KAPITEL 14
»Sie alter Narr«, sagte Jorge. »Nun werden die Soldaten zurückkommen.«
»Sollen sie doch«, antwortete Franklin. Boshaftigkeit funkelte in seinen Augen, das Zeichen eines sich anbahnenden Sturms.
Unten am Pfad sammelten sich die Zapphirne. Ihr Zischen war nun fast ein gemeinsames Kreischen. Sie kamen nicht näher. Noch nicht. Jorge fragte sich, warum sie zögerten. Sie zeigten weder Furcht noch Wut und ihre Entschlossenheit war so viel furchteinflößender, als wenn sie den Abhang hoch zu ihnen gestürmt wären. Die beiden Jugendlichen waren am unheimlichsten – ohne ihre funkelnden Augen und die zerfetzte Kleidung hätte man sie für Teilnehmer eines Schulausflugs halten können, auf einer Waldwanderung mit anschließendem Picknick.
»Wollen Sie schießen oder davonlaufen?«, wollte Franklin von Jorge wissen.
»Das ist nicht mein Kampf«, gelang es Jorge zu sagen, obwohl er kaum Luft durch seine Luftröhre zwingen konnte. Er hatte keinen Moment gezögert, sein Leben zu riskieren, um Cathy und ihr Baby zu retten – wobei er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass das Baby ein Zapphirn war. Aber diese Konfrontation hier war überflüssig. Sie hätten einfach nur abwarten müssen, bis die Zapphirne verschwunden waren.
Er würde nicht kämpfen, um eine Leiche zu retten. Nicht solange seine Familie in Gefahr war.
»Das war nicht Teil des Plans«, sagte Jorge.
»Unser Plan ist es zu überleben.«
»Wir überleben, wenn wir unsichtbar bleiben.«
»Ich habe nicht gehört, wie Sie das sagten, als Sie das verdammte Zapper-Baby retten mussten.«
»Ich ... ich wusste es nicht.«
»Ich hab genug Kugeln für alle von denen«, sagte Franklin und legte sein Gewehr wieder an.
»Haben Sie auch genug für die Armee, die irgendwo da draußen ist?« Jorge spähte in den sie umgebenden Wald und fragte sich, ob die drei Soldaten gerade auf dem Weg zurück zum Pfad waren. Und ob andere Soldaten auf Patrouille waren. Er hatte viele Stiefelabdrücke gesehen.
Die Zapphirne blickten noch immer den Abhang hoch. Schweiß sammelte sich an Jorges Haaransatz. Das süße Aroma des Pflanzensafts und die Herbstfäulnis drangen in seine Nase, die Anspannung schärfte seine Sinne. Ein Vogel über ihnen stieß einen durchdringenden Schrei aus und Jorge befürchtete, dass die Zapphirne dadurch wieder aufgeschreckt würden. Aber sie warteten mit unmenschlicher Geduld.
»Die begreifen es nicht«, sagte Franklin. »Das ist mein Berg.«
Er schoss erneut und eines der weiblichen Zapphirne taumelte einen Schritt nach vorne, den Mund vor Überraschung aufgerissen. Die Kugel war in ihren Bauch eingedrungen und hatte dafür gesorgt, dass ein rosafarbenes, sehniges Stück ihrer Eingeweide aus dem Rücken austrat. Ihrem blauen Blazer und dem weißen Hemd nach zu urteilen, hatte es sich bei ihr um eine Bank- oder Vertriebsangestellte gehandelt, jemand, von dem man nicht erwarten würde, ihn tief im Wald anzutreffen.
Nun war sie zum zweiten Mal gestorben – nachdem die Sonnenstürme zuerst ihre Seele getötet und nur den Körper zurückgelassen hatten.
Trotzdem war sie noch immer eine Frau gewesen.
»Sie töten sie kaltblütig«, sagte Jorge.
»Gut«, gab Franklin zurück. »Kein Grund zur Aufregung.«
»Sie werden nicht auf die Kinder schießen, oder?«
»Das sind keine Kinder mehr. Wenn man ein Zapper ist, ist man eine Gefahr für die menschliche Rasse. Eine Gefahr für die Freiheit.«
Die Zapphirne wirkten immer noch nicht bestürzt oder gar aufgeregt. Aber sie begannen, sich um ihre gefallenen Artgenossen zu kümmern. Zwei von ihnen hoben den nackten Mann auf ihre Schultern, während drei weibliche Zapphirne ihre tote Schwester hochhoben. Sie waren nicht kräftig genug, sie ganz aufzuheben, aber es gelang ihnen, sie soweit anzuheben, dass sie sie den Pfad entlangziehen konnten. Dabei löste sich eine Sommersandale vom Fuß der Leiche.
Die übrigen Zapphirne begannen, stumm den Hang in Richtung der Rhododendren hochzugehen. Sie bewegten sich mit einer gespenstischen Anmut, ganz so, als ob sie durch Wasser glitten. Aus vierzig Metern Entfernung sahen ihre funkelnden Augen wie Leuchtperlen aus.
Jorge legte seine Waffe an. Aber nur weil er erwartete, dass die Soldaten sie entdecken und angreifen würden. Er würde nur schießen, wenn er keine andere Wahl hatte.
Franklin hingegen ...
Ku-pack.
Ein weiterer Schuss. Ein weiteres Zapphirn fiel um.
Jorge warf seine Waffe zu Boden.
Franklin drehte sich zu ihm um und knurrte fast vor Wut. Jorge wusste nicht, ob Franklins Zorn ihm oder den Zapphirnen galt – die rohe Erregung schien diffus, nicht zielgerichtet, wie ein Tsunami, der schließlich einen Deich durchbrach.
»Heben Sie sie auf«, sagte Franklin.
»Ich werde keine unbewaffneten Menschen erschießen.«
»Verdammt, das sind keine Menschen. Das sind Zapper.«
»Mir egal.«
Franklin stürzte sich mit einer Geschwindigkeit auf ihn, die sein Alter keinesfalls erwarten ließ. Jorge versuchte, dem Angriff auszuweichen, wobei er rückwärts in das Geäst fiel. Kleine Rindenstücke regneten auf sein Gesicht. Franklin packte ihn an der Vorderseite seines Hemds, seine Faust presste hart gegen Jorges Adamsapfel.
Die Zapphirne brachen plötzlich in ihr Zischen aus und begannen, den Abhang hochzustürmen. Dabei wirbelten sie Erde und Laub auf. Ihre Anmut wich einer Bewegungstollwut, die Ähnlichkeit mit Franklins Zorn hatte. Jorge kämpfte darum, Luft in seine Lungen zu bekommen. Franklins Atem stank nach alten Zwiebeln, abgestandenem Kaffee und einem Hauch von Metall, der von irgendwoher tief aus seinen Organen kam.
»Gu ... gu ...«, ächzte Jorge und deutet auf die sich nähernden Zapphirne. Aber Franklins hervortretende Augen waren so sehr auf Jorge fixiert, dass es schien, als ob er nichts anderes als das Adrenalin, das durch seine Adern schoss, wahrnahm. Jorge versuchte, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, aber eines seiner Knie war in der Gabelung eines verdrehten Rhododendrons eingeklemmt. Er konnte nicht davonlaufen und er konnte den grauhaarigen Alten nicht abwehren.
Die Zapphirne schwärmten aus und näherten sich weiter. Ein halbes Dutzend von ihnen huschte zwischen den Bäumen hindurch und verbarg sich hinter den Felsbrocken. Der Angriff wurde von den beiden Jugendlichen angeführt. Jorge hatte zuvor nicht bemerkt, dass es sich bei einem der beiden um ein Mädchen handelte – ihr geschmeidiger Körper war noch nicht vollständig entwickelt und noch dazu unter einem schlabbrigen T-Shirt verborgen. Sie war bereits so nahe, dass er das Symbol auf ihrem T-Shirt erkennen konnte. Er kannte es von der Verpackung von Marinas Buntstiften.
Hello Kitty.
Jorge riss sich aus Franklins Griff los, wobei ihm ein Ast die Backe zerkratzte.
»Fra ... Franklin«, keuchte Jorge. Diesmal deutete sich ein Anflug von Erkenntnis in der brennenden Wut in Franklins Augen an. Er blinzelte, als ob er gerade aus einem unruhigen Schlaf erwacht wäre und blickte auf seine Hände hinab.
»Sie kommen«, sagte Jorge.
»Wer?«
Jorge fragte sich, ob der alte Mann einen Schlaganfall erlitten hatte. »Die Zapper.«
Der Mann schob Jorge aus dem Weg und griff nach seinem Gewehr. Jorge hing einen Moment lang in den Ästen und Zweigen, dann fiel er auf den feuchten Lehmboden.
Kniend legte Franklin das Gewehr an und schwenkte den Lauf hin und her. Die Zapphirne liefen zischend und glucksend zwischen den Bäumen umher.
Franklin schoss. Die Kugel prallte von einem Granitfelsen ab.
Vom Bergkamm auf der anderen Seite hallte ein Antwortschuss durch das Tal.
Die Soldaten. Verdammter sturer alter Bock.
Jorge konnte kein einziges der Zapphirne sehen. Sie hatten sich im Wald verteilt hatten und bewegten sich nun mit der Gewandtheit von Raubtieren. Im Augenwinkel nahm er eine Bewegung oder ein Stück Stoff wahr, aber als er genau hinsah, waren dort nur Schatten und Bäume zu erkennen. Wenn nicht ihr Zischen gewesen wäre, hätte Jorge fast geglaubt, dass sie sich tiefer in den Wald zurückgezogen hatten.
Franklin fluchte leise. »Sind sie zu Gespenstern geworden?«
In der Ferne ertönte ein weiterer Schuss und diesmal konnte Jorge hören, wie die Kugel durch die Baumspitzen über ihnen pfiff. Er kauerte sich hin und kroch auf allen Vieren, bis er aus dem Dickicht heraus war.
»Wo gehen Sie hin?«, fragte Franklin.
»Zur Anlage.«
»Sie haben Ihr Gewehr vergessen.«
»Nein, hab ich nicht.«
Jorge lief los und rannte den Abhang parallel zum Pfad entlang. Unten hatten die drei Frauen die Frau, die Franklin erschossen hatte, hochgehoben und waren nun damit beschäftigt, ihre grausige Last zu ihrem geheimnisvollen Ziel zu befördern. Die Leiche des nackten alten Mannes war verschwunden, aber der tote Soldat lag noch da, wo sie ihn fallen gelassen hatten. Die Zapphirne verloren offenbar das Interesse an Menschenleichen, sobald sie Leichen ihrer eigenen Spezies hatten.
Franklin schoss noch einmal und Jorge zuckte zusammen, weil er befürchtete, womöglich eine Kugel in den Rücken zu bekommen. Aber er drehte sich nicht um. Stattdessen lief er den Berg hoch und hastete zwischen den runzeligen grauen Stämmen von Eichen und Pappeln hindurch. Er glaubte, in seinen Augenwinkeln Bewegungen wahrnehmen zu können, aber seine Sinne konzentrierten sich ganz auf sein flatterndes Atmen und die Schmerzen in seinen Beinen. Er hoffte, dass die Soldaten nicht die Kammlinie umrundet und eine Position in den höheren Lagen eingenommen hatten.
Aber sie waren nur zu dritt ...
Er kam zu einem umgestürzten Baum, der von einem Blitz gespalten und versengt worden war. Durch seine Äste wurde der Stamm einen Meter über dem Boden gehalten und Jorge musste sich entscheiden, ob er darunter hindurchkriechen oder darüber klettern sollte. Weil er sowieso eine Verschnaufpause benötigte, ließ er sich auf die Knie fallen und lauschte. Er sog die süße Waldluft ein und bemühte sich, etwas zu hören.
In der Ferne wurde eine Gewehrsalve abgefeuert. Franklin erwiderte das Feuer. Jorge bezweifelte, dass der alte Mann überhaupt wusste, wo sich sein Ziel befand. Er hatte wahrscheinlich nur geschossen, um sein Revier zu markieren. Ein Eichhörnchen schnatterte in einem Gewirr aus goldbraunen Blättern über ihm und Jorge genoss den gewohnten Klang einer vergangenen Welt.
Aber die Vergangenheit war noch nicht tot. Sie wartete auf ihn in der Anlage.
Halte durch, Rosa. Ich bin bald zurück.
Er kroch unter dem Baumstamm hindurch, erhob sich und blickte dem Zapphirn direkt ins Gesicht.
Sie sah ihn mit diesen unheimlichen, funkelnden Augen an. Ihr Gesicht war leer, aber ihr Mund öffnete sich für ein feuchtes Ausatmen. Sie konnte nicht viel mehr als fünfundvierzig Kilo wiegen. Dünne Arme ragten aus den Ärmeln des übergroßen T-Shirts, das ihr bis zu den Knien reichte. Das ausdruckslose Hello-Kitty-Gesicht mit der roten Schleife füllte die Vorderseite des T-Shirts. Sie trug keine Schuhe, nur unterschiedliche Socken, die durchnässt und schwarz vor Dreck waren.
Sie war nur ein oder zwei Jahre älter als Marina und hatte vielleicht schon begonnen zu menstruieren. Ihr Haar hing in schwarzen Strähnen herab, die in fettigen Kringeln endeten.
Jorge trat langsam einen Schritt nach rechts, als ob er um sie herumgehen wollte. Sie kopierte die Bewegung, so dass sie nach wie vor einen Meter von ihm entfernt stand und seinen Weg blockierte.
Jorge wehrte sich gegen das Bedürfnis zu versuchen, vernünftig mit ihr zu reden und sich für Franklins mörderischen Anfall zu entschuldigen.
Das feuchte Geräusch aus ihrem Rachen gewann an Intensität und ihm wurde klar, dass sie jeden Moment zu zischen beginnen würde. Er schnellte herum, griff nach einem abgeknickten Ast des umgefallenen Baums und löste ihn mit einem splitternden Knirschen. Der Ast war etwas mehr als einen Meter lang, an ihm hingen noch tote Blätter. Obwohl er unhandlich war, packte Jorge ihn mit beiden Händen und holte aus wie mit einem Baseballschläger.
Aber während er versuchte, das Ziel für seinen Schlag zu fixieren, konnte er sich dem Blick ihrer Augen nicht entziehen. Und als sich dann ihr Mund zu einem O öffnete – und dabei die Unschuld eines Soprans in einem Kirchenchor vermittelte – und sie dieses nervenaufreibende Zischen ausstieß, konnte er nicht mit seiner Waffe in dieses engelsgleiche Gesicht schlagen.
Das Zischen fand ein Echo im Wald, als andere ihrer Art es hörten und darauf antworteten.
Das Funkeln in ihren Augen wurde intensiver, als ob das Zischen einen Motor tief in dem, was auch immer man als ihre Seele bezeichnen mochte, zum Laufen gebracht hätte. Sie zuckte nicht zusammen und zeigte auch sonst keine Reaktion auf seine Drohgebärde. Jorge ließ den Ast fallen und hob die Hände, um zu zeigen, dass er ihr nichts tun wollte.
Sie verstummte unvermittelt. Hätte sie ihre Augen geschlossen gehabt, hätte er nicht gewusst, dass es sich bei ihr um einen dieser seltsamen Mutanten handelte. Dann wäre sie einfach nur ein Kind gewesen, eine Person, die Fürsorge und Anleitung benötigte. Nur eine weitere Person, für die sich Erwachsene mühten, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Nur ... eine .... weitere ... Person.
Aber sie stand zwischen ihm und den Menschen, die er liebte, also war sie der Feind. Er trat einen weiteren Schritt nach rechts. Wenn sie ihm wieder den Weg versperrte, würde er sie aus dem Weg stoßen und davonlaufen müssen.
Sie blieb stehen, wo sie war. Ihr Mund stand offen, ihre Augen waren auf sein Gesicht fixiert.
»Wer bist du?«, flüsterte er.
»Wer?«
Zunächst war Jorge sich nicht sicher, ob er wirklich etwas gehört hatte. Hatte sie gesprochen?
Unmöglich.
Vielleicht ist sie keine von ihnen. Sie sieht so ... normal aus.
Aber ihre Augen waren so seltsam, dass er nicht glauben konnte, dass sie nicht in irgendeiner Weise betroffen war. Dann gab sie ein hohes Zischen tief aus ihrem Rachen von sich und er verwarf den Gedanken – den Wunsch –, dass sie doch noch auf irgendeine Weise menschlich war.
Er ging einen weiteren Schritt, dann noch einen, immer darauf bedacht, keine Hast an den Tag zu legen.
Er wusste nicht, ob das Zischen der anderen aufgehört hatte, denn seine Füße scharrten in den zu Boden gefallenen Blättern. Das Rascheln übertönte alle anderen Geräusche. Zumindest schien keines von den Zapphirnen nahe genug zu sein, um ihn angreifen zu können.
Drei weitere Schritte, dann fünf, dann rannte er wieder, und bald war er sich sicher, dass sie ihn mit diesen gebrechlichen, kurzen Beinen niemals einholen würde.
Nachdem er etwa zwanzig Meter den Berg hochgelaufen war, riskierte er einen Blick zurück. Sie stand da und blickte ihm nach. Ihre Augen waren wie Sonnen im Miniaturformat.
Jorge fragte sich, was mit ihren Eltern geschehen war und ob sie sich bewusst war, dass sie sich verändert hatte. Anstatt sich zu verlieben, auf Popbands zu stehen und sich mit Make-up und Zahnspangen herumzuschlagen, war sie Teil einer neuen Kultur, einer neuen Art des Lebens und Halblebens und Nichtlebens geworden.
In ihrer Welt gab es Hello Kitty nicht mehr.
Er konnte nicht hoffen, dass er das alles jemals verstehen würde. Deshalb tat er das, was er konnte. Er kämpfte sich durch den Wald zur Kammlinie und hoffte, dass er sich nicht verirren würde auf dem Weg zurück zu dem Ort, den er nun sein Zuhause nannte.
Zurück zu den Menschen, die er kannte und liebte.