KAPITEL 27
»Tja«, sagte Franklin. »Wenn es das ist, wofür all die Jahre mein Geld verschwendet wurde, hätte ich bei der Steuer wohl noch mehr bescheißen sollen.«
Jorge war nicht in Stimmung für den Galgenhumor des alten Mannes. Das Einzige, woran er denken konnte, war, dass sich seine Frau und seine Tochter irgendwo da draußen befanden, wo sie Gefahren und Ungewissheit ausgesetzt waren. Und er war hilflos.
Die Soldaten hatten sie mindestens fünf Meilen durch den Wald marschieren lassen, bis sie an einen riesigen Felsvorsprung gekommen waren. Jorge war überzeugt gewesen, dass die Soldaten sie dort erschießen und als Mahlzeit für die Bussarde zurücklassen würden, vor allem weil Franklin unaufhörlich fluchte und nicht müde wurde, die Soldaten zu provozieren.
Stattdessen wurden sie in einen engen Felsspalt geführt, der sich im Fels zu einer geräumigeren Gasse erweiterte. An ihrem Ende befand sich eine dicke Stahltür, die mit Beton in den Felsen eingemauert war. Franklin hatte es als »Hitlers Versteck« bezeichnet, wofür Sarge ihn in den Bauch geschlagen hatte. Franklin war auf den Betonboden gestürzt, wo er eine ganze Minute lang hustete und lachte, bis Sarge ihm gegen den Kopf trat und er das Bewusstsein verlor.
Jorge hielt den Mund. Daher ließen sie ihn weitgehend in Ruhe, obwohl er die kalten Stahlwände, die rostigen eisernen Stützbalken, die das Gewicht der Erde über ihnen trugen, die Spinde und die Regale mit Ausrüstung aufmerksam registrierte. Eine Kette trüber Glühbirnen erhellte den Korridor mit nur wenig mehr Leuchtkraft als die Beleuchtung an einem Weihnachtsbaum. Entlang des Ganges gab es ungefähr zwanzig kleine Räume. Im ersten befand sich ein Schreibtisch mit Funkgeräten darauf, die aussahen, als seien sie ausgeschlachtet und dann aus Frustration zertrümmert worden. Ein weiterer großer Raum mit Wänden aus Betonziegeln war von uniformierten Männern belegt, die an kleinen Tischen Karten spielten, Zigaretten rauchten oder Zeitschriften lasen. In den meisten der anderen Zimmer befanden sich Stockbetten.
In eines dieser Bette war Franklins regloser Körper gelegt worden. Sie hatten Jorge befohlen, sich ebenfalls in den Raum zu begeben, und dann die Tür von außen verschlossen und verriegelt. In der Tür befand sich ein kleines Gitterfenster, durch das er ein paar Meter den Gang entlang in beide Richtungen sehen konnte. Ein kleiner Spalt in der Nähe des Bodens diente als Öffnung für Essen; ein Metalleimer war offensichtlich als Toilette gedacht.
Jorge war sich nicht sicher, wie lange er schon gegrübelt hatte, als Franklin auf dem schmalen, unbequemen Bett stöhnte. Der Raum wurde von einer einzigen schwachen Glühbirne beleuchtet, die kaum mehr als die Mitte des Zimmers erhellen konnte. Jorge vermutete, dass sie von einem System aus Sonnenkollektoren, ähnlich dem Franklins, mit Strom versorgt wurde, obwohl er manchmal ein tiefes Trommeln hörte, das von einem benzinbetriebenen Generator stammen konnte. Er nahm an, dass es den Soldaten gelungen war, Ausrüstung vor den Auswirkungen der Sonne zu schützen, ebenso wie Franklins Faradaykäfig sein Funkgerät und seine Batterien geschützt hatte.
Franklin taumelte zur Tür und zerrte an dem kleinen Gitterfenster, als ob er es herausreißen wollte, obwohl die Öffnung, selbst wenn er Erfolg gehabt hätte, viel zu klein für ihn gewesen wäre um hindurchzuklettern.
»Hey, ich will meinen Anwalt anrufen!«, brüllte Franklin in den Gang hinaus. Seine Worte wurden von den Betonoberflächen zurückgeworfen.
»Sie sollten sparsam mit Ihren Kräften umgehen«, sagte Jorge.
»Ach, kommen Sie, Jorge«, erwiderte Franklin. »Sie nehmen den Scheiß hier doch nicht wirklich ernst, oder?«
In den Augen des Mannes funkelte gute Laune. Jorge konnte ihn nicht verstehen. Aber der Mann hatte keine Familie, um die er sich Sorgen machen musste. Vielleicht war er erleichtert, seiner Zwiespältigkeit enthoben zu sein und die Gelegenheit zu erhalten, als Märtyrer für seine Sache zu sterben. Immerhin bestätigte die tyrannische Behandlung alles, was Franklin jemals geglaubt und gepredigt hatte.
»Ich erinnere mich an etwas, das Sie einmal zu mir gesagt haben, als wir Kartoffeln klaubten.«
»Kartoffeln«, sagte Franklin. »In den Augen liegt es.«
Jorge machte sich Sorgen, dass der Mann wirklich den Verstand verloren hatte. Und sie waren hier eingesperrt, auf sieben Quadratmetern, auf denen die Uhren keine Macht mehr hatten.
»Über das Schild mit ›Das Ende naht‹«, sagte Jorge.
»Was ist damit?«
»Angenommen, ein Typ läuft mit einem Schild herum, auf dem steht ›Das Ende naht‹. Selbst wenn er Recht hat, ist er immer noch ein Arschloch.«
Franklin lachte laut los, als ob er den Spruch noch nie zuvor gehört hätte. Er klatschte sich auf die Knie, dann beugte er sich nach vorne und keuchte, bis er einen Hustenanfall bekam. Schließlich setzte er sich wieder auf das kleine Bett, noch immer kichernd.
Am Ende des Korridors gab es einen Aufruhr mit Schreien, Schlägen und Flüchen. Franklin und Jorge drängten sich ans Gitterfenster, um einen Blick erhaschen zu können. Zuerst sahen sie nur eine Gruppe von Soldaten, die beieinander standen und mit den Armen gestikulierten. Dann trat Sarge aus dem Auflauf hervor. Er zog an einem Seil, das an den Händen eines Mannes befestigt war. Der Mann war verwahrlost, sein grauer Anzug hing in Fetzen von seinem Körper, an seinem Hemd fehlten fast alle Knöpfe. Sein bärtiges Gesicht war mit Blutergüssen übersät und Blut lief aus seiner Nase.
»Ho-ho«, jauchzte einer der Soldaten. »Endlich haben Sie einen, Sarge.«
»Die Schweinehunde sind schwieriger zu fangen als Schmetterlinge während eines Hurrikans«, sagte Sarge. Ein Soldat öffnete die Tür zu dem Raum gegenüber dem von Jorge und Franklin. Unmittelbar bevor der Mann brutal in den Raum gestoßen wurde, drehte er sich um und blickte Jorge an.
Funkelnde Augen.
»Rein mit dir, du Freak«, brüllte der Sergeant, als er das Seil losließ und dem Zapphirn mit dem Stiefel in den Rücken trat. Der Mutant wurde nach vorne geschleudert und rutschte über den unebenen Boden.
Ein anderer Soldat hielt ein glänzendes Messer in die Höhe. »Lassen Sie mich sehen, wie er funktioniert, Sarge.«
»Dafür gibt’s später noch genug Zeit, Hirni. Zuerst müssen wir ihn beobachten und herausfinden, was sie vorhaben.«
»Sieht für mich aus wie ein kommunistischer russischer Spion«, sagte Franklin. »Oder ein kommunistischer amerikanischer Spion.«
Sarge eilte zu dem vergitterten Fensterchen und drohte mit dem Finger. Jorge wich zurück, aber Franklin ließ sich nicht beirren.
»Sie sollten besser aufpassen, was Sie sagen, sonst werfe ich Sie da rein zu diesem Ding«, sagte Sarge. »Wir könnten ein bisschen Unterhaltung gebrauchen.« Er grinste Jorge anzüglich an. »Vielleicht finden wir ja eine feurige kleine mamacita, um uns zu vergnügen.«
Jorge sprang zur Tür, wo seine Knochen gegen die vernieteten Stahlplatten krachten. Sarge ging auf die andere Seite des Korridors und knallte die Tür zu dem Zapphirn zu.
Kurz darauf wurden die Lichter ausgeschaltet, aber Jorges Stimmung konnte ohnehin schon nicht mehr düsterer werden.