KAPITEL 17

 

Der Schäferhund prallte gegen Rachels Oberkörper und sie wurde auf den Rücken geschleudert.

Sie war sich vage bewusst, dass sich auch die beiden anderen Hunde näherten, aber ihre Welt bestand im Moment fast nur noch aus der stinkenden, geifernden Schnauze, die nach ihr schnappte.

Sie stieß mit dem Unterarm gegen den Nacken des Hundes und schob. Gelbe Zähne schnappten Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt aufeinander, die dampfende rosafarbene Zunge lag vor dem schwarzen Schlund des Rachens.

Aus der Nähe sahen die funkelnden Augen aus wie Höllenfeuer. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass es sich bei dem Hund um eine dämonische Kreatur handelte, die aus dem Land der Mythen entwichen war. Sein feuchter, fauliger Atem auf ihrer Haut war jedoch nur allzu wirklich.

Sie rollte sich auf die Seite und spürte dabei, wie etwas in ihrem Rucksack gegen ihre Wirbelsäule drückte. Die Pistole kam ihr in den Sinn, aber sie wusste, dass ihr dafür keine Zeit blieb. Also drehte sie sich weiter, während die Pfoten des Hundes schmerzhaft über ihre Brust glitten. Sie schaffte es auf die Knie, doch gerade als der Schäferhund von ihr abließ, schnappte der Beagle nach ihrem Bauch.

Im Rollen war ihr ein Riemen des Rucksacks von der Schulter gerutscht und nun hob sie die Schulter an, damit er auch den Rest ihres Armes hinabgleiten konnte. Dann schlug sie auf den einzigen weichen Punkt, den sie finden konnte, die bebende, feuchte Nase des Hundes. Der Schlag traf sein Ziel punktgenau und der Hund jaulte auf. Er wich zurück und heulte überrascht.

Die Hunde umkreisten sie, aber sie blieben außer Reichweite. Offenbar fanden sie Rachel unwilliger als ihre gewöhnliche Beute.

Wie viele Menschen haben sie schon abgeschlachtet? Oder ist dies ihre erste Kostprobe warmen Blutes?

Sie entledigte sich des Rucksacks und packte ihn an den Riemen. Als sie ihn vor sich hin und her schwang, wirkten seine sieben Kilo Gewicht wie ein Vorschlaghammer. Bald würde sie ermüden, aber im Augenblick hielt die Drohung die Hunde auf Abstand.

Der Retriever wagte einen Vorstoß in Richtung ihrer Knöchel und sie versetzte ihm mit dem Rucksack einen Hieb auf den Brustkorb. Er jaulte und humpelte davon.

»Pass auf, Cujo. Ich werde dir so in den Hintern treten, dass du zurück nach Maine fliegst.« Die Prahlerei wirkte unecht und der Angriff des Schäferhunds hatte ihr den Atem geraubt, aber zumindest stand sie wieder.

Vier Beine sind gut, zwei Beine sind besser.

Stephen war die Flucht um den Lastwagen gelungen. Deshalb versuchte Rachel, sich langsam von den Hunden zu entfernen. Dabei nutzte sie den Kühllaster als Trennwand, damit sie sie nicht umzingeln konnten. Sie schwang nach dem Beagle, als der sie anknurrte, und als er zurückwich, gelang es ihr, zum Vorderrad des Lasters zu gelangen. Sie überlegte sich, den Einstieg auf der Fahrerseite hochzuklettern, um in die Fahrerkabine zu steigen, aber wenn die Tür abgesperrt war, würden die Rückseiten ihrer Beine und ihr Hintern einem möglichen Angriff ausgesetzt sein. Und sie zweifelte daran, dass sie eine zweite Chance bekommen würde.

Die Hunde gaben eine widerliche Mischung aus Gebell, Zischen und Geheul von sich, wie Kojoten, die sich in einem elektrischen Zaun verfangen hatten. Während die Tiere sich hin und her bewegten, fand Rachel den Reißverschluss ihres Rucksacks und öffnete ihn. Dabei ließ sie die Hunde keinen Augenblick aus den Augen. Deren funkelnde Augen wirkten gleichzeitig hypnotisierend und abstoßend.

Wenn Angst die Hunde ermutigte anzugreifen, würde Selbstvertrauen sie vielleicht verjagen. Also brüllte sie sie an und rief sich dabei Gangsterfilme und Klischees von harten Kerlen in Erinnerung. Sie vermutete, dass es den Hunden ziemlich egal sein würde, wenn sie dabei ein paar Zitate verhunzte.

»Guckst du mich an? Willst du dich etwa mit mir anlegen? Du kannst die Wahrheit doch gar nicht vertragen!« Die Tiraden waren albern, aber sie machten ihr Mut, und sie achtete sowieso nicht darauf, was sie da im Einzelnen von sich gab. »Ich reiß dir ein Bein aus und mach dich zu Hundefutter! Brauchst du’s wie ein Hund oder was?«

Ihre Worte, oder vielleicht auch ihre nachdrückliche Vortragsweise, sorgten dafür, dass sich die Hunde noch weiter zurückzogen. Sie wühlte verzweifelt in ihrem Rucksack auf der Suche nach dem kalten Stahl der Pistole. Ihr wurde schwer ums Herz, als ihre Finger erfolglos blieben.

Verdammt. Muss sie beim letzten Stopp liegen gelassen haben.

Als ob sie ihre Panik spürten, kamen die Hunde unter Zisch-Gebell wieder näher.

»Rachel!« Stephen rief von der anderen Seite des Lastwagens aus nach ihr.

»Ich hab dir gesagt, du sollst in das Auto steigen und die Tür schließen.«

»Geht nicht. Da sind tote Menschen drin.«

»Stell ... stell dir einfach vor, dass sie schlafen.« Klar. Sie ruhen in Frieden. Und in Stücken. Total normaler Tag im Danach.

»Kommst du?«

Der Retriever knurrte und fletschte die Zähne. Der Schäferhund umkreiste sie auf dem Weg zur Vorderseite des Lastwagens, als ob er von Stephens Stimme angezogen würde.

»Gleich«, antwortete Rachel und packte die Riemen ihres Rucksacks wieder fester. Sie war dankbar für die Konservendosen, die ihrer provisorischen Waffe die nötige Wucht verliehen. »Aber ich muss zuerst sicherstellen, dass du außer Gefahr bist.«

»Sie stinken«, rief der Junge. »Sie stinken sehr

»Ich weiß, Kleiner. Aber du musst das für mich tun. Mach die Tür zu und dann bin ich gleich da.«

»Versprochen?«

»Versprochen!« Genauso wie ich Chelsea versprochen habe, dass ich immer für sie da sein werde. Bis uns das Wasser in die Quere kam.

Der Gedanke an Chelsea brachte ihre Entschlossenheit zurück. Trotz gelegentlicher Selbstmordgedanken wollte sie nicht wirklich sterben. Vor allem wollte sie nicht durch die Zähne und Pfoten scheußlicher Biester selbst wie ein Tier zugrunde gehen. Rachel konnte nicht wissen, ob Chelsea die Sonnenstürme überlebt hätte oder ob sie zu einem Zapphirn geworden wäre. Aber solange Rachel am Leben war, würde sie für sie beide leben.

Solange sie ein Mensch war, würde sie wie ein Mensch kämpfen – das einzige Lebewesen, das sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst war, und das einzige Lebewesen, das seinen Überlebenswillen abschätzen konnte.

Ich bin eine Überlebende.

»Mach die Tür zu!«, rief sie und behielt dabei weiter die Hunde im Auge. »Jetzt.«

Die Autotür wurde zugeschlagen, wodurch auch Stephens verzweifeltes Jammern und Schluchzen ein plötzliches Ende fand. Da sie jetzt ohne Rücksicht nehmen zu müssen handeln konnte, rannte sie um die Vorderseite des Lastwagens in der Absicht, auf seine Stoßstange und von dort auf die Motorhaube zu klettern. Erst als sie prüfte, wo sie sicheren Halt finden konnte, stellte sie fest, dass die Stoßstange in den Motorraum eingelassen war und das glänzende Chrom nur ein paar Zentimeter hervorragte.

Wenn sie den Luxus mehrerer Sekunden gehabt hätte, hätte sie in die Verstrebungen des Kühlergrills greifen und daran hochklettern können, doch hinter ihr erklang bereits das Geräusch von Pfoten in vollem Lauf.

Ihr blieben keine Sekunden.

Sie drehte sich unvermittelt um, schwang den Rucksack und warf ihn dem Hund entgegen, der ihr am nächsten war – dem Schäferhund. Der Hund versuchte auszuweichen, und es wäre ihm fast gelungen, aber der Rucksack traf seine hintere Flanke. Etwas knackte und der Hund ging jaulend und zischend zu Boden. Dort schob er sich mit Hilfe seiner Vorderpfoten weiter in ihre Richtung.

Der Retriever und der Beagle liefen mit gleicher Geschwindigkeit weiter, während Rachel zum Subaru sprintete. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust wie das eines Profiboxers, der einen Sandsack bearbeitet.

Der Subaru war nur noch sechs Meter entfernt. Stephen hatte die Stirn gegen das Fenster auf der Fahrerseite gepresst, das von seinem Atem beschlagen war. Zumindest hatte er auf sie gehört. Ein Pluspunkt für ihre Ausbildung an der Uni.

Rachel glitt aus und sofort umgab sie ein Mantel aus Verwesungsgeruch. Sie erkannte, dass sie auf eine der Leichen getreten war. Weil sie langsamer geworden war, gelang es einem der Hunde – dem Beagle, vermutete sie, da sie tief unten angegriffen wurde – in ihre rechte Wade zu beißen.

Sie schlug mit dem Bein aus und hörte, wie ihre Jeans zerriss, während ein elektrisierender Schmerz durch ihre Adern jagte.

Der Hund fiel von ihr ab, aber dann erwischte der Retriever sie am Saum ihrer Bluse und zog so sehr, dass die beiden obersten Köpfe abgerissen wurden.

Er versucht, mich zu Boden zu ziehen, damit er nach meiner Kehle schnappen kann.

Sie trat mit ihrem guten Bein nach dem Hund und verlor fast das Gleichgewicht, als der Schmerz der Bisswunde sie wie eine gewaltige rote Welle durchfuhr. Die Gummispitze ihres Turnschuhs traf die Rippen des Retrievers, aber er ließ nicht von ihr ab. Er hatte seine vier Pfoten gegen den Boden gestemmt und zerrte an ihr, während feuchtes Knurren und Fauchen aus seinem Rachen klang.

Der Beagle sprang ihr verletztes Bein an. Zwar konnte sie nicht mehr davonhüpfen, aber der Angriff war vorschnell. Statt fest zuzubeißen glitten die Zähne des Hundes über ihre Kniescheibe und zerfetzten dabei den Jeansstoff und ihre Haut gleichermaßen.

Im Vorbeigleiten strahlten die Augen des Zapphirn-Hundes noch intensiver. Es war, als ob die Witterung von Blut und Schwäche seinen furchtbaren Appetit noch gesteigert hätte.

Stephen schrie im Inneren des Autos, aber glücklicherweise war das Geräusch nur gedämpft zu hören. Sie befürchtete, dass er die Tür öffnen könnte und sie dann vor der doppelten Herausforderung stünde, ihn zu beschützen, während sie ihre eigene Haut retten musste.

Plötzlich bewegte sich der Retriever mit einem Ruck zurück und Rachel fiel auf ihre Hände und Knie, mitten in den entweihten Abfall einer früheren Mahlzeit der Hunde.

Und dann warf ihr Gott einen Knochen zu.

Buchstäblich.

Ihre Hand traf auf ein glattes, festes Objekt und sie griff danach. Es war der Oberschenkelknochen eines Menschen, fast sauber geleckt, mit einem großen Knorpel an dem einen Ende, wo sich immer noch das Kugelgelenk befand.

Wütend wie Samson, der die Philister mit dem Kieferknochen eines Esels erschlug, schwang sie die Knochen-Keule und traf den Retriever damit genau zwischen seine seltsam funkelnden Augen. Der Schädel des Hundes knirschte und er fiel wie ein Stein zu Boden. Noch im Zusammenbrechen riss er ein großes Stück Stoff aus ihrer Bluse.

Der Beagle jaulte auf, als ob er nun erkannte, dass er seine Beute unterschätzt hatte. Der Schäferhund wand sich weiter vorwärts und zog dabei sein zertrümmertes Hinterteil hinter sich her, aber er stellte keine wirkliche Bedrohung mehr dar. Er winselte durch die Nase und produzierte Blasen blutigen Schleims. Rachel empfand keinerlei Mitleid.

Sie schwenkte den Oberschenkelknochen in die Richtung des Beagles. »Na, willst du’s Stöckchen bringen?«

Die herabhängenden Backen bogen sich und die Reißzähne zeigten sich über den schwarzen Falten seiner Lefzen. Die orangen und goldenen Flecken in seinen Augen verdunkelten sich, als ob sich seine schwelende Mordlust abgekühlt hätte.

»Ja, das hab ich mir auch gedacht«, sagte sie und humpelte in Richtung des Subarus, wobei sie sich auf einen weiteren Angriff des Beagles vorbereitete. Stattdessen trottete er zum Schäferhund, den er beschnüffelte. Dann leckte er das Gesicht des anderen Hundes mit seiner langen, geifernden Zunge ab.

Als sie den Subaru erreichte, waren Stephens Augen vor Schock weit aufgerissen. Er öffnete die Wagentür für sie und der Gestank aus dem Inneren traf sie mit neuer Wucht.

»Du hast Recht«, sagte sie. »Stinkt scheußlich hier drin.«

»Du ... du ...«

»Mach Platz«, sagte sie. Er krabbelte auf den Beifahrersitz und schob dabei die verstümmelten Körperteile auf den Boden. Der Tod war allgegenwärtig im Danach, aber normalerweise gelang es ihnen, ihm nicht ins Auge blicken zu müssen.

Er deutete mit dem Finger und sie vermutete, dass er ihr zeigen wollte, wo sie gebissen worden war. Als der Adrenalinrausch nachließ, begann sie, den Schmerz zu spüren, der mit seinen ihm eigenen Zähnen zubiss. Sie blickte auf das blutdurchtränkte Bein ihrer Jeans.

»Ja, ich sollte mich besser darum kümmern«, sagte sie und fing an, das, was von ihrer Bluse übriggeblieben war, aufzuknöpfen, um es in Streifen für einen Druckverband und Bandagen zu reißen.

»Sie haben deine schöne Bluse zerrissen«, bemerkte Stephen.

»Ja, aber jetzt bin ich mit dem Zerreißen dran.«

»Hier«, sagte er und zog sein T-Shirt über den Kopf. Sie konnte nicht sagen, ob er hilfsbereit sein wollte oder sich schämte, sie im Büstenhalter zu sehen. Draußen brach die Dunkelheit herein und bald würde sie ihre Jeans ausziehen müssen, um sich um die Wunde kümmern zu können. Aber als die Endorphine aus ihrem Körper verschwunden waren, hatte sie das Gefühl, von einer großen, überwältigenden Wand aus Wasser davongespült worden zu sein.

»Danke«, flüsterte Stephen und griff nach ihrer Hand.

Sie erwiderte den Griff. »Gern geschehen. Versprich mir nur, dass du mich in der nächsten Zeit nicht um ein Haustier bitten wirst.«

»Nicht mal um einen Goldfisch«, erwiderte er.

Der Beagle leckte noch immer den sterbenden Schäferhund, als sie in einen unruhigen Schlaf fiel.