KAPITEL 2

 

»Wir müssen es töten«, sagte Franklin.

Jorge gefiel die Art nicht, wie der alte Mann sein Gewehr hielt: als könnte er sich nicht entscheiden, ob er schießen oder das Gewehr in den Wald zu ihren Füßen schleudern sollte. Sie befanden sich auf einer Plattform, sechs Meter über dem Boden von Franklins Anlage in den Bergen. Zwei Morgen eingezäunte Wildnis, die er scherzhaft Wheelerville nannte.

Seitdem Franklin Jorge und seine Frau Rosa bei sich aufgenommen und ihnen geholfen hatte, Marina gesund zu pflegen, war Jorge auf der Suche nach einer Möglichkeit gewesen, sich bei dem Mann zu bedanken. Aber Franklin interessierte sich mehr für Mithilfe als für Dankbarkeit. Also hatte Jorge hart gearbeitet und sich um den Garten und die Tiere des Mannes gekümmert. Und Franklin schien zufrieden gewesen zu sein.

Aber nachdem sie die Frau und ihr Baby gerettet und sie hierher in das Lager gebracht hatten, hatten sie feststellen müssen, dass auch das Baby von den gewaltigen Sonnenstürmen, die die Infrastruktur der Welt ausgelöscht hatten, betroffen war.

Das Baby war ein Zapphirn. So die anschauliche Bezeichnung, die sich die Medien für diejenigen ausgedacht hatten, deren Persönlichkeit sich nach den ersten Wellen elektromagnetischer Strahlung verändert hatte. Die Wellen waren schon bald immer intensiver geworden, bis die Sprecher im Fernsehen zunächst von statischem Rauschen und dann durch Dunkelheit ersetzt wurden. Der Strom fiel aus, Automotoren gaben ihren Geist auf und Millionen Menschen starben.

Und nun wollte Franklin weiter töten.

»Es ist nur ein Baby«, sagte Jorge.

»Ich will es nicht in der Anlage haben.« Der alte Mann spuckte von der Plattform und sah zu, wie sein Speichel in einem Bogen in den goldenen Blättern unter ihnen landete. »Es wird mehr von ihnen anlocken.«

»Bislang haben sie uns noch nicht angegriffen.« Als Jorge und Franklin die junge Frau retteten, wurde sie gerade von Zapphirnen verfolgt. Aber mittlerweile war sich Jorge nicht mehr sicher, ob sie die Frau töten oder ihr das Kind wegnehmen wollten.

»Sie sind da draußen. Sie beobachten uns. Sie warten.«

»Glauben Sie, dass die intelligent genug sind zu warten? Die Zapphirne« – Jorge war es immer noch unangenehm, dieses Wort zu benutzen, denn unter anderen Umständen hätte es genauso gut »Bohnenfresser« lauten können – »die mich angegriffen haben, waren hirnlose Killer und sich kaum dessen bewusst, was sie taten.«

»Sie verhalten sich seltsam, das stimmt. Man darf ihnen nicht über den Weg trauen. Mir haben sie besser gefallen, als sie noch verrückt waren. Da wusste man zumindest, woran man war.«

Franklin hob das Fernglas und suchte die sie umgebenden Bergrücken ab. »Rauch.«

»Wo?«

Franklin reichte ihm das Fernglas und zeigte in die Ferne. Jorge fokussierte das Gerät, bis er die dünne Rauchfahne etwa fünfhundert Meter südlich von ihnen aufsteigen sah. »Denken Sie, dass das Zapphirne sind?«

»Nö«, gab Franklin zurück. »Ich wette, es handelt sich um eine Aufklärungspatrouille der Armee. Ich hab Ihnen doch erzählt, dass die hier oben einen Bunker haben.«

»Und Sie haben den Bunker noch nicht gefunden?«

»Die haben ihn gut versteckt. Unter Verwendung Ihrer Steuergelder.« Franklin blickte ihn mit halb geschlossenen Augen an, die lederartige Haut seiner Stirn in Falten gelegt. »Das heißt, falls Sie jemals Steuern bezahlt haben.«

Jorge missfiel die Andeutung des Mannes, dass er ein illegaler Einwanderer und kein Arbeiter mit einem Landwirtschaftsvisum sein könnte. »Ich habe sogar eine private Krankenversicherung.«

»Steuerbetrug ist Patriotismus in seiner Reinform«, verkündete Franklin. »Aber ich vermute, das bedeutet jetzt nicht mehr viel. Ebenso wie Ihre Krankenversicherung.«

Jorge war froh, dass Franklin das Thema gewechselt hatte und nicht mehr über das Baby sprach. Er selbst befand sich aufgrund der Anwesenheit des Babys in einem Zwiespalt. Die Zapphirne, die ihn auf der Farm angegriffen hatten, waren darauf aus gewesen, ihn und seine Familie zu ermorden, und er bereute nicht, sie getötet zu haben.

Aber diejenigen, die die Frau namens Cathy und ihr Baby verfolgt hatten, hatten sich weniger bösartig verhalten und eher eine vorsichtige Neugier zur Schau gestellt. Er war unfähig, den Unterschied in Worten auszudrücken, und bezweifelte sowieso, dass es Franklin kümmern würde.

Das Baby war viel zu klein, um Schaden anrichten zu können, und von Zapphirnen schien keine Gefahr einer Ansteckung auszugehen. Andererseits konnte die Anwesenheit des Babys vielleicht irgendwie andere Zapphirne anziehen, wodurch Rosa und Marina in Gefahr geraten würden. Seine Familie befand sich in diesem Augenblick in der Hütte mit Cathy und ihrer funkeläugigen kleinen Kreatur.

Jorge wollte Franklin gerade fragen, was sie mit dem Baby tun sollten, da hob der alte Mann die Hand, um ihn am Reden zu hindern, und deutete in den Wald.

Zuerst sah Jorge nichts, aber dann begann das goldbraune Laub zu schimmern. Das Muster wurde unterbrochen, etwas bewegte sich. Er dachte zunächst, dass es sich um die Pferde handelte, auf denen sie von der Wilcox Farm aus in die Berge geritten waren. Sie hatten die Tiere in der Wildnis zurücklassen müssen, weil es in der Anlage nicht genug Futter für sie gegeben hätte.

Aber diese Bewegung war weder das Schlagen eines Schweifs noch das Stampfen eines Hufes.

Eine menschliche Gestalt bewegte sich lautlos zwischen den Bäumen, mit langsamen, bedächtigen Schritten, ganz so, als ob sie das Rascheln des Laubteppichs vermeiden wollte. Einen Augenblick lang war ein Fleck rot-karierten Flanells sichtbar, dann war die Gestalt wieder in den Schatten verschwunden.

»Einer von denen?«, fragte Jorge mit leiser Stimme.

Franklin hob sein Gewehr und blickte durch das Zielfernrohr. »Entweder das oder irgendein Hippie hat sich den falschen Ort für einen Waldspaziergang ausgesucht.«

»Wenn Sie schießen, werden die wissen, wo wir sind.«

Franklins Grinsen offenbarte seine gelben, schiefstehenden Zähne. »Nun, die Jungs von der Truppe wissen es vermutlich schon und die Zapper werden uns früher oder später auch finden.«

»Ich dachte, Sie wollen nicht töten.«

Franklin hielt den Gewehrlauf für einige Sekunden still, dann senkte er ihn. »Keine vernünftige Sicht.«

Jorge blickte auf den Südhang, wo sich dicke Stränge Giftefeu um die Stämme von Buchen und Pappeln rankten. Die Blätter der Pflanze hatten eine alarmierend leuchtend rote Farbe. Eine weitere Gestalt bewegte sich dort, ebenfalls mit wohlüberlegter List. Jorge wies Franklin nicht auf die Gestalt hin, aber Franklin stieß einen leisen Pfiff aus.

»Verdammt, da ist noch eine.« Franklin deutete nach Osten, wo Jorge deutlich eine Frau in einem hellbraunen Trenchcoat sehen konnte. Ihre entblößten Füße versanken im Moos, während sie über einen steinigen Hügel tapste. Sie bewegte sich parallel zum Zaun der Anlage, obwohl sie mindestens fünfzig Meter von ihm entfernt war.

Jorge wandte den Blick nach Süden, wo er eine weitere Gestalt bemerkte.

»Sie kreisen uns ein«, stellte Franklin fest. »Hab keine Ahnung wieso.«

»Dann wissen die, dass wir hier sind.«

Franklin nickte. »Die Jagdsaison ist eröffnet.«

»Sie wissen nicht, was die wollen.«

»Und der Versuch, es herauszufinden, könnte uns umbringen.«

»Sie haben gesagt, dass der Zaun sie aufhalten wird.«

Franklin blickte stirnrunzelnd hinab in das Innere seiner Anlage, wo der Gemüsegarten noch im Grün stand. Die Hütte und der Schuppen lagen unter Bäumen und waren aus der Ferne nur schwer auszumachen, obwohl die Bäume bereits ihr Herbstlaub verloren. Der untere Teil des Maschendrahtzauns, der die Anlage umgab, war dicht mit Ranken und Gestrüpp bewachsen und verbarg so die Gebäude noch zusätzlich.

»Ich hab das Material mit einem Geländefahrzeug hier hoch geschafft«, verkündete Franklin. »Hat mich zwei Jahre gekostet, das hier zu bauen. Ich werde es nicht kampflos aufgeben.«

Jorge war gereizt. »Warum würden die Zapphirne Ihre Anlage wollen? Sie ist ihnen egal.«

»Vielleicht wissen sie, dass das Baby hier ist.«

»Aber Sie haben gesagt, dass sie uns nicht gefolgt sind.«

»Sie haben gesehen, wie sich die Zapper verhalten. Unmittelbar nachdem uns die Sonne in die Augen gespuckt hatte, sah ich einen da unten auf der Straße, wie er einen Kerl aus seinem Auto geholt hat, nachdem sie zusammengestoßen waren. Damals dachte ich noch, dass es sich nur um einen Bekloppten handelte, der durchdreht, weil jemand seine Karre beschädigt hat. Aber der Zapper hat diesen großen, fetten Kerl angesprungen und ihn zu Boden gerissen wie eine Wildkatze ein Reh. Seinen Kopf auf den Asphalt gehämmert, bis er aussah wie eine Wassermelone, die vom Gabelstapler gefallen ist.«

»Und Sie haben ihm nicht geholfen?«

Franklin verdrehte die Augen unter seinen dicken, grauen Brauen. »Machen Sie Witze? Ich mische mich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Außerdem war es vorbei, bevor ich überhaupt daran denken konnte. Erinnern Sie sich nicht mehr, wie es am Anfang war?«

Der Anfang. Als ob es Genesis wäre, die Entstehung eines neuen Schöpfungsmythos. »Alle Menschen auf der Wilcox Farm sind tot umgefallen. Außer uns.«

»Also haben Sie keine Verrückten gesehen?«

»Nicht in den ersten Tagen. Und dann ...« Jorge erinnerte sich, wie er seinen Arbeitskollegen Willard auf dem Heuboden der Scheune entdeckt hatte. Der wütende Griff des Mannes, mit dem er Jorge gepackt hatte, und die irren, funkelnden Augen, die ihn zuerst unheimlich, dann gefährlich angestarrt hatten. Jorge hatte den Arm des Mannes am Handgelenk abhacken müssen, um sich zu befreien. Aber er legte keinen Wert darauf, den Vorfall zu erzählen, denn dann würden die bildhaften Einzelheiten wieder aus dem Tal der Erinnerung emporsteigen. »Doch, wir haben die Veränderungen bemerkt.«

»Ja«, sagte Franklin, der durch das Unbehagen auf Jorges Gesicht befriedigt war. »Veränderungen. Erinnern Sie sich noch, wie diese dumpfbackigen Politiker immer ›Veränderung‹ in ihren Wahlslogans verwendeten? Und dann, wenn sie gewählt waren, wurde der Slogan plötzlich zu ›Keine Veränderung«. Nun, wir haben unsere Veränderung bekommen. Ich hoffe, dass auch der letzte von diesen glotzköpfigen Hurensöhnen direkt in der Hölle gelandet ist. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass die sich wie ihre Kumpel von der Armee eingebunkert haben und nun im Luxus schwelgen.«

Jorge beobachtete den Wald und nahm Bewegungen beim Giftefeu wahr. Noch ein Zapphirn, das die Anlage im gleichen Abstand wie die anderen umkreiste. »Was soll das?«

»Sieht aus, als ob sie uns belagern.«

»Aber sie greifen nicht an. Sie kommen nicht einmal näher.«

»Wenn sie noch etwas Hirn haben, werden sie vielleicht versuchen, uns zu belauern.«

»Weshalb?«

»Um zu warten, bis wir etwas Dummes tun. Rausgehen, damit sie uns anspringen können. Oder Lagerkoller bekommen und versuchen zu fliehen.«

»Dann sehen sie nicht, dass wir Essen und Vorräte für Jahre haben?«

»Nun, das war unter der Annahme, dass sie noch ein bisschen Hirn haben. Könnte auch sein, dass sie so dumm sind, wie sie aussehen, und nicht in der Lage sind, das Tor zu finden.«

Jorge bezweifelte, dass das Tor standhalten würde, wenn sich drei oder vier Zapphirne gleichzeitig dagegenwerfen würden. Aber Franklin schien sich keine Sorgen zu machen.

»Haben wir genug Munition, um sie fernzuhalten?« Jorge fand keinen Gefallen an dem Gedanken, auf sie schießen zu müssen. Es wäre zu sehr wie ein Abschlachten. Aber wenn Rosa und Marina in Gefahr gerieten, würde er freudig jeden niederknallen, der es wagte, die Anlage zu betreten.

»Ich denke nicht, dass es so weit kommen wird«, meinte Franklin.

»Warum nicht?«

»Wenn sie anklopfen, werde ich ihnen das Baby geben.«