KAPITEL 5
Campbell folgte den Soldaten eine halbe Meile weit und schlich sich dabei von Fahrzeug zu Fahrzeug. An den Stellen, an denen die Schnellstraße relativ leer war, sprang er entweder in den Straßengraben, nutzte die Leitplanke, um sich zu verbergen, oder schlüpfte durch das Unterholz neben der Straße.
Die Soldaten schienen sich nicht darum zu kümmern, ob sie verfolgt oder angegriffen wurden. Ihre Erfahrung oder ihre Waffen – vielleicht auch beides zusammen – machten sie mutig. Der Dürre verhielt sich eher unstet. Er hielt immer wieder an, um sich zu orientieren oder um eine weitere Zigarette anzuzünden. Bürstenhaarschnitt ging in gleichmäßigem Tempo und sorgte dafür, dass der Gefangene mit ihm Schritt hielt.
Campbell war sich nicht einmal klar darüber, warum er ihnen folgte. Vielleicht war es nur eine Ablenkung von seiner Verzweiflung. Er dachte nicht daran, der Gruppierung beizutreten, der die Soldaten angehörten, selbst wenn sie ihn aufnehmen würden. Er hatte genug Erfahrungen mit Gruppen gesammelt: Zuerst mit Arnoffs bunt zusammengewürfelter Miliz und dann mit der kultischen Armeeeinheit, aus deren Fängen Rachel und DeVontay in Taylorsville den kleinen Stephen befreit hatten. Campbell war sich sicher, dass eine dieser Gruppen für die Ermordung Petes verantwortlich war.
Aber er konnte den Gedanken an den »Meilenstein 291«, von dem Pete vor seinem Tod geredet hatte, nicht verdrängen. Dort, am Blue Ridge Parkway, befand sich angeblich ein Militärbunker. Arnoff hatte ihn wie eine Utopie beschrieben, eine Zapphirn-sichere Zuflucht mit heißer Dusche, eisgekühlten Getränken und Flatrate-Büfett.
Campbell konnte nicht glauben, dass die Regierung speziell für den Fall eines derart unvorhersehbaren Ereignisses, wie es ein verheerender Sonnensturm war, besondere Vorkehrungen getroffen hatte. Er vermutete eher, dass sich die Vorbereitungen nicht allzu sehr von denen für einen Atomkrieg unterschieden.
Vielleicht würde er Meilenstein 291 nie erreichen. Aber seitdem er die Schnellstraße US 321 nach Norden ging, hatte er weniger Menschen und noch weniger Zapphirne getroffen. Und die Verfolgung dieser Soldaten hatte zumindest die Pete-Stimme in seinem Kopf zum Schweigen gebracht.
Nach einer Stunde legten die Soldaten eine Rast ein. Bürstenhaarschnitt kletterte auf das Dach eines weißen Kleinlasters, um die Umgebung zu erkunden. Der Gefangene war auf der Motorhaube eines Autos zusammengesackt, mit dem Gesicht nach unten und den zusammengebundenen Händen auf dem Rücken. Der dürre Soldat öffnete die Fahrertür einer gelben Limousine und zog eine verrottende Leiche heraus, bei der es sich, dem modischen Rock und der Bluse nach, einmal um eine junge Frau gehandelt haben musste.
Der Dürre jauchzte und wirbelte sie herum, als ob er mit ihr tanzte, obwohl er kaum in der Lage war, ihr Gewicht zu tragen. Ihr steifes gelbes Haar fiel über seine Schulter, eine Haarspange spiegelte das Sonnenlicht, als sie eine groteske Drehung machte.
»Hey, Süße, du bist genau mein Typ«, verkündete der Soldat affektiert. »Du quatschst nicht und du sagst nie nein.«
Campbell, der durch die Leitplanke spähte, überlegte sich erneut, ob er auf die Soldaten schießen sollte. Bürstenhaarschnitt gab eine mustergültige Zielscheibe ab, wie er hochgeschossen dort vor dem grau werdenden Himmel stand. Sein Partner kümmerte sich nicht um mögliche Gefahren und stieß stattdessen obszön seine Hüften gegen die Leiche.
»Man merkt einfach, dass du zu lange keinen Mann hattest«, stellte der Dürre fest. Er hob den Rock der toten Frau und entblößte fleckige, blaue Haut.
»Hey, Jonesy, guck dir das an«, rief er Bürstenhaarschnitt zu.
»Wenn uns das Zapphirn entkommt, ist dein Arsch Gras und ich bin die Motorsense«, antwortete Bürstenhaarschnitt.
»Einhundert Prozent erstklassiges Rindfleisch.« Der Dürre schlug der toten Frau auf den Hintern. Das ekelerregende, flüssige Geräusch brachte Campbells Magen in Aufruhr, aber trotz seines Entsetzens konnte er den Blick nicht abwenden.
Warum flüchtet der Gefangene nicht?
Aber Campbell wusste, warum. Weil es sich um ein Zapphirn handelte.
Warum greift es sie dann nicht an?
Bürstenhaarschnitt kletterte vom Kleinlaster. Dem Dürren wurde langweilig und er drückte seine Tanzpartnerin ein letztes Mal, bevor er sie von sich stieß. Sie fiel wie ein Bündel feuchter Wäsche in sich zusammen und verursachte ein widerwärtiges Platschen, als sie auf dem Asphalt landete.
»Ich war nie der Typ, der sie sanft fallen lässt«, verkündete der Soldat.
Bürstenhaarschnitt stieg über die Leiche hinweg, ohne hinabzublicken. »Aufsatteln, Romeo. Und vergiss nicht, dir vor dem Abendessen die Hände zu waschen.«
»Es ist keine Infektion. Der Klugscheißer hat gesagt–«
»Und du nimmst ihn beim Wort? Blick dich mal um.«
Campbell duckte sich, um nicht entdeckt zu werden. Er fragte sich, was er tun würde, wenn sie ihn sähen. Würde er davonrennen? Schießen? Sich ihnen anschließen?
Er fühlte sich plötzlich albern und ungeschützt. Sein Pulsschlag hämmerte so laut in seinen Ohren, dass er die Antwort des dürren Soldaten fast nicht hörte.
»Na und? Nur ein Haufen Wracks und Leichen.«
»Und du denkst, das ist alles nur ein Unfall?«
»Klar. Die Sonne ist schuld. Das weiß doch jeder.«
»Niemand weiß irgendwas. Denk immer daran. Dann schaffst du es vielleicht noch bis zum nächsten Sonnenaufgang.«
Bürstenhaarschnitt stampfte los und Campbell riskierte einen Blick. Der Soldat packte seinen Gefangenen, der sich, seitdem er auf der Motorhaube abgelegt worden war, kaum bewegt hatte. Er schubste ihn vorwärts. Der Dürre zündete sich eine Zigarette an und eilte ihnen nach. Campbell wartete, bis der Abstand noch einmal fünfzig Meter größer geworden war, dann folgte er ihnen vorsichtig.
Die Abenddämmerung senkte sich über die Gebirgsausläufer und verhüllte die herbstlichen Baumkronen, als die Soldaten die Schnellstraße verließen und in einen Feldweg einbogen. Die Zahl der liegengebliebenen Fahrzeuge war mittlerweile deutlich geringer geworden. Glücklicherweise war der Wald hier dicht mit Kiefern, Robinien und Holzapfelbäumen bewachsen, ganz so, als ob das Land eine Generation zuvor bewirtschaftet und dann wieder sich selbst überlassen worden war.
Ein großer Wohnwagen mit Veranda stand direkt neben dem Weg. Zwei zerlumpte Fahnen – die Flagge der Konföderationsstaaten über dem Sternenbanner – hingen an einem Mast neben der Vordertür. Ein schrottreifer Hot Rod befand sich vor dem Wohnwagen. Die Motorhaube war abgenommen, der Motor hing an einer Kette, die um einen hölzernen Ausleger gewickelt war. Ein kleines Kinderplanschbecken war mit einer schwarzen Suppe aus gefallenem Laub gefüllt, der kleine Vorgarten mit Müll, Plastiktüten und Fastfood-Verpackungen gespickt. Die meisten Verpackungen in der Welt hatten die Dinge, die in ihnen enthalten gewesen waren, überlebt. Und auch die Menschen, die diese Dinge konsumieren sollten.
Die Soldaten hielten bei dem Wohnwagen an und Campbell fragte sich, ob es sich um ihr Lager handelte. Er hätte erwartet, dass mehr von ihnen dort sein würden. Eine Einheit ähnlich jener am Ortsrand von Charlotte. Aber vielleicht waren die beiden hier die letzten Überlebenden. Ihm fiel kein Grund dafür ein, weshalb Armeeangehörige bessere rechnerische Chancen gehabt haben sollten, die Sonnenstürme zu überleben, als Zivilisten.
Falls nicht, wie Bürstenhaarschnitt angedeutet hatte, mehr dahinter steckte, als man auf Anhieb erkennen konnte.
Während er in der Dunkelheit des Waldes kauerte, wartete Campbell darauf, dass sie weitergingen. Der Gefangene mit den verbundenen Augen versteifte sich, bewegte sich dann plötzlich ruckartig und hätte sich fast aus dem Griff von Bürstenhaarschnitt befreit. Der Dürre zögerte keinen Moment, dem Gefangenen mit dem Kolben seines Gewehrs in den Rücken zu stoßen.
»Langsam, Zapper«, sagte er mit einem Grunzen. Der Gefangene zuckte noch immer vor plötzlicher Unruhe und versuchte, sich aus seinen Fesseln zu befreien.
»Hörst du das?«, fragte Bürstenhaarschnitt.
Der Dürre stand für einen Moment still, dann schüttelte er den Kopf. »Nö.«
»Da stimmt was nicht.«
»Hört sich an wie die Nacht.«
Campbell spitzte die Ohren und fragte sich, ob Bürstenhaarschnitt vielleicht Hundegebell, Hilferufe oder einen fernen Schrei gehört hatte.
»Hör auf das, was hinter den Geräuschen ist.«
»Bist du plötzlich ein Zen-Meister, oder was?« Aber der Dürre wurde wieder still. Und diesmal hörte Campbell es auch.
Was er für Insekten gehalten hatte, war in Wirklichkeit etwas Anderes. Klar, da waren Grillen und Nachtvögel und flatterndes Flügelschlagen, aber auch noch eine andere Art von Geräusch. Es klang seltsam, aber auch verstörend vertraut. Und dann erinnerte sich Campbell an die Zapphirnfrau, die ihn aus dem Heckteil eines Kastenwagens heraus angesprungen hatte. Sie hatten ihr den Schädel einschlagen müssen und Campbell war aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit seiner Mutter schlecht geworden.
Nun hörte er dasselbe glucksende Geräusch, nur dass es nicht nur aus einem einzigen Rachen kam. Vielmehr klang es so, als ob es aus mindestens einem Dutzend Kehlen stammte.
Die beiden Soldaten hoben ihre Waffen und drehten sich langsam im Kreis, während sie versuchten zu bestimmen, woher das Geräusch kam. Es kam von überall her.
»Was ist das?«, fragte der dürre Soldat, dessen Stimme sich aufgrund der Nervosität, die er nicht völlig unterdrücken konnte, leicht überschlug.
»Niemand weiß irgendwas.« Bürstenhaarschnitt klang ruhig. Trotzdem klickte ein Mechanismus seines Sturmgewehrs. Der Gefangene stand nun still, den Kopf zurückgeworfen, ganz so, als ob er lauschen würde.
Zur Linken Campbells knackte ein Zweig. Er hoffte, dass die Soldaten nicht in Panik geraten und losschießen würden. Er duckte sich tiefer ins Unterholz und zog die Pistole aus seinem Rucksack.
Die Tonhöhe des glucksenden Geräusches stieg an und entwickelte sich zu einer klagenden Schwingung, die die Atmosphäre des Waldes durchbohrte. Der Kontrast verdeutlichte Campbell, wie tief die Stille der Welt nach dem Untergang eigentlich war – er hatte sich an das Fehlen von Motorgeräuschen, Radiosendungen, Kettensägen und Polizeisirenen gewöhnt. Nun wirkte die plötzliche Störung des Friedens fast schon schockierend. Er wiederholte Bürstenhaarschnitts Slogan: »Niemand weiß irgendwas.«
Er hatte eine sehr beschränkte Sicht auf die Ereignisse seit dem Sonnensturm – diese neue Phase der Evolution, die die Frau namens Rachel als »das Danach« bezeichnet hatte. Er war zu dem Schluss gelangt, dass die Zapphirne blutrünstige, hirnlose Mörder und die Mitüberlebenden verzweifelte, potenzielle Mörder waren, und sie sich alle gemeinsam in einem Eintopf aus verrottenden Leichen und kaputter Technologie befanden.
Aber wenn es zu einer größeren Veränderung kam, würde das Militär nicht die stärkste organisierte Macht darstellen? Würde die strikte Kommandostruktur nicht bessere Chancen haben, das Chaos zu überstehen, und würden die Kommandeure nicht die umfangreichsten Informationen über den gegenwärtigen Zustand der Dinge haben?
Und ist das nicht der Grund, warum ich sie verfolge? Um Antworten zu bekommen?
»Wer auch immer ihr seid, haltet euch besser fern«, schrie der Dürre den Bäumen zu. »Sonst werd’ ich euch in Stücke schießen.«
Bürstenhaarschnitt schnaubte. »Auch wenn sie dich hören können, werden sie nicht auf dich hören.«
Das Glucksen war nun fast schon zu einem flüssigen Zischen geworden, wie feuchte Luft, die aus einem Dutzend durchstochener Reifen entwich. Die Soldaten zogen sich langsam zur Veranda des Wohnwagens zurück, entweder instinktiv oder aus unausgesprochenen taktischen Erwägungen.
Sie ließen ihren Gefangenen am Feldweg zurück, wo er sich langsam im Kreis zu drehen begann, den Kopf nach links und rechts neigend. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, es entwich aber nur ein Blutfaden daraus.
Hinter Campbell bewegten sich Zweige, gefolgt von dem gedämpften Geräusch aufgewirbelter Blätter auf dem Waldboden. Er drückte sich mit dem Rücken an den Stamm einer Eiche. Der Widerstand der unebenen Rinde erhöhte seine Wahrnehmungsfähigkeit.
Er atmete durch den Mund, um besser hören zu können. Zwischen den Bäumen konnte er sehen, dass der Himmel mit der herannahenden Abenddämmerung eine aschgraue Farbe angenommen hatte, während sich zu Füßen der Bäume Schwärze sammelte. Die Nacht stieg eher empor, als dass sie sich herabsenkte; sie kroch aus den versteckten Poren der Erde.
Campbell hatte keine Hoffnung, dass, sollte sich irgendetwas in dieser Schwärze bewegen, er es erkennen würde.
Ein dumpfes metallisches Geräusch drang von der Lichtung herüber, gefolgt von einem weiteren. Bürstenharschnitt, noch immer mit einer tödlichen Ruhe, sagte: »Hör auf zu klopfen. Keiner Zuhause, Blödmann.«
Der Dürre klopfte noch zwei Mal an die Tür des Wohnwagens, bevor er mit dem Kolben seines Gewehrs auf den Türgriff einschlug. »Vielleicht sollten wir die Flucht ergreifen.«
»Wir haben unsere Befehle.«
»Niemand hat uns befohlen, getötet zu werden.«
Obwohl Campbell in der tiefschwarzen Finsternis des Waldes nichts erkennen konnte, war er in der Lage, die Bewegungen um sich herum zu spüren. Der Vorgarten des Wohnwagens war groß genug, um die letzten vereinzelten Strahlen des Sonnenuntergangs einzufangen. Bürstenhaarschnitt stand auf der Veranda und hob sein Sturmgewehr.
Das Zischen steigerte sich zu einem schwankenden Höhepunkt und schien von überall her zu kommen.
In die Abenddämmerung barst das Stakkato eines Feuerstoßes mit drei Schüssen.
Auf der Brust des Gefangenen breitete sich ein roter Fleck aus. Er stolperte zwei Schritte nach vorne, dann brach er zusammen.
Das Zischen wich sofort einer bedrückenden Stille.