KAPITEL 29
Sie hatte auf den Namen Kasey gehört.
Sie wusste nicht, dass ihre Eltern beide Anwälte gewesen waren. Ihr Vater, ein Experte für Urheberrecht, hatte vor allem für große Firmen gearbeitet, ihre Mutter war Familienanwältin gewesen, gerichtlich benannter Vormund sowie ehrenamtliche Mitarbeiterin bei einer gemeinnützigen Rechtshilfeagentur, die die Rechte von Minderheiten vertrat.
Sie erinnerte sich nicht mehr daran, dass sie in Atlanta gelebt hatten und sich auf einer Urlaubsreise befunden hatten, die sie über den Blue Ridge Parkway zum Küstenschutzgebiet auf Assateague Island in Maryland führen sollte, bevor ihr Vater zu einer Konferenz in Washington weiterreisen musste.
Kasey hatte sich darauf gefreut, die Wildpferde zu sehen, die in den Dünen lebten. Ihr Vater hatte sogar ein neues Zelt und einen Drachen gekauft und er hatte versprochen, sein Handy drei ganze Tage lang ausgeschaltet zu lassen.
Sie war elf Jahre alt und kurz davor, in die siebte Klasse zu kommen, was sie etwas nervös machte, da sie ein wenig jünger war als ihre Klassenkameraden. Außerdem hatte Ashleigh Ostermueller während des Sommers einen Busen bekommen, was bedeutete, dass Bradley Staley nun Ashleigh vermutlich lieber mögen würde als Kasey.
Es war Donnerstag gewesen und sie hatte auf dem Rücksitz des Nissan Pathfinder geschlafen, als es passierte.
Ihr Vater musste gespürt haben, dass die elektrischen Signale in die Irre gingen und sein Hirn nicht mehr die richtigen Botschaften an sein Herz sendete. Er hatte das Tempo gedrosselt, war auf den Grasstreifen gefahren und hatte seine Frau auf dem Beifahrersitz angeblickt. Als das Fahrzeug zum Stehen kam, war sie bereits am Seitenfenster zusammengesackt und antwortete nicht mehr auf den letzten Satz, den er jemals sprechen würde.
Kasey wusste jetzt nichts mehr davon, aber sie war von der Stimme ihres Vaters aufgewacht, hatte ihren Sicherheitsgurt gelöst und wurde zu etwas anderem. Wenn sie gewusst hätte, dass sie ihren gerade erwachenden Sinn für Mode, der sich in immer häufigeren Ausflügen zu Aeropostale und T.J. Maxx äußerte, verlieren würde, hätte sie etwas anderes angezogen. Nie im Leben hätte sie sich in einem Hello-Kitty-T-Shirt erwischen lassen, denn das war etwas für Kinder und sie war fast schon eine Frau. Oder zumindest ein Teenager.
Aber Stolz kümmerte sie nicht länger, ebenso wenig wie Angst, die siebte Klasse, Ashleigh Ostermueller oder der beißende Gestank des Rauchs, der vom Wind herangeweht wurde.
Sie verstand den Instinkt nicht, der sie veranlasst hatte, dem Bergkamm zu folgen und sich vor einem Tor wiederzufinden. Die Komplexität geladener Teilchen, die Molekularstruktur ihres erblühenden Körpers und die störungsanfällige Ausschüttung ihrer Neurotransmitter waren weit jenseits ihres Verständnisses. Selbst wenn sie aufs College gegangen wäre, hätte sie Molekularbiologie wahrscheinlich wie die Pest gemieden.
Außer wenn Bradley Staley den Kurs besucht hätte.
Sie war sich bewusst, dass sich andere hinter ihr befanden, die ihr durch den Wald folgten. Ihr Zischen erfüllte ihre Sinne und verband sie auf eine Art und Weise, die sie niemals in einem Aufsatz für ihren Englischunterricht hätte beschreiben können. Aber in ihrem Schädel hallte ein weiteres Wort unaufhörlich nach: »Wer? Wer? Wer?«
Das Kasey-Ding ging durch das Tor und das Erste, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, waren die Ziegen. Sie meckerten, als sie sie sahen, und verlangten von ihr Heu aus dem kleinen Schuppen neben dem Pferch.
Sie verstand Hunger nicht. Aber sie wurde von dem Geräusch ihrer Stimmen angezogen.
»Määähhh«, meckerte eine Ziege.
Das Kasey-Ding näherte sich ihr. Der alten Kasey wäre ihr Verhalten, das in diesem Augenblick aus einer Mischung aus kindlichem Erstaunen und unschuldiger Neugier bestand, peinlich gewesen. Die alte Kasey war damit beschäftigt gewesen zu lernen, wie man cool war, wie man seine Eltern ignorierte und wie man die Menschen um einen herum manipulierte. Um die eigene gesellschaftliche Stellung zu verbessern und – was wichtiger war – dem Ansehen von Konkurrentinnen wie Ashleigh zu schaden.
All das zählte jetzt nicht mehr, sondern nur noch dieses prächtige, neue Geräusch, das in ihrem Schädel nachhallte und das wiederkehrende »Wer?« austrieb und ersetzte.
Sie ließ das neue Geräusch in ihren Rachen sinken, dann presste sie die Lippen aneinander und brachte ihren Kehlkopf zum Schwingen.
»Mäh.«
Die anderen ihrer Art verteilten sich in der Anlage, nicht sicher, wo sie waren oder was sie waren, nur, dass sie waren.
Das Ding, das Kasey gewesen war, hätte gekichert, wenn man sie als »Zapphirn« bezeichnet hätte. Eine diskriminierende Bezeichnung dieser Art befand sich bestimmt auf der Liste von Ausdrücken, die einem einen Besuch beim Vertrauenslehrer und einen Vortrag über das gesellschaftliche Übel des Mobbings einbrachten.
Das Kasey-Ding presste erneut die Lippen zusammen und atmete aus, die Ziege nachahmend: »Mäh.«
Die anderen Ziegen drängten sich gegen die Umzäunung und bettelten nach Heu. Sie hörten sich fast wie weinende Kinder an: »Määähhh! Määähhh!«
Das Kasey-Ding wiederholte den einfachen Laut und verlängerte das Geräusch, indem es mehr Luft ein- und ausatmete: »Määähhh!«
Die anderen ihrer Art hörten auf zu zischen und näherten sich dem Pferch. Eines von ihnen sagte: »Mäh.«
Dann fielen andere ein: »Määähhh! Määähhh! Määähhh!«
Die alte Kasey wäre entsetzt gewesen, ein Teil der Menge zu werden. Sich anpassen war eine Sache, aber so sein wie alle anderen? Das war absolut daneben.
Diese neue Kasey kümmerte das jedoch nicht. Ebenso wenig, wie sie Hello Kitty und das Ende der Welt kümmerten.
Diese neue Kasey mochte das Geräusch und sie mochte auch die anderen, die es machten, und bald wurde das Geräusch ein noch lauteres Geräusch, das immer und immer wieder wiederholt wurde.
»Määähhh! Määähhh! Määähhh!«
Immer und immer wieder.
ENDE
Die weiteren Bände der DANACH-Reihe:
Prequel: Danach: Morgengrauen (Sommer 2014)
Band #1: Danach: Der Schock
Band #3: Danach: Meilenstein 291