12
An einem Freitagabend Ende November.
Das große Pfarrhaus von Hagelby war fast zweihundert Jahre alt und lag am Ende eines kleinen Waldweges, etwa einen halben Kilometer außerhalb der Ortschaft. Es war schon lange nicht mehr im Besitz der schwedischen Kirche. Henrik wusste, dass der Hof an ein pensioniertes Lehrerehepaar aus Emmaboda verkauft worden war.
Henrik und die Brüder Serelius hatten ihren Lieferwagen in dem kleinen Wäldchen an der Landstraße abgestellt. Sie hatten alles im Wagen gelassen und nur zwei Rucksäcke mit Werkzeug und viel Platz für ihre Beute mitgenommen. Bevor sie sich auf den Weg durch den Wald, vorbei an der Steinmauer der Kirche und dem Friedhof machten, hatten sie sich jeder eine ordentliche Dosis Kristalle in den Mund geschoben und mit Bier nachgespült.
Henrik hatte besonders viel Bier getrunken, seine Nerven waren zum Reißen gespannt. Schuld daran war dieses Teufelsbrett der Brüder – das Ouija-Brett.
Gegen elf Uhr hatten sie eine schnelle Sitzung in Henriks Küche abgehalten. Er hatte das Licht ausgemacht, Freddy die Kerzen angezündet.
Tommy hatte den Finger auf das Glas gelegt.
»Ist jemand unter uns?«
Das Glas fing sofort an, sich zu bewegen. Es wanderte zum Wort JA. Tommy beugte sich vor.
»Aleister, bist du es?«
Das Glas wanderte zum Buchstaben A, dann zum L …
»Er ist da«, bestätigte Tommy leise.
Aber das Glas wanderte weiter zum G, dann zum O und schließlich zum T. Dann erst blieb es stehen.
»Algot?«, wiederholte Tommy. »Wer zum Teufel ist das denn?«
Henrik erstarrte. Das Glas hatte seine Arbeit wieder aufgenommen, er griff nach Stift und Papier und notierte die Buchstabenfolgen.
ALGOT ALGOT NICHT GUT ALLEIN HENRIK NICHT GUT LEBEN NICHT GUT NICHT HENRIK NICHT
Henrik hörte auf zu schreiben.
»Da mache ich nicht mehr mit«, sagte er aufgebracht und schob das Papier von sich.
Er atmete schwer, stand auf und schaltete die Deckenlampe ein.
Tommy nahm den Finger vom Glas und sah ihn an.
»Okay, komm, mach dich locker«, sagte er. »Das Brett ist doch nur eine Hilfe … also, wir müssen los.«
Als sie beim Pfarrhaus ankamen, war es bereits halb elf. Der Himmel war bedeckt und im Haus alles dunkel.
Henrik grübelte unablässig über die Botschaft des Brettes nach. Algot? Sein Großvater?
»Sind die zu Hause?«, flüsterte Tommy im Schatten zweier Birken im hinteren Teil des Gartens. Er hatte sich wie Freddy und Henrik die Strumpfmaske über das Gesicht gezogen.
Henrik schüttelte sich. Er musste sich zusammenreißen, sich auf den Job konzentrieren.
»Die sind ganz bestimmt zu Hause«, erwiderte er. »Aber sie schlafen im ersten Stock. Da oben, wo die Fenster gekippt sind.«
Er zeigte auf eines der Eckzimmer.
»Prima, dann lass uns loslegen«, sagte Tommy. »Hubba Bubba.«
Er ging voran, folgte dem gepflasterten Steinweg und der Treppe bis zur Eingangstür. Dort beugte er sich vor und betrachtete nachdenklich das Schloss.
»Sieht verdammt solide aus«, flüsterte er Henrik zu. »Sollen wir stattdessen nicht lieber ein Fenster einschlagen?«
Henrik schüttelte energisch den Kopf.
»Wir sind hier auf dem Land«, flüsterte er zurück. »Und in dem Haus leben Rentner … Wenn Sie mal schauen mögen!«
Er streckte eine Hand aus, drückte lautlos die Klinke herunter und schob die Eingangstür auf. Sie war nicht abgeschlossen.
Tommy sagte nichts, nickte nur und ging als Erster ins Haus, Henrik folgte ihm. Als er sich nach Freddy umdrehen wollte, stand der ihm direkt auf den Fersen.
Das war nicht gut – drei Männer im Haus, das war einer zu viel. Er signalisierte ihm, draußen zu warten und Wache zu halten, aber Freddy schüttelte nur den Kopf und schlüpfte an ihm vorbei ins Haus.
Tommy öffnete die nächste Tür und verschwand im Wohntrakt des Hauses.
Sie standen in einer großen dunklen Halle. Es war sehr warm – Rentner sind doch alle Frostbeulen, dachte Henrik, die drehen immer voll auf.
Auf dem Boden lag ein dicker, dunkelroter Perser, der ihre Schritte dämpfte, und an einer der Wände hing ein riesiger Spiegel mit Goldrand.
Abrupt blieb Henrik stehen. Auf dem Marmortisch unter dem Spiegel lag ein dickes Portemonnaie aus schwarzem Leder. Schnell streckte er die Hand aus und steckte es sich in die Jackentasche.
Als er aufblickte, sah er seinem Spiegelbild ins Gesicht; eine geduckte Gestalt in dunkler Kleidung, mit einer schwarzen Strumpfmaske auf dem Kopf und einem großen Rucksack über der Schulter.
Dieb, dachte er. Er konnte seinen Großvater Algot förmlich in seinem Hinterkopf hören. Schuld war diese Strumpfmaske – damit würde jeder gefährlich aussehen.
Von der Eingangshalle gingen drei Türen ab, zwei davon standen einen Spalt breit offen. Tommy war vor der mittleren stehen geblieben. Er horchte, schüttelte den Kopf und öffnete dann die rechte Tür.
Henrik folgte ihm. Hinter sich vernahm er Freddys Atem und seine schweren Schritte.
Hinter der Tür befand sich ein Salon – die gute Stube, mit vielen kleinen Holztischchen bestückt, auf denen allerlei Zierrat stand. Das meiste davon war Müll, zumindest sah es so aus, auf einem der Tische jedoch stand eine große, småländische Kristallvase. Sehr edel. Henrik legte sie in den Rucksack.
»Henke?«
Tommys Flüstern kam aus der anderen Ecke des Raumes. Er hatte eine Kommode geöffnet, die Schubladen herausgezogen und einen wahren Fund gemacht: mehrere Reihen von Silberbesteck und mindestens zehn Serviettenringe aus Gold. Halsketten, Broschen und ein Bündel mit Geldscheinen – Kronen und ausländische Währungen.
Ein Schatz.
Wortlos räumten sie die Schubladen leer. Das Besteck klimperte ein wenig, als sie es einpackten, und Henrik legte Leinenservietten dazwischen, um die Geräusche zu dämpfen.
Die Rucksäcke waren in kürzester Zeit gut gefüllt und schwer.
Gab es noch mehr Dinge, die den Eigentümer wechseln konnten?
An den Wänden hingen Gemälde, aber die waren zu groß und unhandlich. Henriks Blick fiel auf einen schlanken, hohen Gegenstand in einem der Fenstersimse. Er schob die Gardine beiseite.
Es war eine Art Lampe aus Glas und lackiertem Holz, etwa dreißig Zentimeter hoch und halb so breit. Ganz hübsch eigentlich. Die würde auch gut in seine Wohnung passen, wenn sich dafür kein Hehler fände. Er wickelte sie in eine Tischdecke ein und verstaute sie vorsichtig in seinem Rucksack.
Das war genug fürs Erste.
Als sie in die Eingangshalle zurückkamen, fehlte von Freddy jede Spur. War er etwa weiter im Haus herumgelaufen?
Die Tür zur Küche wurde aufgestoßen, und weil sich Henrik so sicher war, dass Freddy nun auftauchen würde, drehte er noch nicht einmal den Kopf – doch da hörte er, wie Tommy nach Luft schnappte.
In der Tür stand ein kleiner, weißhaariger älterer Herr.
Er trug einen braunen Pyjama und schob sich gerade ein paar dicke Brillengläser auf die Nase.
Verdammt und zugenäht. Sie waren schon wieder erwischt worden.
»Was machen Sie hier?«
Eine sonderbare Frage, die auch von niemandem beantwortet wurde. Henrik spürte, wie Tommy neben ihm erstarrte, wie ein Roboter, der auf Angriffsmodus umstellte.
»Ich rufe die Polizei!«, drohte der Mann.
»Shut up!«
Tommy stürzte auf ihn zu. Er war mindestens einen Kopf größer als der Mann und schubste ihn energisch in die Küche zurück.
»No moves!«, schrie Tommy und trat nach ihm.
Der Mann verlor seine Brille, stolperte und fiel zu Boden. Der einzige Laut, der ihm entwich, war ein lang gezogenes Zischen.
Henrik sah etwas Spitzes in Tommys Hand aufblitzen, ein Messer oder einen Schraubenzieher.
»Das reicht jetzt!«
Er sprang auf seinen Komplizen zu, um Schlimmeres zu verhindern, stolperte aber über einen Teppich und trat dem alten Mann mit seinem Stiefel direkt auf die Hand. Ein knackendes Geräusch war zu hören.
»Los, komm!«, rief eine Stimme, vielleicht sogar seine eigene.
»Sprich Englisch!«, zischte Tommy.
Henrik stolperte erneut und stieß gegen den Marmortisch. Der große Spiegel mit Goldrand stürzte zu Boden und zersprang mit einem ohrenbetäubenden Lärm. Verdammt. Es fühlte sich an wie auf einer Tanzfläche, alles war verschwommen, ging zu schnell und war unberechenbar. Er hatte die Kontrolle verloren. Und wo zum Teufel war Freddy?
Da hörte er hinter sich eine hellere Stimme rufen.
»Verschwinden Sie!«
Henrik wirbelte herum. Neben dem Gestürzten stand eine Frau, sie war noch kleiner als er und hatte Todesangst.
»Gunnar?«, rief sie und kniete sich neben ihren Mann. »Gunnar, ich habe die Polizei gerufen!«
»Komm!«
Henrik lief los, ohne zu überprüfen, ob Tommy seiner Aufforderung folgte. Und Freddy war nirgends zu sehen.
Schnell auf die Terrasse und hinaus in die Nacht.
Henrik jagte über den gefrorenen Rasen, ließ die Hausecke hinter sich und rannte geradeaus in den Wald hinein. Die Äste schlugen ihm ins Gesicht, der Rucksack riss an seinen Schultern, und er konnte keinen Weg erkennen, lief aber unbeirrt weiter.
Plötzlich hielt etwas seinen Fuß fest, und er flog durch die Luft.
Er stürzte in die Dunkelheit, in Laub und Zweige.
Ein harter Schlag traf ihn am Kopf. Alles verschwamm.
Schwarze Übelkeit.
Als Henrik wieder zu sich kam, stellte er fest, dass er auf allen Vieren über den Waldboden kroch. Langsam schleppte er sich mit stechendem Kopfschmerz weiter. Sein Ziel war ein Schatten, der immer größer wurde. Eine kleine Höhle tauchte vor ihm auf. Er kletterte hinein und rollte sich zusammen. Er fühlte sich wie ein gejagtes Tier, aber dort würde er sicher sein.
Es dauerte eine Weile, bis Henrik wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er hob den Kopf und sah sich um.
Stille. Totale Finsternis. Wo zum Teufel war er?
Unter seinen Fingern spürte er Erdboden, und bald hatte er begriffen, dass er in eine Art Steinkeller in der Nähe des Pfarrhauses geklettert sein musste. Es war kalt und feucht und roch moderig, nach Schimmel.
Plötzlich wurde ihm klar, dass er in einem alten Leichenkeller lag. Einer Erdhöhle für die Toten, in der sie auf ihr Begräbnis warteten.
Ein Insekt mit langen Beinen lief ihm übers Gesicht. Eine hellwache Spinne. Schnell schlug er sie mit der Hand weg.
Henrik fühlte sich auf einmal eingesperrt und kletterte vorsichtig aus seinem Versteck heraus. Der Rucksack hatte sich irgendwo verhakt, aber er befreite ihn und kniete auf dem gefrorenen Waldboden.
Frische Winterluft.
Er stand auf und ging langsam durch das Unterholz, fort vom Licht, das in den Fenstern des Pfarrhauses leuchtete. Als die Friedhofsmauer vor ihm auftauchte, wusste er, dass er sich nicht verlaufen hatte.
Da hörte er, wie eine Wagentür zugeworfen wurde. Er horchte in die Dunkelheit. Irgendwo startete ein Motor.
Henrik begann zu laufen, erreichte einen Weg und rannte los. Der Wald lichtete sich, und er erkannte den Lieferwagen der Brüder Serelius. Der war im Begriff, sein Versteck zu verlassen.
Im letzten Augenblick riss er die Beifahrertür auf.
Freddy und Tommy zuckten zusammen.
»Fahr los!«
Henrik sprang auf den Sitz und schlug die Tür hinter sich zu. Als der Wagen losrollte, atmete er erleichtert auf und lehnte seinen pochenden Kopf gegen die Rückenlehne.
»Wo zum Henker warst du?«, fragte Tommy.
Er keuchte ebenfalls und hielt das Lenkrad fest umklammert. Er hatte die wütende Anspannung noch nicht abschütteln können.
»Ich habe mich verlaufen«, erklärte Henrik und zog sich den Rucksack von den Schultern. »Bin über eine Baumwurzel gestolpert.«
Freddy kicherte.
»Und ich bin aus einem Fenster gesprungen!«, sagte er. »Direkt in die Büsche.«
»Wir haben ’ne super Beute gemacht!«, fasste Tommy zusammen.
Henrik nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Der arme Rentner, den Tommy niedergeschlagen hatte, was wohl mit ihm war? Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken.
»Fahr nach Osten«, sagte er. »Zu meinem Bootshaus.«
»Warum das denn?«
»Die Polizei wird bald da sein. Wenn es Personenschaden gab, kommen sie aus Kalmar angerückt … wir sollten ihnen nicht direkt in die Arme laufen.«
Tommy seufzte, bog aber, ohne zu murren, auf die östliche Küstenstraße.
Es dauerte etwa eine halbe Stunde, die Beute zu entladen und im Bootshaus zu verstauen, aber das Gefühl von erhöhter Sicherheit war es das wert. Als sie wieder in den Lieferwagen stiegen, hatte Henrik nur noch das Bargeld und die alte Glaslampe in seinem Rucksack.
Sie fuhren einen kleinen Umweg nach Borgholm, begegneten aber keiner Polizei. Am Ortseingang überfuhr Tommy eine Katze oder Hasen, dieses Mal allerdings schien er zu müde zu sein, um sich darüber freuen zu können.
»Wir machen mal eine Pause«, beschloss Tommy, während sie an den Straßenlaternen der Stadt vorbeifuhren. »Kleine Auszeit!«
Er hielt vor Henriks Häuserblock, die Uhr zeigte Viertel nach drei.
»Okay«, erwiderte Henrik und öffnete die Tür. »Wir müssen den Wert von dem Kram checken, … damit gerecht geteilt wird.«
Er hatte nicht vor zu vergessen, dass seine Komplizen ihn um ein Haar im Wald zurückgelassen hätten.
»Wir lassen von uns hören!«, sagte Tommy bei heruntergelassener Scheibe.
Nickend ging er auf die Eingangstür zu.
Erst als er in seiner Wohnung stand, sah er, wie dreckig er war. Jeans und Jacke waren mit Erde beschmiert. Er warf sie in den Wäschekorb, trank ein Glas Milch und starrte aus dem Fenster.
Die Erlebnisse der Nacht waren noch sehr verschwommen, und er wollte sie auch nicht heraufbeschwören. Was er aber leider sehr deutlich erinnerte, war das Splittern der Hand unter seinem Stiefel. Das hatte er nicht gewollt, aber …
Er schaltete das Licht aus und legte sich ins Bett.
Es fiel ihm schwer einzuschlafen, seine Stirn tat weh, und die Nerven seines Körpers waren noch zum Zerreißen gespannt. Aber irgendwann nach vier Uhr sank er endlich in den Schlaf.
Ein paar Stunden später erwachte er von einem klopfenden Geräusch.
Wie ein Klopfen gegen Glas. Dann herrschte wieder Stille.
Er hob den Kopf und sah sich verwirrt im Zimmer um.
Erneut erklang das leise Klopfen. Es schien aus dem Vorraum zu kommen.
Henrik verließ sein warmes Bett und stolperte durch die Dunkelheit, um besser hören zu können.
Das Klopfen kam aus dem Rucksack. Dreimal, dann Stille. Dann erneutes Klopfen.
Er beugte sich herunter und öffnete den Reißverschluss. Dort lag nur die alte, in Tischtuch gewickelte Lampe aus dem Pfarrhaus.
Henrik hob sie hoch.
Die Holzfassung der Lampe musste auf der Fahrt kalt geworden sein, überlegte er. Und jetzt wurde sie von der Zimmertemperatur erwärmt, und deshalb klopfte und knackte es.
Er stellte die Lampe auf den Küchentisch, schloss die Tür hinter sich und ging zurück ins Bett.
Ab und zu vernahm er noch gedämpfte Klopfgeräusche aus der Küche. Das störte wie ein tropfender Wasserhahn, aber Henrik war so erschöpft, dass er sofort wieder einschlief.