KAPITEL 16

 

Campbell konnte nicht glauben, was er sah.

Wilma hatte ihn tief in den Wald geführt. Dann gelangten sie unvermittelt an den Rand einer wunderbaren Wiese, auf der orangerote Springkräuter, gelbe Astern und Gänseblümchen um die Wette strahlten. Ein Stacheldrahtzaun markierte die Grenze der ländlichen Idylle, am Fuße des Abhangs befand sich eine rote Scheune. Ein Feldweg führte den gegenüberliegenden Hügel hinauf zu einem zweistöckigen Farmhaus mit schwarzen Fensterläden und hohen Säulen an der Veranda. Ein alter Ford Pick-up stand unter einem Blechdach, gemeinsam mit einem Traktor und diversen landwirtschaftlichen Gerätschaften, darunter eine Scheibenegge, ein Pflug und eine Heuballenpresse.

Es schien wie eine Ansichtskarte aus einer vergangenen Ära, ein nostalgischer Blick auf eine Lebensart, die niemals existiert hatte.

»Wenn wir nicht gerade das Ende der Welt hätten, würde ich denken, dass ich gestorben und im Himmel gelandet bin«, sagte er.

Wilma lehnte sich gegen einen Robinienpfosten und verschnaufte. »Die Kühe sind alle gestorben, sonst hätten sie die Wiese kahl gefressen.«

»Wie weit sind wir von der Schnellstraße entfernt?«

»Ungefähr drei Meilen. Der Feldweg führt an sechs anderen Höfen vorbei, die genauso aussehen. Das hier ist das Ende des Wegs.«

Campbell wusste nicht, wie er die nächste Frage stellen sollte. Die Frau schien sich keine größeren Sorgen wegen der Zapphirne gemacht zu haben, als sie ihn durch den Wald führte. Campbell hatte für sie beide aufgepasst, aber er hatte nicht einmal einen verirrten Blauhäher gesehen.

»Das sieht wie ein sehr massives Haus aus. Warum lebst du nicht hier anstatt in–«

»Anstatt in diesem vermüllten kleinen Wohnwagen?« Sie spuckte auf eine Staude Kermesbeeren. Der Klumpen geronnenen Speichels blieb an einigen der indigofarbenen Früchte hängen.

»So hab ich das nicht gemeint.«

»Ich kenne Typen wie dich. Hochnäsige Kerle, die aufs College gehen und die New York Times lesen und denken, dass sie wissen, was gut für alle anderen ist. Wenn die Kacke nicht übergekocht wäre, wär aus dir ein Anwalt geworden. Du hättest dich in den Stadtrat wählen lassen und dann hättest du Zonen geschaffen und Regeln, an die sich alle anderen zu halten haben. Weil du eigentlich nur willst, dass alle Menschen so leben wie du.«

»Es–es tut mir leid. Es ist nur ... niemand weiß, wie wir überhaupt noch leben sollen.«

»Und das macht dich wütend, ja?«

»All das macht mir nur klar, wie verletzlich wir sind«, sagte er, obwohl er wusste, dass philosophische Debatten jetzt genauso überflüssig waren wie immer. »Die Menschen, die wir lieben, die Strukturen, an die wir glauben, unsere Investitionen in die Zukunft.«

»Etwas Hirn ist alles, was wir brauchen.« Sie brach einen der mit Blättern bewachsenen Stängel von der Kermesbeerenstaude ab. »Wusstest du, dass man die essen kann? Reich an Vitaminen. Aber die Beeren selbst befördern dich direkt ins Grab. Die Menschen haben das gewusst, aber sie vergaßen es, als sie anfingen, sich lieber auf ›Strukturen‹ zu verlassen als auf sich selbst.«

Sie gab ihm ein Blatt und er roch misstrauisch daran. Sie lachte. »Im Herbst sind sie bitter wie schwarze Galle. Man muss sie im Frühjahr essen, wenn sie jung und zart sind. Genau wie Löwenzahn und Lauch. Reinigt einen durch nach einem langen Winter.«

Campbell überlegte, ob sie wieder zum Wohnwagen zurückkehren konnten, bevor es dunkel wurde. Ihm gefiel der Gedanke nicht, unbewaffnet zu sein, wenn die Nacht anbrach, und er fragte sich, ob es womöglich ein Fehler gewesen war, Wilma zu vertrauen. Vielleicht war sein erster Eindruck richtig gewesen und sie war geisteskrank.

»Sollten wir uns nicht auf den Rückweg machen?«, fragte er.

»Ich dachte, du wolltest sie sehen?«

»Wo sind sie?«

Wilma nickte in Richtung Haus.

»Sie sind da drinnen?«, wollte er wissen.

»Hinter dem Haus.«

»Also schleichen wir uns am Zaun entlang und beobachten sie von den Bäumen aus?«

»Nein. Wir gehen einfach direkt zu ihnen.«

Sein Verdacht war richtig gewesen. Sie war verrückt. »Wir sind unbewaffnet.«

Sie stellte einen Fuß auf den unteren Strang des Stacheldrahts und hob den oberen in die Höhe, bevor sie sich mit der Anmut einer vollgefressenen Ziege durch die Öffnung schob. Von der anderen Seite des Zauns aus sagte sie zu ihm: »Wie du willst.« Dann begann sie, über die Wiese zu gehen.

Campbell blickte zurück in den Wald, wo die zunehmende Dunkelheit Unheil anzukündigen schien. Er stieg über den Zaun und eilte ihr nach.

Als er sie einholte, sagte sie: »Was auch immer du tust, bleibt ruhig und zeige keine Angst.«

»Wie soll das gehen? Zapphirne erschrecken einen zu Tode.«

»Es ist die einzige Möglichkeit. Darum sind Waffen nutzlos. Sie sind in der Überzahl, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.«

Campbell dachte über seine Erlebnisse während der letzten Wochen nach. Er hatte sich an die Illusion geklammert, dass die Menschen noch immer an der Spitze der Nahrungskette standen. Dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie sich organisierten und die Strukturen wieder herstellten. Aber was wäre, wenn es vorbei war? Was, wenn sie die Neandertaler waren, die dem Homo Sapiens Platz machen mussten, oder die Dinosaurier, die den Säugetieren wichen? Ihm gefiel dieser Gedanke nicht, aber seit den Sonnenstürmen war er sehr viel mehr Zapphirnen begegnet als Überlebenden.

»Wir sind klüger als die«, sagte Campbell mit trotziger Wut.

»Denk nur weiter so und bald bist du Hackfleisch.«

Sie kämpften sich durch die Wiese Richtung Haus. Das Gras reichte ihnen bis zu den Knien und Campbell versuchte, nicht daran zu denken, dass sich dort unten am Boden Schlangen und Nagetiere tummeln konnten. Als sie sich dem Haus näherten, signalisierte Wilma ihm, langsamer zu gehen und zu schweigen.

Hab keine Angst. Hab keine Angst.

Die Wiederholung des Mantras trug nicht wirklich dazu bei, seine Angst zu verringern. Aber er musste zugeben, dass er neugierig war. Wenn sich die Zapphirne tatsächlich auf dieser Farm versammelt hatten, würde er zum ersten Mal Gelegenheit haben, sie zu beobachten, ohne vor ihnen flüchten oder sie bekämpfen zu müssen.

Als sie an der Scheune vorbeigingen, bemerkte Campbell, dass die hohen Holztore weit offen standen. In der zähen Dunkelheit im Inneren konnten sich blutrünstige Zapphirne verbergen. Er erwartete fast, dass eine Meute von ihnen aus der Scheune hervorbrechen und ihn in Stücke reißen würde. Aber dann hatten sie die Scheune hinter sich gelassen und stiegen den Hügel zum Haus hinauf. Sie kletterten noch einmal über den Zaun, um in den Hof vor dem Haus zu gelangen.

Campbell beschloss, dass er im Fall eines Angriffs der Zapphirne den Feldweg entlang fliehen würde. Aber er würde Wilma nicht im Stich lassen können, auch wenn sie vermutlich besser als er in der Lage wäre, sich gegen die brutalen Killer zur Wehr zu setzen.

Klingt, als ob du planst, Angst zu haben.

Campbell konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie durch die Fenster von Zapphirnen beobachtet wurden. Aber er hielt Schritt mit Wilma, die so zielstrebig ging, als ob sie den Weg schon öfters zurückgelegt hätte. Bald standen sie vor den Stufen zur Veranda.

»Gehen wir rein?«, fragte Campbell.

Wilma grinste, in ihren Augen funkelte der Schalk. »Wir müssen nicht reingehen. Wir sind schon mittendrin.«

Erst jetzt blickte Campbell zurück zur Wiese. Vor dem Hintergrund der länger werdenden Schatten des umliegenden Waldes leuchteten unzählige winzige Funken. Drei von ihnen näherten sich auf der Zufahrt, andere Schemen hielten sich bei den Farmmaschinen verborgen.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Sie waren von Zapphirnen umzingelt.