22
Wenn Joakim abends am Küchenfenster stand und hinausschaute, sah er häufig Rasputin auf dem Weg zur Jagd durch die Dunkelheit schleichen. Zwischendurch aber meinte er auch andere schwarze Gestalten sehen zu können, die über den Hof geisterten – einige auf vier Beinen, aber auch welche auf zweien.
Ethel?
Die ersten Male war er auf die Verandatreppe gestürzt, um besser sehen zu können, aber fand den Innenhof immer verlassen vor.
Die Schatten um Åludden wurden jeden Tag länger, und Joakim spürte, dass die Ruhelosigkeit auf dem Hof zunahm, je näher Weihnachten rückte. Der Wind heulte um die Häuserecken, und das Wohnhaus knackte und knarzte in seinem Fundament.
Sollte es einen unsichtbaren Besucher geben, so war es auf jeden Fall nicht Katrine, das wusste Joakim ganz sicher. Sie hielt sich noch immer von ihm fern.
»Hier sind die Kleidungsstücke Ihrer Frau«, sagte Gerlof und schob das braune Paket zu Joakim, der auf der anderen Seite des Tisches saß.
»Haben Sie etwas entdeckt?«, fragte Joakim.
»Kann sein.«
»Aber Sie wollen es mir nicht verraten?«
»Doch, bald«, versprach Gerlof. »Wenn ich den Gedanken abgeschlossen habe.«
Joakim konnte sich nicht erinnern, jemals in einem Altersheim gewesen zu sein. Seine Großeltern hatten bis ins hohe Alter zu Hause gelebt und waren dann im Krankenhaus gestorben. Und jetzt saß er in Gerlof Davidssons Zimmer im Altersheim von Marnäs und trank Kaffee mit ihm. Ein Kerzenständer mit zwei Adventskerzen erinnerte daran, dass Weihnachten näher rückte.
An den Wänden hingen eine Reihe alter Erinnerungsstücke: Namensschilder von alten Frachtern, eingerahmte Seefahrts dokumente und Schwarz-Weiß-Fotografien von Zweimastern.
»Das sind Aufnahmen der verschiedenen Frachtschiffe, die ich hatte«, erklärte ihm Gerlof. »Insgesamt waren es drei.«
»Existieren sie noch?«
»Nur eines davon. Es liegt in einem Bootsklub in Karlskrona. Die beiden anderen gibt es leider nicht mehr, das eine ist ausgebrannt und das andere gesunken.«
Joakim betrachtete das Paket mit den Kleidungsstücken und ließ dann seinen Blick aus dem Fenster wandern. Es begann bereits zu dämmern.
»Ich muss in einer Stunde meine Kinder abholen«, sagte er. »Können wir uns einen Augenblick unterhalten?«
»Gerne«, antwortete Gerlof. »Das Einzige, was für heute Nachmittag in meinem Terminkalender steht, ist ein Vortrag über Inkontinenz. Das ist nicht besonders verlockend.«
Joakim hegte schon seit Längerem den Wunsch, mit jemandem über die Ereignisse der letzten Wochen zu sprechen, mit jemandem, der Åludden kannte. Der Pastor in Marnäs schien sehr rigide Auffassungen zu haben, und Mirja Rambe dachte immer nur an sich selbst. Gerlof hatte sich bei ihrer ersten Begegnung als ein guter Zuhörer erwiesen, und Joakim hatte das Gefühl, in ihm die richtige Person gefunden zu haben. So eine Art Beichtvater.
»Ich habe Sie bei Ihrem letzten Besuch auf Åludden das nicht gefragt, aber … glauben Sie an Geister?«
Gerlof schüttelte den Kopf.
»Weder glaube ich, noch glaube ich nicht«, lautete seine geheimnisvolle Antwort. »Ich interessiere mich sehr für Geistergeschichten, aber nicht, um mit ihnen etwas zu beweisen. Es gibt so viele Theorien über Geister und Gespenster … Absenkungen im Mauerwerk alter Häuser oder elektromagnetische Strahlung.«
»Oder Flecken auf der Hornhaut im Auge«, fügte Joakim hinzu.
»Genau«, nickte Gerlof. »Ich könnte Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich in keinem der Bücher über Heimatkunde veröffentlicht habe. Aber das ist auch das einzig richtig Gespenstische, was ich je erlebt habe.«
Joakim nickte ihm ermunternd zu.
»Meinen ersten Frachter habe ich mit siebzehn erworben. Ich war in den Jahren zuvor zur See gefahren und hatte eine kleine Summe gespart, mein Vater gab mir den Rest der Kaufsumme dazu. Ich wusste genau, welches Schiff ich haben wollte, es war ein Einmaster, ein Motorsegler, hatte Borgholm als Heimathafen und hieß Ingrid Maria. Der Besitzer, Gerhard Marten, war über sechzig und sein ganzes Leben zur See gefahren. Aber dann bekam er Probleme mit seinem Herzen, und der Arzt verbot ihm die Seefahrerei. Ingrid Maria stand zum Verkauf und sollte dreitausendfünfhundert Kronen kosten.«
»Das war aber günstig!«, sagte Joakim überrascht.
»Ja, sogar für damalige Verhältnisse war das ein gutes Angebot. An dem Abend nun, als ich zu Marten fahren und ihm das Geld überreichen wollte, machte ich vorher noch einen Abstecher zum Hafen, um mir das Schiff noch einmal anzusehen. Es war April, das Eis hatte vor Kurzem erst den Sund wieder freigegeben. Die Sonne ging gerade unter, und im Hafen war keine Menschenseele … nur an Deck der Ingrid Maria sah ich den alten Gerhard Marten herumlaufen, so als fiele es ihm schwer, sich zu verabschieden. Ich ging an Bord. Leider erinnere ich mich nicht, worüber wir gesprochen haben, aber wir gingen zusammen über Deck, und er zeigte mir ein paar reparaturbedürftige Details. Dann bat er mich, gut auf seine Ingrid Maria aufzupassen, und wir verabschiedeten uns voneinander. Ich fuhr nach Hause zu meinen Eltern, aß zu Abend und wollte danach losziehen, um den Kauf perfekt zu machen.«
Gerlof verstummte, hob den Kopf und betrachtete liebevoll die Fotografien seiner Frachtschiffe.
»Gegen sieben Uhr radelte ich zu den Martens, die nördlich von Borgholm wohnten. Aber ich betrat ein Haus der Trauer. Martens Ehefrau öffnete mir mit roten, verweinten Augen. Gerhard Marten war tot, wie sich zeigte. Er hatte bereits am Abend zuvor den Vertrag unterschrieben, war frühmorgens hinunter zum Strand gegangen und hatte sich mit seinem Schrotgewehr erschossen.«
»Frühmorgens?«, wiederholte Joakim.
»Ja, am frühen Morgen desselben Tages. Als ich also Gerhard Marten unten am Hafen begegnete, war er bereits seit mehreren Stunden tot. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich weiß, dass ich ihn an jenem Nachmittag getroffen habe. Wir haben uns die Hand gegeben.«
»Dann haben Sie einen Wiedergänger gesehen?«, fragte Joakim.
Gerlof sah ihn an.
»Kann sein. Aber das beweist ja nichts. Auch nicht, dass es ein Leben nach dem Tode gibt.«
Joakim rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her und sah auf das Paket in seinem Schoß.
»Ich mache mir Sorgen um meine Tochter Livia«, gestand er dann. »Sie ist erst sechs Jahre alt und spricht im Schlaf. Das hat sie schon immer getan … aber seit dem Tod meiner Frau hat sie begonnen, von ihr zu sprechen.«
»Überrascht Sie das wirklich?«, fragte Gerlof erstaunt. »Auch ich träume von meiner verstorbenen Frau, und sie ist schon seit vielen Jahren tot.«
»Ja … aber ihr Traum wiederholt sich. Livia träumt, dass ihre Mutter nach Åludden zurückkehrt, aber den Weg auf den Hof nicht findet.«
Gerlof hörte schweigend zu.
»Und zwischendurch hat sie auch von Ethel geträumt«, fuhr Joakim fort. »Das beunruhigt mich am meisten.«
»Und wer ist das?«
»Ethel war meine Schwester. Sie war drei Jahre älter als ich.« Joakim seufzte. »In gewisser Hinsicht ist das meine Geistergeschichte.«
»Wenn Sie mögen, dürfen Sie sie mir gerne erzählen«, lud Gerlof ihn ein.
Joakim nickte müde. Es war an der Zeit.
»Ethel war heroinabhängig«, begann er. »Sie starb in einer Winternacht in unmittelbarer Nähe unseres Hauses in Bromma. Sie hatten mich gefragt, warum wir das Haus dort verkauft haben und hierhergezogen sind. Das hatte viel mit meiner Schwester und ihrem Tod zu tun. Danach wollten wir nicht mehr in Stockholm bleiben.«
Erneut verstummte er. Einerseits hatte er das Bedürfnis, endlich darüber zu sprechen, andererseits wollte er nicht an Ethel oder ihren Tod erinnert werden. Ganz zu schweigen von Katrines Depressionen, die sie danach bekommen hatte.
»Aber Sie vermissen Ihre Schwester?«, fragte Gerlof.
Joakim musste nachdenken.
»Ein bisschen.« Das klang furchtbar und herzlos, daher fügte er hinzu: »Ich vermisse den Menschen, der sie vorher war … vor den Drogen. Ethel war immer voller Pläne. Sie wollte einen Friseursalon eröffnen, dann wollte sie Musiklehrerin werden … aber man wurde es irgendwann leid. Keiner dieser Pläne wurde in die Tat umgesetzt, immer waren die Drogen wichtiger. Es war, als würde man einem Menschen zuhören, der in einem brennenden Haus sitzt und von Flammen umringt eine Party plant.«
»Wie fing das denn alles an?« Gerlof klang, als würde er sich für die Frage entschuldigen. »Ich kenne mich in dieser Welt so gar nicht aus …«
»Bei Ethel fing alles mit Haschisch an«, erklärte Joakim. »Piece wird es auch genannt. Es war cool, auf Partys und Konzerten Hasch zu rauchen. Und für Ethel war das Leben mit zwanzig eine einzige große Party. Sie spielte Klavier und Gitarre. Sie hat mir auch viel beigebracht.«
Er musste lächeln.
»Es klingt, als ob Sie Ethel gern hatten«, sagte Gerlof.
»Ja, natürlich. Ethel war fröhlich und lustig. Sie war auch ziemlich hübsch und beliebt bei den Jungs. Und sie hat immerzu Party gemacht, mit Amphetaminen konnte man länger durchhalten. Sie hat viel abgenommen, bestimmt zehn Kilo. Dabei war sie schon sehr schlank. Sie war immer seltener zu Hause. Dann starb mein Vater an Krebs, und ich glaube, da fing sie mit Heroin an, zuerst hat sie es geraucht. Ihr Lachen wurde härter und heiserer.«
Schnell nahm er einen Schluck Kaffee und fuhr dann fort.
»Wer Heroin raucht, meint, nicht wirklich drogenabhängig zu sein. Man ist dann kein richtiger Junkie. Aber früher oder später versucht man es mit einer Spritze, weil es auch billiger ist. Man benötigt weniger Heroin pro Dosis. Und trotzdem muss man für seinen Schuss mindestens fünfhundert Kronen am Tag zusammenbekommen. Das ist viel Geld, vor allem wenn man keines hat. Dann muss man es eben stehlen. Man kann seiner alten Mutter das Geld aus dem Portemonnaie klauen oder ihren Erbschmuck mitgehen lassen.«
Joakim betrachtete die Adventskerzen.
»Wenn wir an Weihnachten bei meiner Mutter beim Festmahl saßen, blieb ein Stuhl immer leer. Ethel hatte wie so oft versprochen zu kommen, lungerte dann aber doch in der Stadt herum auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Für sie war das ihr Alltag, die Routine. Und wir wissen, wie schwer es einem fällt, von Routinen abzulassen. Unabhängig davon, wie schrecklich und zerstörerisch sie sind. Man weiß genau, wie furchtbar alles ist, dass die eigene Schwester in der Innenstadt Geld für Drogen klaut, ihre Sozialarbeiter nicht mehr zurückruft … aber man geht morgens brav weiter seiner Arbeit als Lehrer nach, isst abends mit seiner Familie und bastelt danach an seinem Haus herum und versucht verzweifelt, nicht so viel darüber nachzudenken.« Er senkte den Blick. »Entweder versucht man, diesen Menschen zu vergessen oder ihn zu suchen. Mein Vater hat sie oft Abende lang gesucht, bevor er zu krank wurde. Ich habe auch gesucht. In den Straßen, auf den Plätzen, in den U-Bahn-Stationen und in der psychiatrischen Notaufnahme. Es dauerte nicht lange, bis wir wussten, wo es sich lohnte, nach ihr zu suchen.«
Er verstummte. In seiner Erinnerung war er zurück in der Großstadt, umgeben von Obdachlosen, Säufern und Drogenabhängigen, umgeben von den Einsamen und Halbtoten, die durch die Nacht irrten.
»Das hat bestimmt sehr viel Kraft gekostet«, sagte Gerlof leise.
»Ja … aber ich war nicht jeden Abend unterwegs. Ich hätte öfter nach ihr suchen können, müssen.«
»Sie hätten auch ganz aufgeben können!«
Joakim nickte bedrückt. Es lag ihm noch eine Sache über Ethel auf dem Herzen, aber darüber zu sprechen fiel ihm am schwersten.
»Vor zwei Jahren etwa war dann der Anfang vom Ende. Ethel hatte den Winter in einem Therapiezentrum verbracht, und alles sah gut aus. Als sie dort eingeliefert worden war, hatte sie nur noch fünfundvierzig Kilo gewogen, ihr Körper war übersät mit blauen Flecken. Als sie nach Stockholm zurückkehrte, sah sie viel besser aus. Drei Monate lang hatte sie keinerlei Drogen konsumiert und sogar etwas zugenommen. Sie ist dann in unser Gästezimmer eingezogen. Und das lief auch sehr gut. Auf Gabriel durfte sie zu Anfang nicht aufpassen, aber sie hat abends viel mit Livia gespielt. Sie mochten einander sehr.«
Er erinnerte sich an das Gefühl von aufkeimender Hoffnung. Ihr Vertrauen zu Ethel war wieder gewachsen. Sie wagten es zwar nicht, Leute einzuladen, wenn sie zu Hause war. Aber sie hatten begonnen, abends lange Spaziergänge zu unternehmen, während Ethel auf die Kinder aufpasste. Und es war nie ein Problem gewesen.
»Eines Abends im März sind Katrine und ich ins Kino gegangen«, erzählte er weiter. »Als wir einige Stunden später zurückkamen, war das Haus dunkel und leer. Nur Gabriel lag in seinem Bettchen und schlief in einer völlig durchnässten Windel. Ethel war abgehauen und hatte zwei Sachen mitgenommen. Mein Handy und Livia.« Er schloss für einen Moment die Augen. »Ich wusste sofort, wo sie hingefahren sein musste. Die Sucht hatte sich wieder gemeldet, so stark wie zuvor, und sie war mit der U-Bahn in die Stadt gefahren. Sie wollte sich Stoff beschaffen. Das hatte sie schließlich schon so oft getan. Sich eine Dosis für fünfhundert Kronen besorgt, sich auf irgendeiner Toilette den Schuss gesetzt und sich dann ein paar Stunden ausgeruht. Bis zum nächsten … Das einzige Problem war, dass sie Livia bei sich hatte.«
Die Erinnerung an diesen Abend übermannte Joakim, die Erinnerung an die aufsteigende Panik. Er hatte sich sofort ins Auto gesetzt und war das Viertel um den Hauptbahnhof abgefahren. Dort war er in der Vergangenheit so oft gewesen, mit oder ohne Katrine. Aber damals hatten sie sich Sorgen um Ethel gemacht.
Diesmal hatte er Todesangst, dass Livia etwas zustoßen könnte.
»Ich habe Ethel gefunden. Sie lag auf dem Friedhof der Klara-Kirche. Sie hatte sich bei einem großen Familiengrab verkrochen und war eingeschlafen. Livia saß neben ihr im dünnen Nachthemd, war vollkommen unterkühlt und apathisch. Ich rief einen Notarztwagen und sah zu, dass Ethel in die Entzugsanstalt gebracht wurde. Zum zweiten Mal. Danach bin ich mit Livia nach Hause gefahren.«
Er versank eine Weile in seinen Gedanken.
»Katrine hat mich nach diesem Vorfall vor die Wahl gestellt. Ich habe mich für meine Familie entschieden.«
»Sie haben die richtige Wahl getroffen«, tröstete ihn Gerlof.
Joakim nickte, er hätte lieber nicht wählen müssen.
»Ich habe Ethel verboten, zu uns zu kommen … daran hat sie sich aber nicht gehalten. Wir haben sie nicht ins Haus gelassen. Zwei- oder dreimal die Woche stand sie in ihrer zerschlissenen Jeansjacke vor unserem Gartentor und starrte die Apfelvilla an. Sie hat sogar manchmal unsere Post geöffnet auf der Suche nach Bargeld oder Schecks. Und ab und zu hatte sie einen Freund dabei, auch so ein klapperdürres Skelett, der schwankend und schlotternd neben ihr stand.«
Ihm wurde bewusst, dass dies seine letzte Erinnerung an seine Schwester war: am Gartentor stehend mit kreidebleichem Gesicht und verfilztem Haar.
»Ethel stand vor dem Haus und schrie«, fuhr er fort. »Sie beschimpfte hauptsächlich Katrine. Mich auch, aber meistens attackierte sie Katrine. Sie brüllte, bis die Gardinen in den Nachbarhäusern beiseitegeschoben wurden. Und dann bin ich rausgelaufen und habe ihr ein bisschen Geld gegeben.«
»Hat das geholfen?«
»Ja, natürlich, für den Moment. Aber es führte dazu, dass sie zurückkam, sobald sie wieder pleite war. Das war ein Teufelskreis. Wir fühlten uns von ihr belagert. Manchmal wachte ich nachts auf und hörte Ethel schreien, aber als ich nachsah, war die Straße menschenleer.«
»War Livia zu Hause, wenn Ihre Schwester auftauchte?«
»Ja, meistens.«
»Hat sie Ethel auch schreien hören?«
»Das vermute ich. Sie hat nie etwas gesagt, aber ich gehe davon aus, dass sie Ethel gehört hat.«
Joakim schloss die Augen.
»Das waren dunkle Monate … eine schreckliche Zeit. Katrine fing an, sich Ethels Tod zu wünschen. Wenn wir im Bett lagen, hat sie häufig gesagt, Ethel würde bestimmt früher oder später eine Überdosis nehmen. Je früher, desto besser. Ich glaube, wir beide hofften darauf.«
»Und das passierte dann auch?«
»Ja, am Ende schon. Das Telefon klingelte eines Nachts gegen halb zwölf. Weil es so spät war, wusste ich, dass es etwas mit Ethel zu tun haben musste. So war es immer gewesen.«
Ein Jahr war das nur her, dachte Joakim, aber es fühlte sich an wie zehn.
Seine Mutter Ingrid überbrachte die Todesnachricht. Ethel war in Bromma am Strand gefunden worden, ertrunken. In unmittelbarer Nähe der Apfelvilla. Katrine hatte Ethel an diesem Abend noch gesehen. Gegen sieben Uhr hatte sie wie immer am Tor gestanden und herumgebrüllt. Dann war ihre Schreierei plötzlich verstummt. Und als Katrine aus dem Fenster gesehen hatte, war sie verschwunden.
»Ethel ist zum Strand gegangen, hat sich in einem alten Bootsschuppen verkrochen und sich einen Schuss gesetzt. Und dann muss sie in das eiskalte Wasser gestolpert sein. So ist sie gestorben.«
»Waren Sie an diesem Abend nicht zu Hause?«, fragte Gerlof.
»Ich kam später, Livia und ich waren auf einem Kindergeburtstag.«
»Das war bestimmt schön für die Kleine.«
»Ja. Danach hatten wir die Hoffnung, dass endlich alles wieder so wie früher werden würde. Aber ich schreckte nachts häufig auf und meinte, Ethel draußen schreien zu hören. Und Katrine hatte ihre Fröhlichkeit verloren. Die Apfelvilla war fertig renoviert und sah toll aus, aber Katrine fühlte sich dort nicht mehr wohl. Bald darauf fingen wir an, über einen Umzug aufs Land nachzudenken, in den Süden, auf einen Hof auf Öland zum Beispiel. Und das haben wir dann ja auch getan.«
Er sah auf die Uhr. Zwanzig nach vier. Er hatte in den vergangenen Stunden mehr geredet als in den letzten Monaten.
»Ich muss die Kinder holen«, entschuldigte er sich und stand auf.
»Hat Sie eigentlich jemand gefragt, wie es Ihnen geht, mit dieser neuen Situation?«, fragte Gerlof.
»Wie es mir geht?«, wiederholte Joakim. »Mir geht es ausgezeichnet.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Sie haben recht. In unserer Familie wurde nie darüber gesprochen, wie es einem geht. Und auch über Ethels Probleme haben wir nie offen geredet. Man erzählt den Leuten nicht einfach so, dass man eine drogensüchtige Schwester hat. Katrine war die Erste … ich habe sie da irgendwie mit reingezogen, muss ich zugeben.«
Gerlof sah nachdenklich aus.
»Was wollte Ethel eigentlich? Warum stand sie immer wieder vor Ihrem Haus? Wollte sie wirklich nur Geld für Drogen?«
Joakim zog sich die Jacke über und blieb Gerlof zunächst eine Antwort schuldig.
»Nicht nur«, sagte er dann zögernd. »Sie wollte ihre Tochter zurück.«
»Ihre Tochter?«
Joakim fiel es sichtlich schwer, auch dieses heikle Thema zu offenbaren.
»Einen Vater gab es nicht mehr, er ist an einer Überdosis gestorben. Katrine und ich waren Livias Pateneltern, und das Sozialamt hat uns vor vier Jahren das Sorgerecht übertragen. Letztes Jahr haben wir sie adoptiert … Livia ist jetzt unser Kind.«
»Aber sie ist eigentlich Ethels Kind?«, fragte Gerlof.
»Nein. Nicht mehr.«