WINTER 1962
Markus kam zurück und wollte mich auch sehr gerne wiedersehen, allerdings nicht auf Åludden. Ich musste nach Borgholm fahren und ihn in einer Konditorei treffen.
Torun, die mittlerweile kaum Tag und Nacht voneinander unterscheiden konnte, bat mich, auf dem Rückweg Kartoffeln und Mehl zu kaufen. Mehl und Knollenfrüchte, daraus bestand unsere Nahrung.
Es wurde eine letzte Begegnung in einer grauen Stadt, die auf den Winter wartete, obwohl es schon Anfang Dezember war.
Mirja Rambe
Die Temperatur liegt um den Gefrierpunkt, aber es gibt keinen Schnee in Borgholm. Ich trage meinen alten Wintermantel und fühle mich auf den geraden Straßen der Stadt wie das Landei, das ich ja bin.
Markus ist auf die Insel zurückgekehrt, um seine Eltern zu besuchen und um mich zu sehen. Er hat Heimaturlaub von seinem Regiment in Eksjö und trägt eine graue Uniform mit eleganter Bügelfalte.
Die Konditorei, in der wir uns verabredet haben, ist gut besucht von ehrbaren Damen, die mich kritisch beäugen, als ich aus der Kälte hereingestolpert komme. Die Konditoreien in den schwedischen Kleinstädten sind keine Orte für junge Menschen, noch nicht.
»Hallo, Mirja.«
Markus steht wohlerzogen auf, als ich an seinen Tisch komme.
»Hallo«, erwidere ich.
Er umarmt mich etwas steif, und ich bemerke sofort, dass er mittlerweile Rasierwasser benutzt.
Wir haben uns seit Monaten nicht mehr gesehen, und die Stimmung ist am Anfang ziemlich verkrampft. Aber dann beginnen wir allmählich, uns zu unterhalten. Ich habe nicht so viele Neuigkeiten von Åludden zu erzählen, daher stelle ich Fragen über sein Soldatenleben. Ob er in einem Zelt schlafe, das so aussieht wie unseres auf dem Heuboden. Das habe er tatsächlich, auf Übungen. Seine Kompanie sei ganz oben in Norrland gewesen, erzählt er, dort hätten sie bei minus dreißig Grad gehaust. Um die Wärme im Zelt zu bewahren, hätten sie so viel Schnee auf das Zelt häufen müssen, dass es ausgesehen habe wie ein Iglu.
Dann entsteht ein peinliches Schweigen zwischen uns.
»Ich habe mir überlegt, dass wir noch bis zum Frühling so weitermachen können«, schlug ich dann vor. »Wenn du willst. Ich könnte ein bisschen näher zu dir ziehen, nach Kalmar oder so, und wenn du dann aus dem Militär ausscheidest, dann könnten wir doch zusammenziehen …«
Das sind ungewisse Pläne, Markus lächelt mich an.
»Bis zum Frühling«, wiederholt er und streichelt meine Wange. Sein Grinsen wird breiter, und er flüstert mir zu: »Hast du Lust, dir die Wohnung meiner Eltern anzusehen, Mirja? Das ist gleich um die Ecke. Sie sind nicht zu Hause, aber ich habe dort noch mein altes Zimmer …«
Ich nicke stumm und stehe auf.
Wir schlafen das erste und das letzte Mal in Markus altem Kinderzimmer miteinander. Das Bett ist zu klein, deshalb ziehen wir die Matratze auf den Boden. Es ist vollkommen still, nur unser Atem erfüllt die Wohnung mit Leben und Geräuschen. Am Anfang habe ich große Angst, dass seine Eltern plötzlich auftauchen, aber die vergesse ich bald.
Markus ist fordernd, aber sehr vorsichtig. Ich glaube, für ihn ist es auch das erste Mal, aber ich wage nicht zu fragen.
Ob ich aufgepasst habe? Wohl kaum. Ich hatte keinen Schutz dabei – ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass so etwas geschehen würde. Aber gerade deshalb war es auch einfach wunderbar.
Nur etwa eine halbe Stunde später stehen wir unten auf der Straße und nehmen Abschied. Es wird ein schnelles Lebewohl in dem schneidenden Wind, eine letzte unbeholfene Umarmung in dicker Kleidung.
Markus geht zurück in die Wohnung, um seine Sachen zu packen. Er wird mit der Fähre über den Sund fahren, und ich gehe zur Bushaltestelle.
Ich bin zwar allein, spüre aber am ganzen Körper seine Wärme. Ich wäre gerne mit dem Zug nach Hause gefahren, aber es fahren keine Züge mehr auf Öland, also steige ich in den Bus.
Die Stimmung unter den Passagieren ist gedämpft, das kommt mir entgegen. Ich fühle mich wie ein Leuchtturmwärter, der auf dem Weg zu seinem Dienst ist – ein halbes Jahr am Ende der Welt.
Es ist bereits dunkel, als ich südlich von Marnäs aussteige. Der Wind ist noch kälter geworden. Im Kolonialwarengeschäft in Rörby kaufe ich die Lebensmittel für Torun und mich und mache mich dann die Küstenstraße hinunter auf den Heimweg.
Als ich die Auffahrt von Åludden erreiche, sehe ich die schiefergrauen Wolken über dem Meer hängen, die ein Unwetter ankündigen. Der Wind peitscht über das Land, und ich laufe, so schnell ich kann, über den Hof. Wenn der Nebelsturm kommt, sollte man im Haus sein, sonst könnte es einem ergehen wie Torun im Opfermoor. Oder schlimmer noch.
Die meisten Fenster des Hofes sind dunkel, aber aus unserem kleinen Zimmer leuchtet warmes Licht.
Ich will gerade das Waschhaus betreten, da bemerke ich im Augenwinkel ein Blinken. Ich drehe mich um und sehe, dass die Leuchttürme angezündet wurden.
Auch der Nordturm ist angezündet, und sein weißes Licht scheint übers Meer.
Ich stelle meine Einkaufstasche ab und gehe über den Innenhof hinunter zum Strand. Der Nordturm leuchtet.
Während ich zum Turm hinaufstarre, fliegt plötzlich etwas Helles, Längliches an mir vorbei.
Bevor ich es richtig zu fassen bekomme, weiß ich bereits, was es ist.
Eine Leinwand. Eines von Toruns Gemälden.
»Da bist du ja wieder, Mirja!«, ruft eine Männerstimme hinter mir. »Wo hast du dich denn rumgetrieben?«
Ich drehe mich um. Aalfischer Ragnar Davidsson kommt auf mich zu. Er hat sein glänzendes Ölzeug an und trägt etwas.
Er hat einen ordentlichen Stapel von Toruns Gemälden im Arm – fünfzehn oder zwanzig Stück.
Ich muss an seine Worte damals im Waschhaus denken: Das ist doch alles schwarz und grau. Nur ein Haufen dunkler Farben … sieht aus wie ein Haufen Dreck.
»Ragnar …«, stottere ich. »Was tun Sie da? Wohin wollen Sie mit Mutters Leinwänden?«
Ohne anzuhalten, läuft er an mir vorbei und ruft mir über die Schulter zu:
»Zum Strand.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Im Waschhaus ist kein Platz dafür«, ruft er noch lauter. »Ich darf ab jetzt die Vorratskammer benutzen. Die Aalreusen werden dort den Winter über stehen.«
Starr vor Schreck sehe ich ihm hinterher, dann wandert mein Blick zu dem weißen, gespenstischen Licht des Nordturms. Auf dem Absatz drehe ich mich um und renne, so schnell ich kann, zurück zum Hof und zu Torun.