigstens konnte sie aufrecht stehen.
Der Hof war in Dunkelheit getaucht, und die Schneewehen zwischen den Gebäuden waren zu unscharfen Hügeln geworden. Dahinter erhob sich die Scheune wie eine dunkle Kathedrale. Ganz offensichtlich hatte es einen Stromausfall auf Åludden gegeben oder vielleicht sogar auf ganz Nordöland.
Nicht weit von Tilda lag Martin regungslos im Schnee. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Die Schneeflocken hatten bereits begonnen, seinen leblosen Körper zu bedecken.
Sie nahm ihr Handy und wählte die Notrufnummer. Die war besetzt. Dann versuchte sie es direkt im Polizeirevier von Borgholm, aber sie hatte auch dort kein Glück.
Während sie das Handy in die Jackentasche zurücksteckte, suchte sie den Innenhof nach dem Mann ab, der auf sie geschossen hatte. Sie hatte das Feuer erwidert – aber hatte sie ihn auch getroffen?
Sie wandte sich zur Veranda um. Auch Henrik Jansson war verschwunden.
Die Pistole im Anschlag, ging sie rückwärts, bis sie an die unterste Stufe der Treppe stieß.
Geduckt sprang sie die Stufen hinauf und sah durch die geöffnete Tür. Ihr Blick fiel als Erstes auf ein Paar Stiefel. Eine Gestalt in schwarzer Kleidung kauerte auf dem Teppich und stöhnte.
»Henrik Jansson?«, fragte Tilda.
»Ja«, antwortete er nach einer Weile des Schweigens.
»Keine Bewegung, Henrik!«
Tilda kroch auf ihn zu, die Pistole auf ihn gerichtet. Henrik rührte sich nicht, er reagierte überhaupt nicht auf die Waffe, sondern sah sie nur erschöpft an. Mit der einen Hand hielt er sich am Teppich fest, die andere hatte er fest gegen den Bauch gedrückt.
»Sind Sie verletzt, Henrik?«
»Ja, am Bauch … Messerstich.«
Tilda nickte. Noch mehr Gewalt. Am liebsten hätte sie vor Wut geschrien und jemandem die Schuld für all das Elend gegeben. Stattdessen nahm sie ihm das Messer ab und warf es hinaus in den Schnee. Dann überprüfte sie seine Hose und Jacke nach weiteren Waffen, fand aber keine.
Aus der Hosentasche holte sie ein Päckchen für die Wundreinigung und ihren letzten Druckverband.
»Martin liegt draußen«, sagte sie leise und reichte ihm die Sachen. »Er wurde getroffen. Er hat es nicht geschafft!«
»War er auch Polizist?«
Tilda seufzte.
»Ja, früher … er ist Ausbilder.«
Henrik riss das Päckchen für die Wunddesinfektion auf und schüttelte den Kopf.
»Das sind solche Idioten.«
»Wer, Henrik? Wer hat Martin erschossen?«
»Es sind zwei«, antwortete er. »Tommy und Freddy.«
Tilda sah ihn misstrauisch an, Henrik zuckte nur mit den Schultern.
»Die haben sich halt so genannt … Tommy und Freddy.«
Tilda erinnerte sich an die zwei jungen Männer vom Parkplatz vor der Trabrennbahn in Kalmar.
»Sind Sie hier zusammen eingebrochen? Sind Sie Partner?«
»Waren wir mal.« Er zog den Pullover hoch und begann, die Wunde zu säubern. »Das hier ist Tommys Handschrift!« Er zeigte auf den Stich in seinem Bauch.
»Wie sind sie bewaffnet, Henrik?«
»Sie haben ein Jagdgewehr, eine alte Mauser … aber ich weiß nicht, ob sie noch andere Waffen haben.«
Tilda hielt die Kompresse auf die Wunde, während Henrik den Druckverband anlegte.
»Legen Sie sich jetzt auf den Bauch!«, befahl sie dann.
»Warum das denn?«
»Ich muss Ihnen Handschellen anlegen.«
Er sah sie erstaunt an.
»Falls Sie von denen erwischt werden sollten, kommen die doch als Nächstes ins Haus«, sagte er aufgelöst. »Soll ich dann hier hilflos und angekettet sitzen und auf sie warten?«
Tilda wägte kurz ab und steckte die Handschellen dann zurück an ihren Gürtel.
»Ich komme wieder.«
Geduckt sprang sie die Treppenstufen hinunter und suchte hinter den Schneewehen Deckung. Sie warf einen letzten Blick zu Martin und machte sich dann kriechend und spähend auf den Weg zur Scheune.
Sie blinzelte, um durch die Wand aus Schneeflocken besser sehen zu können, jederzeit bereit, auf einen neuen Angriff zu reagieren.
Hinter einer lang gezogenen Schneewehe unmittelbar vor der Scheune entdeckte sie die Fußspuren des Schützen. Stiefelabdrücke und Anzeichen dafür, dass jemand im Schnee gelegen hatte, waren zu sehen. Aber sowohl der Mann als auch sein Gewehr waren verschwunden, und sie konnte keine Blutspuren entdecken.
Er hatte sich wohl in die Scheune zurückgezogen.
Tilda musste an Martins stark blutende Wunde im Rücken denken und blieb unschlüssig stehen. Das Scheunentor tat sich wie ein aufgerissenes Maul vor ihr auf, wie der Eingang einer Grotte. Sie wollte dort nicht hineingehen.
Ein Stück weiter rechts entdeckte sie einen zweiten Eingang – eine schmale Tür aus schwarz gestrichenen Brettern. Vorsichtig schob sie sich an der Steinmauer entlang, feiner Schnee rieselte vom Dach in ihren Nacken und schmolz auf ihrer Haut.
Tilda zog am Türgriff und drückte die Holztür so weit auf, wie es die Schneedecke erlaubte.
Sie spähte hinein.
Pechschwarz.
Mit der Pistole im Anschlag betrat sie die finstere Stille der Scheune.
Einen Augenblick lehnte sie sich gegen die Steinwand. Sofort meldete sich der Schmerz in ihrer Nase zurück. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit. Ob jemand dort stand und ihr auflauerte, war nicht zu erkennen.
Zumindest tobte der Sturm nicht so laut, dafür aber knackten und knirschten die Dachbalken. Schließlich riss sie sich zusammen und schlich leise weiter. Nun musste sie sich zwar nicht mehr durch Schnee kämpfen, dafür war der Untergrund uneben, Steinfußboden und blanke Erde wechselten sich ab.
Als plötzlich vor ihr ein riesiger Schatten auftauchte, zielte sie nervös darauf – stellte aber gleich darauf fest, dass es sich nur um einen gewaltigen Gummireifen handelte. Auf der Motorhaube über dem Reifen stand McCORMACK.
Tilda war auf einen alten Traktor gestoßen – ein rostiges Monster auf Rädern, das dort schon seit Jahrzehnten geparkt war.
Leise schlich sie daran vorbei. Als sie Farbeimer und einen Stapel von Holzbrettern fand, wusste sie, dass sie sich in einem alten Lagerraum an der östlichen Stirnseite der Scheune befand.
Plötzlich hörte sie das schwache Geräusch eines dumpfen Aufpralls. Hastig drehte sie sich um, aber hinter ihr war nichts.
Zwei Männer waren in der Scheune, hatte Henrik gesagt. Trotzdem hatte Tilda den untrüglichen Eindruck, dass sich weitaus mehr Personen dort aufhielten – die in der Dunkelheit standen und wachten. Es war ein diffuses und unangenehmes Gefühl, und sie konnte es sich auch nicht ausreden.
Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Finsternis, und sie konnte die gegenüberliegende Steinmauer ausmachen.
Da hörte sie ein Klirren. Es kam von links und aus dem Inneren der Scheune.
Wenige Sekunden später wurde es etwas heller. Sie entdeckte eine Tür in der Holzwand neben ihr. Das Licht nahm zu, es war tanzend und flackernd.
Tilda roch Rauch und ahnte, was geschehen war. Sie stürzte zur Tür und sah in die Scheune.
Die Treppe, die hinauf zum Heuboden führte, stand in Flammen. Der scharfe Geruch von Petroleum mischte sich mit dem Rauch. Jemand hatte Heu zusammengeschoben und dann eine angezündete Petroleumlampe auf dem Boden zerschmettert. Die Flammen loderten empor und leckten und fraßen sich immer weiter.
Auf der anderen Seite des Feuers stand ein groß gewachsener Mann. Er war ungefähr in Henriks Alter und hielt eine schwarze Strumpfmaske in der Hand. Er schien sie noch nicht bemerkt zu haben, sondern starrte gebannt in die größer werdenden Flammen. Sein Gesicht strahlte, und er wirkte geradezu aufgekratzt.
An einen Holzpfeiler hinter ihm lehnte ein gerahmtes Ölgemälde, eine Waffe war nicht zu sehen.
Tilda überprüfte ein letztes Mal, ob ihr keiner auflauerte, dann holte sie tief Luft und sprang in die Scheune. Mit beiden Händen hatte sie die Pistole im Anschlag und zielte auf den Mann.
»Polizei!«, schrie sie.
Er sah erstaunt auf.
»Auf den Boden!«
Der Mann blieb wie erstarrt stehen und öffnete den Mund.
»Mein Bruder sucht einen anderen Ausgang, auf der Rückseite«, stotterte er verwirrt.
Tilda ging auf ihn zu, sie war nur noch zwei Schritte von ihm entfernt.
Er wich zurück, in Richtung Scheunentor. Sie folgte ihm.
»Auf den Boden!«
Wenn er ihrem Befehl nicht Folge leisten sollte, würde sie dann schießen? Sie wusste es nicht. Sie zielte zur Sicherheit auf seine Beine.
»Ein letztes Mal: Legen Sie sich hin!«
»Ja, ja, schon gut …«
Der Mann nickte und legte sich umständlich auf den Boden.
»Hände auf den Rücken.«
Tilda hatte die Handschellen gelöst, packte seine Handgelenke, zog sie nach hinten und fesselte ihn. Jetzt konnte sie ihn nach weiteren Waffen abtasten. Er hatte aber nur ein Klappmesser in der Hosentasche. Und Tabletten, haufenweise Tabletten.
»Wie heißen Sie?«
Er schien nachdenken zu müssen.
»Freddy«, antwortete er dann.
»Ihr richtiger Name … wie lautet der?«
Er zögerte.
»Sven.«
Tilda war nicht wirklich davon überzeugt, dass er die Wahrheit sagte.
»Okay, Sven … Sie bleiben jetzt schön hier liegen.«
Sie hörte das Knistern der Flammen, die auf dem Steinboden keine Nahrung fanden und sich deshalb die Holztreppe hoch zum Heuboden fraßen.
Tilda konnte keine Lumpen oder gar einen Feuerlöscher entdecken, um sie zu ersticken. Auch keinen Wassereimer.
Sie zog ihre Uniformjacke aus und begann, auf die Flammen einzuschlagen. Aber sie wichen nur aus und kletterten weiter. Das Feuer schien auf den Dachboden zu wollen, bereits die Hälfte der Treppe stand in Flammen.
Würde sie in der Lage sein, die Treppe von der Kante des Heubodens zu lösen?
Da bemerkte sie einen Schatten, der sich in ihrem Augenwinkel näherte. Blitzschnell drehte sie sich um.
Es war ein Mann in Jeans und Wollpullover, der aus dem Dunkel der Scheune auf die Treppe zugerannt kam. Abrupt hielt er an, sein Blick wanderte von der brennenden Treppe zu Freddy und blieb dann an Tilda hängen.
Sie hätte ihn fast nicht wiedererkannt, aber es war Joakim Westin.
»Ich kann das Feuer nicht löschen!«, rief sie. »Ich habe es mit der Jacke versucht, aber …«
Westin nickte. Er wirkte äußerst gelassen, so als gäbe es weitaus schlimmere Dinge im Leben.
»Schnee«, rief er. »Wir müssen das Feuer damit ersticken.«
»Okay.«
Wo war Westin eigentlich hergekommen? Er sah blass und müde aus, schien sich aber über die ungebetenen Gäste auf seinem Hof nicht sonderlich zu wundern. Auch die Flammen beunruhigten ihn offensichtlich nicht sehr.
»Ich hole eine Schaufel.« Westin drehte um und lief zum Scheunentor.
»Schaffen Sie es auch ohne mich?«, rief ihm Tilda hinterher.
Joakim nickte erneut und rannte weiter.
Tilda überließ die brennende Treppe ihrem Schicksal, sie musste zurück in die Dunkelheit.
»Bleiben Sie genau da liegen«, befahl sie Freddy. »Ich werde jetzt Ihren Bruder suchen gehen.«
An der Tür zum Lagerraum blieb sie einen Augenblick stehen und wartete darauf, dass Joakim Westin wieder auftauchte. Er kehrte nur etwa eine halbe Minute später mit einer großen Schaufel voller Schnee zurück. Sie nickten sich kurz zu, und Tilda setzte ihren Weg in den Vorraum mit dem Traktor fort. Hinter sich hörte sie, wie das Feuer zischte, als Westin den Schnee daraufwarf.
Tilda hatte die Pistole wieder im Anschlag.
Erneut war sie umschlossen von Schatten und Kälte. Sie meinte Bewegungen zu hören, konnte aber nichts sehen.
Sie hielt sich dicht an der nördlichen Wand, deren kleine Fenster mittlerweile bis oben hin zugeschneit waren.
Dann tauchte eine weitere Tür vor ihr auf, Tilda ging hindurch. Der Raum dahinter war groß und noch kälter. Tilda blieb stehen. Erneut hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie senkte die Pistole, hielt die Luft an und lauschte.
Da löste sich ein Schuss.
Sie duckte sich, wusste nicht, ob sie getroffen worden war oder nicht. Ihre Ohren klingelten von der Explosion, sie musste husten und wartete.
Nichts geschah.
Eine Weile starrte sie in die Dunkelheit, bis sie etwa vier oder fünf Meter von sich entfernt eine weitere Tür bemerkte. Das war eine Außentür – aber davor stand jemand. Ein Mann.
Es war Freddys Bruder Tommy. Es konnte niemand anderes sein. Er hatte sich die Strumpfmaske in die Stirn geschoben, und sein bleiches Gesicht ähnelte Freddy.
Außerdem hatte Tommy ein Gewehr geschultert.
Tilda streckte die Hand mit der Pistole aus. Sie zielte auf ihn.
»Lassen Sie das Gewehr fallen!«
Aber Tommy blieb regungslos wie ein Schlafwandler stehen, als würde ihn jemand festhalten. Sein Blick war zu Boden gerichtet, seine rechte Hand lag auf dem Türgriff. Er schien auf dem Weg nach draußen zu sein, nur seine Beine wirkten wie angekettet.
»Tommy?«
Er antwortete nicht.
Hatte er eine Drogenpsychose? Langsam ging sie auf Martins Mörderzu, ängstlich, aberentschlossen. Dann streckte sie schweigend den linken Arm aus und nahm ihm das Gewehr von der Schulter und ließ es hinter sich zu Boden gleiten.
»Tommy?«, wiederholte sie. »Können Sie sich bewegen?«
Als sie seinen Arm berührte, kehrte plötzlich Leben in seinen Körper zurück.
Er zuckte zusammen, der Türgriff wurde nach unten gedrückt, und die Tür öffnete sich.
Sie flog auf, wurde vom Sturm aufgerissen. Und Tommy schoss hinterher, landete in der Schneewehe, rappelte sich auf und stürmte weiter.
Tilda stürzte ihm nach. In etwa zehn Meter Entfernung sah sie schwankende Baumstämme, ein Wäldchen.
»Tommy!«, schrie sie. »Bleiben Sie stehen!«
Ihre Stimme wurde vom Wind verschluckt, Tommy blieb nicht stehen. Er rief ihr etwas über die Schulter zu und floh in Richtung Wald.
Tilda feuerte einen Warnschuss in den Himmel ab, dann kniete sie sich hin. Sie zielte und behielt den Finger auf dem Abzug.
Sie würde seine Beine treffen können, das wusste sie. Aber sie war einfach nicht in der Lage, einen Flüchtigen von hinten anzuschießen.
Tommy hatte bereits die Sträucher am Waldrand erreicht. Dort lag weniger Schnee, und er konnte noch schneller laufen. Noch fünfzehn oder zwanzig Schritte, dann wurde er zu einem grauen Schatten und verschwand schließlich im Wald.
Verdammt.
Minutenlang stand Tilda unschlüssig vor der Scheune, konnte aber nichts erkennen, außer den Wirbeltänzen der Schneeflocken. Der Wind hatte noch nicht nachgelassen, aber erst als ihre Finger taub wurden, wandte sie dem Wald den Rücken zu. Sie ging zurück und holte das Mausergewehr.
Sie entschied sich, außen an der Scheune zurückzugehen, obwohl der Wind und die Kälte sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatten. Aber sie wollte nicht Gefahr laufen, jemandem in dem schwarzen Raum zu begegnen.