WINTER 1900

Wenn sich unter einem plötzlich der Abgrund öffnet, Katrine – was tut man dann? Bleibt man stehen, oder springt man?

Ende der Fünfzigerjahre saß ich neben einer alten Dame in einem Zugabteil auf Nordöland, und wir fuhren nach Borgholm. Sie hieß Ebba Lind und war die Tochter eines Leuchtturmwärters. Als sie erfuhr, dass ich auf Åludden wohnte, erzählte sie mir eine Geschichte von dem Hof. Sie handelte davon, was an dem Tag geschah, an dem sie auf den Dachboden der Scheune kletterte und den Namen ihres Bruders in die Wand ritzte: PETTER LIND 1885–1900.

Mirja Rambe

Es ist das erste Jahr des neuen Jahrhunderts. Der letzte Mittwoch im Januar ist windstill und sonnig, aber Åludden ist vollkommen von der Außenwelt isoliert.

In der vergangenen Woche hatte der Nebelsturm über Öland gewütet, und zwölf Stunden lang war die Küste hinter einer Wand aus Schnee verschwunden. Der Wind hat wieder nachgelassen, aber es sind fünfzehn Grad unter Null. Die Landstraße liegt unter meterhohen Schneewehen verborgen, und die Familien auf Hof Åludden haben seit sechs Tagen weder Post noch Besuch bekommen. Futter für die Tiere ist noch reichlich vorhanden, aber die Kartoffelvorräte schwinden, und wie immer ist das Brennholz knapp.

Die Geschwister Petter und Ebba Lind sind trotz der Kälte unterwegs, um Eisblöcke zu sägen, die im Vorratsraum vergraben werden und die Lebensmittel kühlen sollen, wenn der Frühling kommt. Nach dem Frühstück machen sie sich auf den Weg und klettern über die mit Schnee und Eis bedeckten Wiesen am Strand von Åludden. Die Sonne ist bereits aufgegangen und strahlt über ein geschlossenes, mit Schnee bedecktes Eismeer. Sie passieren die letzte vorgelagerte Insel gegen neun Uhr und betreten eine funkelnde Welt aus eisiger Weite und Sonnenstrahlen.

Sie gehen über das Wasser, wie Jesus damals. Der Schnee, der das Eis bedeckt, knarzt unter ihren Stiefeln. Petter ist fünfzehn, zwei Jahre älter als Ebba. Er geht vor, dreht sich aber immer wieder um und fragt seine Schwester.

»Wie geht es dir?«

»Gut«, antwortet Ebba.

»Bist du warm genug angezogen?«

Sie nickt, ganz außer Atem, kann kaum sprechen.

»Glaubst du, dass wir die Südspitze von Gotland sehen können?«, fragt sie.

Petter schüttelt den Kopf.

»Die Insel ist zu flach … und auch ein bisschen zu weit weg.«

Nach etwa einer halben Stunde sehen sie am Rand der Eisfläche das offene Wasser glitzern. Die Wellen reflektieren die Sonne, das Meer ist pechschwarz.

Sie sehen viele Vögel dort. Ein Schwarm von Eisenten hat sich weiter draußen versammelt, und ein Schwanenpaar dümpelt am Eisrand. Ein Seeadler kreist über der Kante von Eis und Meer. Ebba hat den Eindruck, dass er nach etwas Ausschau hält, vielleicht beobachtet er die Eisenten – aber plötzlich stürzt sich der Seeadler auf die Wasseroberfläche und steigt sofort wieder auf, etwas Langes und Schwarzes in den Klauen. Aufgeregt ruft sie Petter zu:

»Schau doch!«

Aale, auf dem Eis liegen massenweise, sich schlängelnde Blankaale. Hunderte davon, die aus dem Meer auf das Eis gesprungen sind und nicht wieder zurückkönnen. Petter läuft auf sie zu und legt seine Eissäge auf den Schnee.

»Komm, lass uns welche fangen«, ruft er und öffnet seinen Rucksack. Die Aale winden sich, versuchen zu entkommen, aber er packt den Ersten schnell und geschickt. Ein halbes Dutzend stopft er in den Rucksack, der ein Eigenleben bekommt, sich bewegt, weil die Aale sich auf der Suche nach einem Ausgang darin drängen.

Ebba geht ein Stück weiter und fängt ebenfalls Aale. Sie packt sie an ihren platten Schwänzen, um ihren scharfen, kleinen Zähnen zu entgehen. Doch sie sind glitschig und schwer festzuhalten. Aber viel Fleisch haben sie, jedes der Aalweibchen wiegt ein paar Kilo.

Zwei kann sie in ihren Rucksack stecken und geht auf die Jagd nach ihrem dritten, das sie auch erwischt.

Die Luft ist merklich kälter geworden. Sie sieht hoch und entdeckt, dass sich von Westen Schleierwolken vor die Sonne geschoben haben. Tiefere und dunklere Regenwolken sind ihnen gefolgt, und gleichzeitig nimmt der Wind zu.

Ebba hat gar nicht bemerkt, dass es stürmischer geworden ist, aber sie hört das Rauschen der Wellen auf dem offenen Meer.

»Petter!«, ruft sie. »Petter, wir müssen zurück!«

Er ist mehr als hundert Meter von ihr entfernt, springt zwischen den Aalen herum und scheint sie gar nicht zu hören.

Die Wellen werden immer größer, sie brechen auf dem Eis, das langsam in Schwingungen gerät, sich hebt und senkt. Ebba spürt, wie es unter ihr schaukelt.

Sie lässt den Aal los, den sie gerade gefangen hat, und rennt zu Petter. Da aber vernimmt sie ein furchterregendes Geräusch. Einen gewitterähnlichen Knall – aber er kommt nicht aus den Wolken über ihr, sondern vom Eis unter ihren Füßen.

Es ist dieses tiefe grollende Dröhnen, wenn Wellen und Wind die Eisdecke zum Bersten bringen.

»Petter!«, schreit sie voller Angst.

Er unterbricht seine Jagd und dreht sich um. Aber die beiden trennen noch immer gut hundert Meter.

Da hört Ebba einen lauten Knall in ihrer Nähe, wie ein Kanonenschuss, und sieht, wie das Eis neben ihr bricht. Ein schwarzer Spalt zieht sich durch das Weiß der Eisdecke, etwa zehn Meter von ihr entfernt. Das Wasser drängt das Eis auseinander, der Spalt wächst schnell.

Instinktiv vergisst Ebba alles um sich herum und rennt los. Als sie am Riss ankommt, ist er fast schon einen Meter breit und wächst ständig weiter.

Ebba kann nicht schwimmen und hat Angst vor Wasser. Sie starrt wie angewurzelt auf den Spalt und dreht sich verzweifelt um.

Petter kommt auf sie zugelaufen, in der Hand den Rucksack. Aber er ist bestimmt noch mindestens fünfzig Schritte von ihr entfernt. Er wedelt mit dem Arm in Richtung Land.

»Spring, Ebba!«

Sie nimmt Anlauf und springt über das schwarze Wasser unter ihr. Und landet genau auf der Eiskante, rutscht aus und fällt zu Boden.

Petter bleibt allein auf der Eisscholle zurück. Er erreicht deren Kante nur einige Sekunden nach Ebba, aber der Spalt ist mittlerweile mehrere Meter breit. Er bleibt stehen, zögert. Der Spalt reißt noch weiter auf.

Die Geschwister sehen einander gelähmt vor Schreck an. Petter schüttelt den Kopf und zeigt an Land.

»Du musst Hilfe holen, Ebba! Sie müssen ein Boot zu Wasser lassen.«

Ebba nickt und läuft los.

Das Eis bricht an mehreren Stellen, wird von Wellen und Wind gesprengt, die Risse sind ihr dicht auf den Fersen. Zwei weitere Abgründe öffnen sich vor ihr, aber jedes Mal gelingt es ihr, sie mit einem Sprung zu überwinden.

Sie dreht sich um und sieht Petter ein letztes Mal. Einsam steht er auf einer riesigen Eisscholle hinter einem schwarzen Sund, der jede Sekunde größer wird.

Doch sie muss weiterlaufen, das Donnern des brechenden Eises hallt die Küste entlang.

Ebba rennt und rennt, den zunehmenden Wind im Rücken, da endlich sieht sie den Hof zwischen den Leuchttürmen – ihr Zuhause. Aber der Hof ist nicht mehr als ein kleiner roter Würfel an Land, der Strand ist noch ein ganzes Stück entfernt. Sie betet zu Gott, für Petter und sich, und bittet ihn um Vergebung, dass sie sich so weit hinausgewagt haben.

Erneut springt sie über einen Riss im Eis, rutscht aus, fängt sich und rennt weiter.

Endlich hat sie die vereisten Strandwiesen erreicht und Land unter den Füßen. Auf allen Vieren kriecht sie über den Hügel, schniefend und schluchzend. Jetzt ist sie in Sicherheit.

Ebba steht auf und sieht über das Meer. Der Horizont ist hinter einer Nebelwand verschwunden.

Auch die Eisscholle ist nicht mehr zu sehen, sie muss nach Osten getrieben worden sein, Richtung Finnland und Russland.

Ebba läuft schluchzend weiter. Sie weiß, dass sie sich beeilen muss, damit die Leuchtturmwärter schnell ein Boot zu Wasser lassen können. Aber wo nur sollen sie nach Petter suchen?

Ihre Kräfte verlassen sie, und sie sinkt auf die Knie in den Schnee.

Vom Hügel sieht Hof Åludden auf sie herab. Das Dach des Hauptgebäudes ist weiß von Schnee, aber die Fenster sind pechschwarz.

Schwarz wie Eislöcher oder wie zornige Augen. Ebba bildet sich ein, dass so die Augen Gottes aussehen.

Theorin, Johan
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