15

Nackt und schweißnass lag Tilda auf ihrer dünnen Matratze.

»War es schön für dich?«, fragte sie.

Martin saß mit dem Rücken zu ihr auf der Bettkante.

»Doch … das war es schon.«

Es war Sonntagmorgen. Als er gleich danach aufstand und sich Jeans und Stiefel anzog, hätte Tilda eigentlich sofort ahnen müssen, was sie erwartete. Aber das tat sie nicht.

Er hatte sich wieder auf die Bettkante gesetzt und sah aus dem Fenster.

»Ich glaube, das hier geht nicht mehr …«

»Was geht nicht mehr?«, fragte sie begriffsstutzig.

»Das hier … alles. Das funktioniert nicht mehr.« Er sah unverwandt aus dem Fenster. »Karin fängt an, Fragen zu stellen.«

»Worüber denn?«

Tilda hatte noch immer nicht begriffen, dass sie gerade abserviert wurde. Ausgenutzt und sitzen gelassen – das war klassisch.

Martin war spät am Freitagabend gekommen, da war noch alles wie immer gewesen. Tilda hatte ihn nicht gefragt, was er seiner Frau gesagt hatte – das tat sie nie. Sie waren in ihrer kleinen Wohnung geblieben, und sie hatte Fischsuppe gekocht. Martin hatte ganz entspannt gewirkt und von seiner neuen Klasse von Polizeischülern erzählt, die soeben mit ihrer Ausbildung begonnen hatten. Einige von ihnen waren begabt, andere weniger geeignet.

»Aber die kriegen wir auch noch hin«, sagte er.

Tilda nickte und erinnerte sich an ihre Anfangszeit auf der Polizeischule: Ihre Klasse hatte aus etwa zwanzig Schüler bestanden, die meisten Jungen, ein paar Mädchen nur. Sehr schnell hatten sie ihre Lehrer in drei Typen eingeteilt: die alten Polizisten, die zwar nett waren, aber auch ein bisschen vergreist wirkten, dann die Lehrer, die sie in Rechtskunde unterrichteten und natürlich von der wirklichen Polizeiarbeit keine Ahnung hatten – und schließlich die jungen Dozenten, die hauptsächlich für die Praxis zuständig waren. Die arbeiteten im Außendienst und hatten spannende Geschichten zu erzählen, sie waren die großen Vorbilder. Martin Ahlquist war einer von ihnen gewesen.

Am Samstag waren sie mit Martins Wagen bis zur nördlichsten Bucht der Insel gefahren. Tilda war seit ihrer Kindheit nicht mehr dort gewesen, konnte sich aber sehr gut an das Gefühl erinnern, am Ende der Welt zu stehen. Es war November, und eiskalte Winde fegten vom Meer über das Land. Auch der Leuchtturm war verlassen. Beim Anblick des Langen Eriks, des kalkweißen Turms, der sich über der Bucht erhob, musste sie unweigerlich an die zwei Leuchttürme von Åludden denken. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit Martin den Todesfall von Åludden zu diskutieren, ließ es aber bleiben – dieses Wochenende hatte sie frei.

Sie aßen spät zu Mittag in dem einzigen Restaurant in Byxelkrok, das auch im Winter geöffnet hatte, und fuhren danach zurück nach Marnäs und verließen die Wohnung nicht mehr.

Nach ihrer Rückkehr wurde Martin jedoch verschlossener, fand Tilda, obwohl sie sich alle Mühe gab, ihre Unterhaltung fortzusetzen.

Sie gingen schweigend zu Bett, und am nächsten Morgen setzte sich Martin dann nach dem Sex auf die Bettkante, um sich auszusprechen. Ohne Tilda ein einziges Mal in die Augen zu sehen, erzählte er ihr von seinen Gedanken, seit sie nach Öland gezogen war. Er habe viel über seinen Lebensentwurf nachgedacht und einen Entschluss gefasst. Und es fühle sich richtig an.

»Das wird auch für dich das Richtige sein«, sagte er überzeugt. »Richtig für uns alle.«

»Du meinst … dass du mich verlässt?«, fragte sie leise.

»Nein, dass wir einander verlassen.«

»Ich bin doch deinetwegen hierhergezogen.« Tilda redete mit Martins nacktem, ziemlich behaartem Rücken. »Ich wollte nicht weg aus Växjö, ich habe das für dich getan. Ich will nur, dass du das weißt.«

»Wie meinst du das?«

»Die Leute haben angefangen, über uns zu reden. Ich wollte, dass das aufhört.«

Martin nickte.

»Alle lieben den Tratsch«, sagte er. »Aber jetzt haben sie keinen Anlass mehr.«

Vielmehr gab es eigentlich nicht dazu zu sagen. Fünf Minuten später war Martin angezogen und griff nach seiner Tasche, ohne Tilda in die Augen zu sehen.

»Na, dann«, sagte er verlegen.

»Dann war es das alles nicht wert?«, fragte sie.

»Doch«, entgegnete er. »Sehr lange. Aber jetzt nicht mehr.«

»Du bist so konfliktscheu!«

Martin antwortete nicht. Er öffnete die Tür.

Tilda unterdrückte den Impuls, ihm Grüße an seine Frau hinterherzurufen.

Sie hörte, wie sich die Eingangstür hinter ihm schloss und seine Schritte durchs Treppenhaus hallten. Er würde in sein Auto steigen und zu seiner Familie fahren, als wäre nichts gewesen.

Tilda blieb nackt und verwirrt im Bett sitzen.

Alles war still. Auf dem Boden lag ein benutztes Kondom.

»Bist du gut genug?«, fragte sie ihr verschwommenes Spiegelbild im Fenster.

Nein, hattest du das geglaubt?

Du bist nur »Die andere Frau«.

Nachdem sie eine halbe Stunde in Selbstmitleid gebadet und den Impuls unterdrückt hatte, sich ihre blonden Haare abzurasieren, war Tilda endlich aufgestanden. Sie duschte sich, zog sich an und machte sich auf den Weg ins Altersheim, um Gerlof zu besuchen. Alte Menschen ohne Liebeskummer waren jetzt genau das, was sie brauchte.

Aber bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte, hatte das Telefon geklingelt und der wachhabende Polizist in Borgholm sie zu einem Einsatz gerufen: Einbrecher waren am Wochenende in ein Pfarrhaus nördlich von Marnäs eingedrungen. Die Besitzer, ein Rentnerehepaar, hatten sie auf frischer Tat ertappt, und jetzt lag der Mann mit Kopfverletzungen und mehreren Frakturen im Krankenhaus.

Arbeit war das perfekte Mittel, um Tildas Schmerz zu betäuben.

Als sie gegen zwei Uhr das Pfarrhaus erreichte, begann die Sonne bereits unterzugehen.

Der Erste, dem sie vor Ort begegnete, war Hans Majner. Im Gegensatz zu ihr trug er Uniform und stolzierte mit einer blauweißen Rolle Absperrband und Schildern mit der Aufschrift POLIZEISPERRE umher.

»Wo waren Sie denn gestern?«, fragte er.

»Ich hatte frei«, erwiderte Tilda. »Ich habe keinen Notruf erhalten.«

»Darum muss man sich selbst kümmern.«

Tilda schlug die Wagentür zu.

»Halten Sie Ihr Maul«, zischte sie ihn an.

Majner drehte sich zu ihr um.

»Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte, Sie sollen Ihr Maul halten«, wiederholte Tilda deutlich. »Es gibt keine Notwendigkeit, mich ununterbrochen zurechtzuweisen.«

Damit hatte sie definitiv für alle Zeiten ihre Chancen bei Majner verspielt. Aber das interessierte sie überhaupt nicht mehr.

Wie versteinert starrte er sie an, als habe er nicht begriffen, was sie soeben gesagt hatte.

»Ich weise Sie nicht zurecht«, verteidigte er sich dann.

»Ach nein? Geben Sie mir mal das Band.«

Schweigend begann sie, die Rückseite des Pfarrhauses abzusperren, und suchte dabei auf dem Grundstück nach Fußspuren, die sie sichern musste. Die Spurensicherung würde erst Montagmorgen aus Kalmar anrücken.

In dem lehmigen Boden fanden sich tatsächlich einige Fußabdrücke. Sie schienen von Männerschuhen oder -stiefeln mit geriffelter Sohle zu stammen. Und im Gebüsch zwischen den Bäumen waren Spuren von einem Sturz zu sehen. Jemand schien dort der Länge nach hingefallen und dann auf Händen und Knien durch den Wald gekrochen zu sein.

Tilda überprüfte alle Spuren und rechnete nach. Die Einbrecher waren zu dritt gewesen.

Eine Frau kam ihnen auf der Veranda entgegen. Es war die Nachbarin, die den Schlüssel bekommen hatte, um auf das Pfarrhaus aufzupassen, während sich das Ehepaar im Krankenhaus aufhielt. Die Frau fragte, ob die Polizisten mit in ihr Haus kommen wollten, um dort bei einer Tasse Kaffee alles zu besprechen.

Kaffee trinken mit Majner?

»Ich glaube, ich sehe mich lieber erst einmal im Haus um, vielen Dank«, wehrte Tilda das Angebot ab.

Nachdem sie die Nachbarin nach Hause geschickt hatte, ging sie die steinerne Eingangstreppe hinauf.

In der Eingangshalle lag ein Mosaik aus Glassplittern von einem großen Spiegel, der zu Boden gestürzt war. Die Teppiche lagen verschoben und unordentlich herum, und an den Türrahmen und auf dem Parkett waren überall Blutspritzer.

Die Tür zum großen Wohnzimmer stand einen großen Spalt offen, Tilda ging vorsichtig über die Glassplitter und warf einen Blick in den Raum.

Auch hier herrschte ein wildes Durcheinander. Die Türen der Glasvitrine waren aufgerissen und alle Schubladen der Kommode herausgezogen. Tilda sah auch hier lehmige Fußspuren auf dem neu geschliffenen Parkett – die Spurensicherung würde einiges zu tun bekommen.

Nachdem sie den Tatort inspiziert hatten, verließen die beiden Polizeibeamten den Hof, ohne ein weiteres Wort miteinander gewechselt zu haben. Tilda setzte sich in ihren Wagen und fuhr zu Gerlof ins Altersheim.

»Wieder ein Einbruch«, sagte Tilda als Erklärung für ihre Verspätung.

»Ach ja?«, fragte Gerlof. »Wo denn?«

»Im Pfarrhaus von Hagelby. Sie haben den Eigentümer niedergeschlagen.«

»Schlimm?«

»Ziemlich, sie haben ihn auch noch niedergestochen … du wirst morgen in der Zeitung bestimmt noch weitere Details lesen können.«

Sie setzte sich an den Tisch und baute das Tonbandgerät auf. Sie musste an Martin denken. Er war mittlerweile bestimmt zu Hause angekommen, hatte Frau und Kind umarmt und sich darüber beklagt, wie langweilig diese Konferenz in Kalmar gewesen sei.

Gerlof sagte etwas.

»Wie bitte?«

Tilda hatte nicht zugehört. Ihr hing das Bild vor Augen, wie er ihre Wohnung verlassen hatte, ohne sich ein letztes Mal umzudrehen.

»Habt ihr nach Spuren gesucht?«

Tilda nickte.

»Sie werden den Tatort morgen früh genauer untersuchen.« Sie schaltete das Mikrofon ein. »Wollen wir uns ein bisschen über die Familiengeschichte unterhalten?«

Gerlof nickte, fragte aber weiter:

»Was macht ihr denn da, am Tatort?«

»Nun ja, die Spurensicherung sichert die Spuren«, antwortete Tilda steif. »Sie fotografieren und filmen, suchen nach Fingerabdrücken, Haaren und Textilresten, also Stofffasern. Und nach biologischen Spuren wie Blut zum Beispiel. Und dann werden von den Fußspuren draußen Gipsabdrücke angefertigt. Man kann auch im Hausinneren die Spuren sichern, indem man eine elektrostatische …«

»Mann, seid ihr tüchtig«, unterbrach Gerlof sie.

Tilda nickte.

»Wir versuchen, methodisch vorzugehen. Vermutlich kamen sie mit einem Wagen, einem großen Personenwagen oder einem Lieferwagen. Mehr Hinweise haben wir zurzeit leider nicht.«

»Und es ist natürlich wichtig, dass ihr diese Schurken zu fassen bekommt.«

»Absolut.«

»Könntest du mir bitte vom Schreibtisch ein Blatt Papier holen?«

Tilda beobachtete Gerlof, der drei Zeilen auf das Papier schrieb. Dann reichte er ihr den Zettel.

Darauf standen in Gerlofs gepflegter Handschrift drei Namen:

John Hagman

Dagmar Karlsson

Edla Gustafsson

Tilda sah Gerlof fragend an.

»Sehr schön«, sagte sie. »Sind das die Diebe?«

»Nein, das sind alte Bekannte von mir.«

»Aha?«

»Die könnten behilflich sein.«

»Wie das denn?«

»Die sehen Dinge.«

»Ach was?«

»Die drei wohnen an Hauptstraßen und beobachten den Verkehr ganz genau«, erklärte Gerlof. »Für John, Dagmar und Edla sind vorbeifahrende Fahrzeuge ein großes Ereignis, besonders im Winter. Edla und Dagmar lassen alles stehen und liegen, um nachzusehen, wer vorbeigefahren ist.«

»Okay. Dann werde ich mich mit ihnen mal unterhalten«, sagte Tilda. »Wir sind dankbar für alle Hinweise.«

»Ja, am besten fängst du mit John aus Stenvik an, wir sind alte Freunde … du kannst ihn von mir grüßen.«

»Und dann soll ich ihn nach unbekannten Fahrzeugen fragen?« Tilda sah ihn verdutzt an.

»Ganz genau. John hat bestimmt jemanden die Küstenstraße entlangfahren sehen … Danach kannst du Dagmar besuchen, die an der Kreuzung nach Altorp wohnt, und sie dasselbe fragen. Und Edla Gustafsson, Edla aus Hultet, ist ebenfalls eine gute Gesprächspartnerin. Sie wohnt an der Landstraße, in der Nähe von Speteby auf dem Weg nach Borgholm.«

Tilda sah auf die Namensliste in ihren Händen.

»Vielen Dank«, sagte sie. »Ich werde da mal anklopfen, wenn ich in der Nähe bin.«

Dann schaltete sie das Tonbandgerät ein.

»Gerlof … Wenn du an deinen Bruder Ragnar denkst, woran erinnerst du dich dann?«

Gerlof schwieg zunächst, er musste sich konzentrieren.

»An Aale«, sagte er schließlich. »Er liebte es, mit seinem kleinen Motorboot rauszufahren und im Herbst die Bodennetze einzuholen. Er liebte es auch, Aale zu fangen und sie auszutricksen. Zu testen, mit welchen Ködern er die Weibchen am besten anlocken und sie nachts in seinen Reusen fangen konnte.«

»Weibchen?«

»Man fängt und isst nur die Weibchen.« Gerlof lächelte sie an. »Die Männchen will keiner haben, sie sind zu klein und zu schwach.«

»So verhält es sich leider auch bei vielen Männern«, murmelte Tilda.

Theorin, Johan
titlepage.xhtml
Theorin,_Johan_split_000.html
Theorin,_Johan_split_001.html
Theorin,_Johan_split_002.html
Theorin,_Johan_split_003.html
Theorin,_Johan_split_004.html
Theorin,_Johan_split_005.html
Theorin,_Johan_split_006.html
Theorin,_Johan_split_007.html
Theorin,_Johan_split_008.html
Theorin,_Johan_split_009.html
Theorin,_Johan_split_010.html
Theorin,_Johan_split_011.html
Theorin,_Johan_split_012.html
Theorin,_Johan_split_013.html
Theorin,_Johan_split_014.html
Theorin,_Johan_split_015.html
Theorin,_Johan_split_016.html
Theorin,_Johan_split_017.html
Theorin,_Johan_split_018.html
Theorin,_Johan_split_019.html
Theorin,_Johan_split_020.html
Theorin,_Johan_split_021.html
Theorin,_Johan_split_022.html
Theorin,_Johan_split_023.html
Theorin,_Johan_split_024.html
Theorin,_Johan_split_025.html
Theorin,_Johan_split_026.html
Theorin,_Johan_split_027.html
Theorin,_Johan_split_028.html
Theorin,_Johan_split_029.html
Theorin,_Johan_split_030.html
Theorin,_Johan_split_031.html
Theorin,_Johan_split_032.html
Theorin,_Johan_split_033.html
Theorin,_Johan_split_034.html
Theorin,_Johan_split_035.html
Theorin,_Johan_split_036.html
Theorin,_Johan_split_037.html
Theorin,_Johan_split_038.html
Theorin,_Johan_split_039.html
Theorin,_Johan_split_040.html
Theorin,_Johan_split_041.html
Theorin,_Johan_split_042.html
Theorin,_Johan_split_043.html
Theorin,_Johan_split_044.html
Theorin,_Johan_split_045.html
Theorin,_Johan_split_046.html
Theorin,_Johan_split_047.html
Theorin,_Johan_split_048.html
Theorin,_Johan_split_049.html
Theorin,_Johan_split_050.html
Theorin,_Johan_split_051.html
Theorin,_Johan_split_052.html
Theorin,_Johan_split_053.html
Theorin,_Johan_split_054.html
Theorin,_Johan_split_055.html
Theorin,_Johan_split_056.html
Theorin,_Johan_split_057.html
Theorin,_Johan_split_058.html
Theorin,_Johan_split_059.html
Theorin,_Johan_split_060.html
Theorin,_Johan_split_061.html
Theorin,_Johan_split_062.html
Theorin,_Johan_split_063.html
Theorin,_Johan_split_064.html
Theorin,_Johan_split_065.html
Theorin,_Johan_split_066.html