9

In dieser Novembernacht regnete es zwar nicht, aber es war kalt, neblig und dunkel. Die einzige Lichtquelle war der bleiche Halbmond hinter den seidendünnen Wolkenschleiern.

Einbruchswetter.

Das Haus an der nordwestlichen Steinküste der Insel lag auf der Steilkante, der Landborg, und war erst vor wenigen Jahren von einem Architekten entworfen und gebaut worden. Viel Holz und viel Glas. In Auftrag gegeben von Sommergästen mit zu viel Geld, schätzte Henrik. Er erinnerte sich an den Ausdruck seines Großvaters für die reichen Gäste vom Festland, Stockholmer hatte er sie alle abfällig genannt, unabhängig von ihrer tatsächlichen Herkunft.

»Hubba bubba«, sagte Tommy und kratzte sich am Hals. »Es geht los.«

Freddy und Henrik folgten ihm zum Kieshang, der am Fuße der Villa lag. Alle drei trugen Jeans und dunkle Jacken, Tommy und Henrik hatten außerdem noch zwei schwarze Rucksäcke mitgebracht.

Bevor sie nach Norden aufgebrochen waren, hatten die Brüder Serelius eine weitere Sitzung mit dem Ouija-Brett in Henriks Küche einberufen. Anderthalb Stunden vor Mitternacht hatten sie drei Kerzen angezündet, Tommy hatte das Brett auf dem Küchentisch aufgebaut und das Glas in dessen Mitte gestellt.

Alle Geräusche verstummten, die Stimmung war angespannt.

»Ist da jemand?«, fragte Tommy mit dem Finger auf dem Glas.

Die Frage blieb etwa zehn oder fünfzehn Minuten unbeantwortet in der Luft hängen, dann machte das Glas einen Ruck und setzte sich in Bewegung. Es blieb vor dem »Ja« stehen.

»Aleister, bist du es?«

Das Glas rührte sich nicht.

»Ist es ein guter Abend, Aleister?«, fragte Tommy weiter.

Das Glas verharrte zunächst vor dem »Ja«, dann setzte es sich wieder in Bewegung zu den einzelnen Buchstaben hin.

»Schreib auf!«, zischte Tommy Henrik an.

Henrik schrieb die Buchstaben auf, mit einem kalten und unbehaglichen Gefühl im Magen.

Å-L-U-D-D…

Nach einer Weile blieb das Glas in der Mitte des Brettes still stehen. Er sah hinunter auf das Papier und las vor, was dort stand:

»ÅLUDDEN ÅLUDDEN KUNSTGEGENSTÄNDE ÅLUDDEN EINSAM GEHEN DORTHIN.«

»Åludden?«, wiederholte Tommy fragend. »Wo zum Teufel ist das denn?«

Henrik starrte auf das Brett.

»Ich war da schon mal … das stehen zwei Leuchttürme.«

»Und da gibt es haufenweise Kunstgegenstände?«

»Davon hab ich nichts gesehen.«

Gegen Mitternacht hatten Henrik und die Brüder Serelius ihren Wagen hinter einem Bootshaus abgestellt, etwa fünfhundert Meter von der Villa entfernt. Geduldig warteten sie zwischen den Steinfelsen, bis auch die letzten Lichter in den glänzenden Panoramafenstern des ersten Stockes gelöscht wurden. Danach hielten sie noch eine weitere halbe Stunde die Stellung und warfen sich eine Dosis Kristalle ein, bevor sie sich ihre schwarzen Strumpfmasken überzogen und sich der Villa näherten.

Henrik war zwar kalt, aber die Kristalle hatten seinen Puls erhöht. Erhöhtes Risiko, hochgradiger Kick. An solchen Abenden dachte er wenig an Camilla.

Das Prasseln des Kieses, den die Wellen rhythmisch auf den Strand schoben, übertönte ihre Schritte, und sie erklommen nahezu lautlos den steinigen Steilhang.

Ein Eisenzaun umgab das Grundstück, aber Henrik wusste, wo sich ein unverschlossenes Tor befand. Nach kürzester Zeit standen sie im Schatten der Hauswand.

Die Schiebetür, die ins Erdgeschoss führte, war aus Glas und mit einem einfachen Riegel versperrt. Henrik holte Hammer und Stemmeisen aus dem Rucksack. Um diese Tür zu öffnen, benötigte er nur einen kurzen harten Schlag.

Die kleinen Rollen der Tür quietschten ein wenig, als er sie aufschob, aber das Geräusch war nicht lauter als das Rauschen des Windes.

Keine Alarmanlage.

Tommy streckte vorsichtig seinen vermummten Kopf durch den Türspalt. Dann drehte er sich zu Henrik um und nickte ihm zu.

Freddy blieb draußen als Wachposten, während sie das warme Haus betraten. Das Rauschen des Windes verstummte augenblicklich, die Schatten des Hauses umfingen sie.

Sie befanden sich in einem großen Kellerraum mit gestrichenem Betonfußboden, in dessen Mitte ein großer Tisch stand, ein Billardtisch. Hier würden sie bestimmt fündig werden.

Wie ein Soldat einer Spezialeinheit befahl Tommy mit einer knappen Handbewegung, dass sie sich aufteilen sollten. Henrik nickte und wandte sich nach links. An der Längsseite des Raumes stand ein kleiner Bartresen, auf dem eine Batterie von etwa zehn Flaschen aufgereiht war. Fünf von ihnen waren ungeöffnet, die steckte er vorsichtig in den Rucksack. Dann schlich er weiter zur Holztreppe, die ins Obergeschoss führte.

Er betrat das Fernsehzimmer, in dem ein großes Ledersofa vor einem kleinen Apparat und einer Videoanlage stand. Der Reihe nach entkabelte er die Geräte und brachte sie hinaus zu Freddy. Dann kehrte er zurück und warf einen Blick unter das Sofa.

Etwas Großes, Schwarzes schimmerte dort unten. Eine Golf tasche?

Mit einiger Mühe zog er eine zusammengefaltete Plane hervor. Darauf lag eine komplette Taucherausrüstung mit Schwimmflossen, Sauerstoffflaschen, Druckmessgerät und einem schwarzen Neoprenanzug. Die Ausrüstung sah vollkommen unbenutzt aus, vielleicht war sie erst im Sommer für einen gelangweilten Jugendlichen besorgt worden, der tauchen lernen wollte, es sich dann aber doch anders überlegt hatte.

Auf dem Segeltuch lag noch etwas anderes: ein altes Jagd gewehr.

Das Gewehr sah sehr gepflegt aus, mit poliertem Holzkolben und einem Schulterriemen aus geöltem Leder. Ein kleiner roter Pappkarton mit Patronen lag ebenfalls daneben.

Henrik nahm eines nach dem anderen. Zuerst packte er die Sauerstoffflaschen und trug sie hinaus zu Freddy. Dort traf er auf Tommy, der gerade einen Computerbildschirm anschleppte.

Tommy sah die Flaschen und nickte zufrieden.

»Davon gibt es noch mehr«, flüsterte Henrik und ging zurück.

Er klemmte sich die Tauscherausrüstung unter den Arm und hängte das Gewehr über die Schulter. Die Patronenbox steckte er in den Rucksack und ging zurück zur Schiebetür. Dort war Tommy gerade im Begriff, einen Hometrainer rauszuschieben. Der sah auch nagelneu aus, aber Henrik schüttelte den Kopf.

»Dafür haben wir keinen Platz«, flüsterte er.

»Logo«, widersprach Tommy, »wir schrauben den auseinander und …«

Sie hörten ein Poltern.

Ein Poltern, danach Schritte. Sie kamen aus dem ersten Stock.

Dann wurde das Licht im Treppenhaus angemacht.

»Hallo?«, rief eine Männerstimme.

»Scheiß auf das Fahrrad!«, zischte Henrik.

Sie rannten los, durch die Schiebetür, über den Rasen, durch das Gartentor und hinunter zum Strand. Alle drei waren bis oben hin beladen mit Gegenständen, aber sie hatten es nicht besonders weit zum Lieferwagen.

Henrik stellte seine Beute auf dem Boden ab, atmete schwer und sah zurück zum Haus. Es war hell erleuchtet, aber niemand schien ihnen gefolgt zu sein.

»Los, einräumen!«, rief Tommy, zog sich die Strumpfmaske vom Kopf und setzte sich hinters Steuer.

Er startete den Motor, ließ jedoch die Scheinwerfer ausgeschaltet.

Henrik und Freddy verluden, so schnell es ging, die Beute, die Rucksäcke, den Fernseher, die Taucherausrüstung …  Nur den Hometrainer hatten sie zurücklassen müssen. Henrik nahm das Gewehr von seiner Schulter.

Tommy gab Gas. Zurück auf die Straße und dann nach Süden. Erst als sie außer Sichtweite der Villa waren, schaltete er die Scheinwerfer ein.

»Nimm den Weg nach Osten«, sagte Henrik.

»Wovor hast du Angst? Straßensperren?«, fragte Tommy.

Henrik schüttelte den Kopf.

»Fahr da einfach lang, ja.«

Es war mittlerweile halb zwei, aber Henrik war aufgedreht, er spürte seinen Puls klopfen. Sie waren erfolgreich gewesen, sie hatten Gold gefunden. Es fühlte sich fast an wie früher, auf seinen Beutezügen mit Mogge.

»So was müssen wir noch mal machen«, sagte Tommy euphorisch, als sie auf die Landstraße bogen. »Das lief ja scheißeinfach!«

»Ja, ziemlich einfach«, nickte Henrik auf dem Beifahrersitz. »Aber wir haben sie aufgeweckt.«

»Und wer will das wissen? Was hätten die denn schon tun können? Wir waren einfach zu schnell, rein und raus.«

Plötzlich tauchte ein Schild auf, das auf eine Abzweigung verwies. Tommy machte eine Vollbremsung und bog ab.

»Wo willst du denn jetzt hin?«

»Nur noch eine letzte kleine Sache. Leichte Nummer, bevor wir nach Hause fahren.«

Zwischen den Bäumen links von der Straße tauchte ein großes weißes Gebäude auf. Lang und schmal und von Scheinwerfern beleuchtet.

Es war eine Kirche, erkannte Henrik.

Die weiße, mittelalterliche Kirche von Marnäs. Er erinnerte sich vage, dass seine Großeltern dort vor vielen Jahrzehnten geheiratet hatten.

»Ist die offen?«, fragte Tommy und bog auf den Kirchenvorplatz. Er fuhr den kleinen Kiesweg neben der Kirche entlang und parkte dann im Schutz der Bäume. »Normalerweise muss man da doch einfach nur reingehen.«

»Nicht nachts«, widersprach Henrik.

»Na und? Dann müssen wir eben einbrechen.«

Henrik schüttelte den Kopf.

»Ich mach da nicht mit«, sagte er.

»Warum das denn?«

»Das müsst ihr allein machen.«

Henrik dachte nicht im Traum daran, Tommy von der Hochzeit seiner Großeltern zu erzählen. Er sah ihm nur starr in die Augen, Tommy nickte.

»Meinetwegen, bleibste halt als Wache hier«, sagte er, »… aber wenn wir was finden, gehört es nur uns beiden.«

Tommy griff nach seinem Rucksack mit dem Werkzeug, warf die Wagentür zu und verschwand mit Freddy im Schlepptau im Schatten der Kirche.

Henrik lehnte sich zurück und wartete. Er musste an seine Großmutter denken, die in dieser Gegend aufgewachsen war.

Plötzlich wurde die Wagentür aufgerissen, und Henrik zuckte zusammen.

Es war Freddy. Seine Augen leuchteten wie nach einem richtig geglückten Überraschungscoup, seine Stimme überschlug sich.

»Brüderlein kommt gleich«, keuchte er. »Aber sieh dir das an! Das lag in einem Schrank in der Sakresta … Sackerist … Verdammt, wie heißt das Ding?«

»Sakristei«, antwortete Henrik.

»Was meinst du, was das wert ist?«

Henrik betrachtete die alten Kerzenständer, die Freddy ihm entgegenstreckte. Vier Stück waren es, und sie schienen aus Silber zu sein. Ob sie vielleicht sogar auf der Hochzeit seiner Großeltern benutzt worden waren? Nicht unwahrscheinlich.

Da kam auch Tommy zurück zum Wagen, verschwitzt und aufgeregt. Als er sich neben Henrik auf den Beifahrersitz schwang, klimperte es.

»Du kannst fahren«, sagte er. »Ich muss das hier zählen.«

Er hatte eine Plastiktüte in der Hand, die er zwischen seinen Beinen auf dem Sitz ausschüttete. Münzen und Geldscheine fielen heraus.

»Die hatten eine Sparbüchse aus Holz«, kicherte er. »Die stand direkt am Eingang, ich musste sie nur auftreten.«

»Da sind ja Hunderter dabei«, sagte Freddy, der sich aus dem Laderaum nach vorne gebeugt hatte.

»Ich muss das jetzt zählen«, sagte Tommy und sah zu Henrik. »Vergiss nicht, dass das unsere Knete ist.«

»Behalt die bloß«, erwiderte Henrik mit gedämpfter Stimme.

Ihm war auf einmal nicht gut. Das war einfach zu erbärmlich, in Kirchen einzubrechen und das Geld zu stehlen, dass für die Rentner gedacht war oder für Kranke in Somalia oder wer auch immer davon profitieren sollte. Einfach ekelhaft. Aber was geschehen war, war geschehen.

»Was ist das denn?«, fragte Tommy.

Er hatte das Gewehr im Fußraum des Beifahrersitzes entdeckt.

»Das habe ich in der Villa gefunden«, erklärte Henrik.

»Oh, ich werd verrückt!« Tommy hob es hoch. »Das ist ’ne alte Mauser. Das ist ein Sammlerstück. Allerdings wird damit auch noch gejagt, weil die so zuverlässig ist.«

Er zielte und zog am Spannhebel.

»Sei vorsichtig«, warnte ihn Henrik.

»Keine Sorge … die ist gesichert.«

»Du kennst dich mit Gewehren aus?«

»Klar«, antwortete Tommy. »Alter Elchjäger. Wenn mein Alter mal nüchtern war, sind wir ständig in den Wald gefahren.«

»Umso besser, wenn du dich darum kümmerst«, sagte Henrik.

Er startete den Lieferwagen, ohne jedoch die Scheinwerfer anzumachen. Dann wendete er den Wagen und ließ ihn langsam auf die Straße zurückrollen.

»Wir müssen bald damit aufhören«, sagte er, sobald sie ein Stück gefahren waren.

»Womit?«

»Mit diesen Rundreisen, viele mache ich nicht mehr mit.«

»Ein paar Dinger müssen wir noch drehen. Vier noch!«

»Zwei«, entgegnete Henrik. »Ich mache noch zwei Trips mit euch.«

»Okay. Und welche?«

Henrik fuhr schweigend weiter.

»Ich kenne da ein paar Grundstücke«, sagte er schließlich. »Ein Pfarrhaus, wo wir einiges finden könnten. Und dann vielleicht dieser Hof Åludden.«

»Åludden?«, wiederholte Tommy. »Das war doch der, den Aleister uns vorgeschlagen hat.«

Henrik nickte, obwohl er fest davon überzeugt war, dass Tommy und nicht Aleister das Glas bewegt hatte.

»Wir müssen da hinfahren und überprüfen, ob er recht hatte«, schlug Tommy vor.

»Klar … aber mehr mache ich nicht.«

Henrik starrte mürrisch durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Verdammt. Das hier war total grenzüberschreitend, überhaupt nicht wie die Trips mit Mogge.

Er hätte sich mehr engagieren müssen, um diesen letzten Bruch zu verhindern.

Kirchenraub brachte Unglück.

Theorin, Johan
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