KAPITEL 23
»Sie sollten sich besser etwas Schlaf gönnen«, sagte Franklin.
Er saß am Tisch und war damit beschäftigt, den Kurzwellensender an das Batteriesystem anzuschließen. Neben ihm brannte eine Öllaterne mit niedriger Flamme. Jorge ging in der Hütte auf und ab, unfähig zu sitzen und noch viel weniger fähig zu schlafen.
»Ich gehe, egal, ob Sie mitkommen oder nicht«, sagte Jorge. Der alte Mann hatte ein paar Stunden lang geschlafen, während Jorge den näheren Umkreis der Anlage abgesucht hatte. Er hatte von der Plattform aus auch den Wald beobachtet, weil er Angst hatte, dass die Soldaten Rosa und Marina entdecken würden, bevor es ihm gelang. Rosa war stark und belastbar, aber Jorge kamen Hunderte furchtbarer Möglichkeiten in den Sinn – und sie führten fast alle zu dem Bild, wie sie beide von stummen Zapphirnen einen abgelegenen Pfad entlang getragen wurden.
»Hab Ihnen doch gesagt, dass ich mit Ihnen gehen werde«, gab Franklin zurück. »Aber es schadet nie, ein paar Informationen zu sammeln.«
Franklin suchte die Frequenzen ab, während aus dem Lautsprecher abwechselnd ein hohes Brummen und ein schrilles Rauschen kamen. Irgendwann einmal waren abgehackte spanische Worte zu hören gewesen, aber als Franklin das Gerät darauf einstellen wollte, ging die Übertragung verloren. »Die verdammten aufgeladenen Teilchen in der Atmosphäre stören den Empfang«, sagte er. »Die Sonne scheint wieder Theater zu machen.«
Jorge blieb wie angewurzelt stehen. »Was bedeutet das?«
»›Sonnenzyklen‹ bedeutet genau das, eben Zyklen. Die Sonne wird nicht einfach wie ein Wasserhahn auf- und zugedreht. Sie gibt immer Energie ab, aber manchmal kommt der Ausbruch tief aus ihrem Inneren und dann spuckt sie gewaltige Scheißbälle an Strahlung aus. Die Regierung wusste, dass diese Sonnenstürme ein Problem darstellen – sie wollte nur nicht, dass die Leute in Panik geraten.«
»Wie konnten die darauf verzichten, uns vor der Gefahr zu warnen?«
»Nun, Andeutungen gab’s genug und die Medien haben auch über die Sonneneruptionen berichtet, aber sie haben vor allem vor Kommunikationsproblemen gewarnt. Uns Überlebensfreaks, die genug wussten, um zwischen den Zeilen zu lesen, war jedoch klar, dass es hier um etwas viel Größeres ging, als irgendjemand zugeben wollte. Ich kann mir genau vorstellen, wie dieser Schwachkopf mit den Segelohren im Weißen Haus gesagt hat: ›Wir können uns keine Massenpanik leisten.‹ Ich hoffe, dieser Hurensohn verrottet gerade in seinem Amtszimmer.«
»Mich interessiert Ihr Präsident nicht. Mich interessiert meine Familie.«
»Die reiche Oberschicht und ihre Schoßhunde von der Regierung haben uns die Wahrheit vorenthalten, damit wir uns nicht vorbereiten konnten. Sie haben die Sonnenstürme nicht verursacht, aber sie haben unsere Überlebenschancen auch nicht gerade erhöht. Und nun streifen ihre Fußsoldaten da draußen herum und radieren jeden noch verbliebenen Mann aus, der auf seine Freiheit pocht. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Hälfte der Banker dieser Welt sich jetzt gerade in ihren Luxusbunkern versteckt oder auf privaten Jachten auf dem Ozean treibt, ganz ohne Strom und Navigationssysteme.«
Jorge wurde von Wut und Furcht geschüttelt. »Hijo de puta! Ich hoffe, sie ertrinken alle in ihrem eigenen Blut. Aber das zählt jetzt alles nichts.«
»Nein, nur das zählt.« Franklin drehte noch einmal am Regler und suchte den gesamten Frequenzbereich ab, bevor er das Gerät ausschaltete und es von der Energieversorgung trennte. »Die Zapper sind nicht die schlimmsten Feinde da draußen. Solange diese Blutegel am Leben sind, ist niemand von uns sicher.«
Jorge blickte durch die Tür der Hütte ins Freie, wo sich das grüne Leuchten des Polarlichts mit dem ersten schwachen Licht der Morgendämmerung vermischte. »Moment mal«, sagte Jorge, als ob er jetzt erst Franklins Worte verstanden hätte. »Sie haben gesagt, dass es mehrere Sonnenstürme gab?«
»Gut möglich. Wir sind wahrscheinlich im Laufe der letzten paar Wochen von mehreren Wellen getroffen worden, die aber nicht stark genug waren, sie wahrzunehmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht noch eine weitere große auf dem Weg sein kann, vielleicht sogar schlimmer als der erste Haufen. So ist das mit dem Weltuntergang – der Fachliteratur zufolge ist es normalerweise nicht nur eine Sache, die zum Teufel geht. Es sind viele, miteinander verknüpfte Ereignisse und ein breiter Abzug an einem rauchenden Colt.«
Jorge griff nach Marinas Ranzen und stopfte schnell Essen und einen Kompass hinein, während er sich selbst für seine Dummheit verfluchte. In den letzten Tagen hatte er sich mit dem Gedanken angefreundet, dass das Schlimmste vorüber war, dass Gott sein letztes Urteil gesprochen hatte und nun die Wiedergeburt begann. Aber vielleicht hatte Gott gerade erst damit angefangen, die Sünder zu bestrafen. »Was können wir tun, um uns vor der Strahlung zu schützen?«
Oder, wichtiger, wie kann ich Rosa und Marina vor ihr schützen?
»Nun, sich in einen Faradaykäfig zu setzen, wäre wahrscheinlich eine gute Idee. Ich tippe, das ist der Grund dafür, dass noch so viele Soldaten herumrennen, während fast alle anderen Menschen zu Tode gestrahlt wurden oder zu Zappern mutierten.«
»Aber wir wissen nicht, wann uns die Sonnenstürme treffen werden. Wir können doch nicht in Käfigen leben.«
Franklin grinste mit schiefen Zähnen und zupfte an seinem Bart. »Jetzt kapieren Sie’s langsam.«
»Ihre Regierung und Ihre Soldaten können ruhig für dumme Ideale kämpfen«, sagte Jorge. »Wenn ich sterbe, werde ich sterben, weil ich meine Familie beschütze.«
Franklin nahm die blutige Axt, die an den Holzofen gelehnt war. »Ich hoffe, wir bleiben auf derselben Seite, Jorge. Denn ich habe gesehen, was passiert, wenn sich Ihnen Menschen in den Weg stellen. In Ihnen schlummert ein Drache. Wir brauchen freie Männer wie Sie.«
Wenn sich Ihnen Menschen in den Weg stellen.
Jorge dachte an das Hello-Kitty-Mädchen im Wald und seine Halluzination, dass sie womöglich gesprochen hatte. Er hatte es Franklin gegenüber nicht erwähnt, weil der Mann sonst vielleicht denken würde, dass er dabei war, den Verstand zu verlieren. Er war auf Franklins Hilfe angewiesen. Auch wenn Franklin durch eine persönliche Aufgabe angetrieben wurde, hatte er sich als überlebensfähig erwiesen und kannte die Gegend.
Vielleicht zählte Erfahrung in einer Situation, die es noch nie zuvor in der Geschichte gegeben hatte, nicht viel. Aber solange Jorge seine Familie nicht gefunden hatte, würde er jedes Werkzeug, jede Waffe und jede Möglichkeit nutzen, die sich ihm bot.
Franklin schloss einen Stahlschrank auf und gab Jorge eine Pistole. »Die Glock hat siebzehn Schuss. Wenn wir von Zappern umzingelt werden, passen Sie auf, dass Sie die letzte Kugel für sich selbst aufheben.«