KAPITEL 8

 

Campbell taumelte und trat um sich, während die Hände gegen seinen Kopf pressten.

Finger drückten sich in die Haut neben seinen Augenhöhlen. Er schlug wild um sich, als der Angreifer auf seinen Rücken kletterte und versuchte, ihn zu Boden zu zwingen. Campbell führte die Pistole an seiner Hüfte vorbei und drückte den Lauf in den Leib des Angreifers. Wenn er schoss, würde der Lärm womöglich die Zapphirne zurückbringen. Der Angriff schien die Tat eines Einzelnen zu sein.

Er ließ sich zu Boden fallen und rollte sich ab. Dadurch hoffte er, den Angreifer abschütteln zu können. Er wollte gerade wieder aufspringen und losrennen, als ihre Stimme in sein Ohr zischte: »Bleib ruhig oder sie werden uns hören.«

Campbells Muskeln entspannten sich, während er auf dem Waldboden kniete. Die Frau drückte sich wieder an ihn, ihr Atem roch stark nach Knoblauch und Wein. »Du bist neu in der Gegend, oder?«

»Ja.« Sein Herzschlag verlangsamte sich von Galopp zu Trab. »Aber ich überlege mir, mich hier niederzulassen. Die Leute sind so nett hier.«

»Hab gesehen, wie du von der Schnellstraße gekommen bist. Warum hast du die Soldaten verfolgt?«

»Das waren die ersten Menschen, die ich seit Tagen gesehen habe. Die ersten lebenden Menschen.«

»Nun, ich bin mir nicht so sicher, dass diese Soldaten noch menschlich sind. Sie führen sich auf, als ob sie die Welt beherrschen würden.«

»Mit ihren automatischen Waffen tun sie das vermutlich auch. Und warum hast du mich angesprungen?«

»Wenn ich gerufen hätte, hätten sie uns vielleicht gehört.«

»Aber ich hätte dich erschießen können.«

»Ja«, räumte sie ein. »Das war eine Möglichkeit.«

Campbell beugte sich vor und blickte durch die Bäume. Keine Hinweise auf Bewegungen. »Lebst du hier irgendwo?«

»Ich hab einen Wohnwagen tief im Wald. Das Land ist seit mehr als hundert Jahren im Besitz meiner Familie.«

»Ist es sicher dort?«

»Genauso sicher wie anderswo. Die Soldaten haben ihn noch nicht gefunden und ich verhalte mich so unauffällig, dass mich die Zapper nicht beachten.«

Trotz der Dunkelheit gewann er ein Bild von ihr: Eine Frau um die vierzig, klein, robust und zäh. Wenn sie ihn ernsthaft angegriffen hätte, hätte er Probleme bekommen, sie abzuwehren. Aber er vermutete, dass jeder, der noch am Leben war, auf die eine oder andere Weise zäh war.

»Sie haben das tote Zapphirn geholt«, sagte Campbell. »Was werden sie mit ihm tun?«

»Ich will nicht die ganze Nacht hier im Wald herumsitzen und labern«, antwortete die Frau. »Komm.«

Sie streckte die Hand aus und fand seine in der Dunkelheit. Mit überraschender Kraft zog sie ihn in die der Schnellstraße entgegengesetzte Richtung.

»Ich gehe zurück zur Straße«, sagte er. »Sie liegt offen und ich kann alle Gefahren sehen. Und ich komme schneller voran.«

Sie ließ seine Hand nicht los. »Wohin bist du unterwegs?«

»Nach Norden. Zum Blue Ridge Parkway. Da soll es ein Camp mit Überlebenden geben.«

»Es gibt überall solche Camps. Die Soldaten haben eins. Und man könnte sagen, dass meines auch eins ist. Und nun komm.«

Er sträubte sich, weshalb sie hinzufügte: »Nur für die Nacht.«

Campbell ging seine Möglichkeiten durch. Er hatte seit Wochen keinen wirklichen menschlichen Kontakt mehr gehabt und nun, da sich ihm eine Alternative bot, war er sich nicht sicher, ob er eine weitere Nacht allein in einem liegengebliebenen Fahrzeug eingesperrt ertragen konnte. »Okay.«

Sie kicherte – ein überraschendes Geräusch nach der Gewalt und den Merkwürdigkeiten, die Campbell gerade noch beobachten musste. »Hab schon lange keinen Mann mehr abgeschleppt. Und du weißt noch nicht mal meinen Namen.«

Campbell wollte seine Hand losmachen, aber sie drückte fester. »Mach dich locker«, sagte sie. »Wenn ich auf der Jagd nach einem Ehemann wäre, würde ich nicht hinter jemandem herrennen, der so scheu ist wie du. Ich bin Wilma.«

Er ließ sich von ihr durch den Wald führen. Sie knipste eine Stift-Taschenlampe an und leuchtete mit dem schmalen Strahl vor ihre Füße. Sie führte ihn mit einer Sicherheit, die vermuten ließ, dass sie sich in diesem Wald sehr gut auskannte.

»Hi, Wilma. Ich bin Campbell.«

Sie gingen ein paar Minuten schweigend und Campbells Augen gewöhnten sich an die Finsternis. Durch Lücken im Dach der Baumkronen ließ sich hier und da der grünlich schimmernde Himmel sehen. »Lebst du allein?«, fragte er.

»Jetzt schon. Woher kommst du?«

»Aus der Nähe von Chapel Hill. Ich bin mit einem Kumpel auf Fahrrädern unterwegs gewesen. Dann wurde er ...«

Sie drückte erneut seine Hand und er war für die Geste des Mitgefühls dankbar. »Passiert uns allen früher oder später«, sagte sie. »Ich persönlich versuche es mit ›später‹.«

Campbell blickte sich auf der Suche nach Lichtern oder Bewegungen in der Dunkelheit um. Er fragte sich, ob die Frau eine Waffe hatte, und kam zu dem Schluss, dass das sehr wahrscheinlich war. Falls nicht, wäre sie verrückt, dort herumzuspazieren, wo sich Zapphirne und eine durchgedrehte Miliz aufhielten.

Das Gelände war relativ flach, ging aber nun in einen sanften Anstieg über. Der Boden wurde steiniger und sie kamen zu einem breiten Graben, in dem ein schmales Bächlein floss.

»Cane Creek«, sagte sie. »Gutes Wasser, wenn man es filtert.«

Campbell spürte plötzlich, dass er Hunger und Durst hatte. Die Begegnung mit den Soldaten hatte seinen Tagesablauf durcheinandergebracht und er hatte seit Mittag nichts mehr gegessen. »Hast du was zu essen?«

»Ich weiß mir zu helfen. Es gibt einen Mini-Markt bei der Ausfahrt zwei Meilen weiter und eine Kleinstadt nach drei weiteren Meilen. Ich geh ungefähr einmal die Woche in den Supermarkt. Viele der Lebensmittel sind verdorben, aber es gibt immer was in Dosen.«

»Was würde ich nicht für ein frisches Steak geben.«

»Du solltest im Camp der Soldaten vorbeischauen. Die braten ab und zu ein Rind. Sie bedienen sich am örtlichen Viehbestand.«

»Es gibt ein Lager? Mit wie vielen Soldaten?«

»Sechs oder sieben. Ich versuche, ihnen aus dem Weg zu gehen, aber manchmal sehe ich sie, und ich höre sie schießen.«

»Also gibt es mehr Zapphirne als Soldaten.«

»Mehr Zapphirne als sonst irgendwas. Ist das in Chapel Hill und anderswo genauso?«

»Ja«, antwortete er. »Nur dass sich die Zapphirne nun in Gruppen oder Stämmen sammeln.«

»Dir ist das auch aufgefallen, hä? Während wir Menschen uns alle allein durchschlagen wollen.«

Bald wurde der Pfad breiter und führte auf eine Lichtung auf einem Hügel. Ein Wohnwagen stand unter einer großen Eiche, deren Äste nach den schimmernden grünen Bändern im Himmel griffen. Der Wohnwagen stand auf Betonsteinen, auf der Deichsel befand sich eine Propangasflasche. Die Fenster des Wohnwagens waren zu klein, als dass jemand hätte hindurchklettern können.

»Trautes Heim, Glück allein«, sagte Wilma und zog einen Schlüssel aus ihrer unförmigen Kleidung hervor. An der Tür befand sich ein Vorhängeschloss.

Was sie wohl aussperren will?

Campbell warf einen Blick in die dunklen Schatten des Waldes. Unter freiem Himmel fühlte er sich angreifbar. Verblüfft stellte er fest, wie schnell er sich an einen Himmel gewöhnt hatte, der von unnatürlichen Polarlichtern beleuchtet wurde – der andauernde Effekt der aufgeladenen Teilchen des Sonnensturms. »Hat man dich noch nicht angegriffen?«

»Ich hab nichts, was irgendjemand wollen könnte.«

»Nicht mal die Zapphirne?«

»Ich verhalte mich unauffällig und lasse alles über mich hinweg ziehen.«

Ein dünnes Kläffen war aus dem Wohnwagen zu hören. »Sei still, Peanut«, sagte Wilma durch die Tür, bevor sie sie öffnete. Sie langte mit der Hand hindurch, damit der Hund sie beschnüffeln konnte. »Bin nur ich und ein neuer Freund.«

Campbell war sich nicht sicher, ob er bereit für eine Freundschaft war. Vielleicht hätte er doch zur Schnellstraße zurückkehren sollen, wo er sich immerhin eine Art von Routine geschaffen hatte. Aber hier war eine Frau mit einem Haustier. Es war fast schon erschreckend normal, auch wenn er in seinem früheren Leben die Frau als verelendeten weißen Abschaum oder exzentrische alte Hexe bezeichnet hätte.

Wenigstens hat sie einen Hund und keinen Haufen Katzen.

Sie forderte Campbell auf einzutreten und er sah sich in dem engen Wohnraum um, während sie eine Kerze anzündete. Im Inneren des Wohnwagens stapelten sich getrocknete Lebensmittel, Snacks und Kisten mit Getränkeflaschen. Der kleine Hund, der an Campbells Hosenbein schnüffelte, war ein amerikanischer Rat Terrier mit schäbigem grauem Fell.

»Peanut, das ist Campbell«, sagte Wilma und schob ihr verfilztes rotes Haar zurück. Nun konnte er den ersten richtigen Blick auf ihr Gesicht werfen. Auf ihren sommersprossigen Wangen befanden sich große rote Narben jüngeren Datums, auf ihrer Unterlippe prangte ein münzgroßes, verkrustetes Stück Schorf.

Er schluckte unbeholfen, während ihr starrer Blick ihn zu einer Bemerkung herausforderte. Sogar ihre grünen Augen wirkten kränklich; sie hatten rote Ränder und waren verklebt mit Schleim. Er hatte vermutet, dass sie mittleren Alters war, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Sie konnte auch erst zwanzig sein, mit einem Körper, an dem sich ein Jahrhundert der Zerstörungen und ein hartes Leben ausgetobt hatten.

Er zwang sich, den Blick abzuwenden, und kniete nieder, um den Hund zu streicheln. Selbst der schien seinen Teil an Leiden zu tragen: Eines seiner Ohren war fast völlig gespalten und aus der dunklen Nase rann eine zähe Flüssigkeit. Campbell wollte sich gerade vorbeugen, um ihn zu streicheln, als der Hund seinen Kopf hob, gelbe Zähne entblößte und aus der Tiefe seines Rachens zu knurren begann.

»Hey, Peanut, das ist nicht unsere Art, Gäste zu begrüßen«, sagte sie und trat dem Hund sanft in die Rippen. »Verzieh dich ins Bett.«

Der Hund schlich zu einer seitwärts aufgerichteten Milchkiste, in der sich zusammengeknüllte Bettlaken als Schlafstätte befanden. Der Wohnwagen enthielt einen kleinen Tisch und ein niedriges Hochbett, das bis über die Deichsel reichte. Die kleine Küchenzeile verfügte über einen Gasofen mit zwei Kochstellen und ein Spülbecken, das mit verschmutztem Geschirr und leeren Blechdosen überfüllt war. Fliegen umschwirrten das Chaos. Ein großes Stück gepökelten Schinkens hing an einer Schnur von der Decke; aus dem wächsernen Fleisch waren große Stücke herausgeschnitten. Überall lagen Kleidungsstücke herum.

Wilma wand sich aus ihrem Mantel und warf ihn auf den Tisch. Dabei fiel die leere Verpackung eines Schokoriegels auf den übersäten Boden.

»Was denkst du?«, fragte sie, während sie mit dem Arm ausholte und auf ihr Heim wies.

Campbell war noch damit beschäftigt, den winzigen Wohnraum auf sich wirken zu lassen. Er schätzte, dass er drei Meter breit und viereinhalb Meter lang war. Es gab kaum einen Fleck, der nicht mit Müll bedeckt war. Der Gestank von verdorbenem Essen, Moder, feuchtem Fell und altem Schweiß verursachte ihm Brechreiz. Er sehnte sich plötzlich nach der frischen Luft draußen, mit all den damit verbundenen Gefahren.

»Es ist ... heimelig«, brachte er hervor. Er blickte sich nach einer Sitzmöglichkeit um, dann beschloss er aber, vorerst lieber zu stehen.

Wilma langte an ihm vorbei und sicherte den Türriegel von innen. Dann schob sie einen Haken vor und ließ ein Vorhängeschloss zuschnappen. »Falls sie das Fenster zerbrechen und versuchen, den Griff zu erreichen«, erklärte sie ihm.

Campbell fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, eingesperrt zu sein; besonders, wenn er die Kerze und die Menge an Unrat in Betracht zog. Er vermutete, dass der Wohnwagen wie ein Bündel benzingetränkter Zeitungen in Flammen aufgehen würde. Aber er beruhigte sich. Falls Zapphirne angriffen, sollte er in der Lage sein, sie mit seiner Pistole selbst im Nahkampf abzuwehren.

Er war sich allerdings nicht sicher, was die Soldaten anbelangte. Er bezweifelte, dass die dünnen Metallwände Kugeln aufhalten würden. Er musste einfach darauf vertrauen, dass die Frau Recht hatte und die Soldaten kein Interesse an ihr hegten.

Aber Campbell hatte seine Probleme mit dem Vertrauen. Bereits in der alten Zeit hatte es nicht zu seinen Stärken gezählt und in den Nachwehen der Apokalypse hatte er nur selten Gelegenheit gehabt, sich in diesem Charakterzug zu üben.

»Mach’s dir gemütlich«, sagte sie und deutete auf das Bett, das offenbar eine Doppelfunktion als Sitzgelegenheit und Schlafstätte erfüllte. Campbell ließ sich auf dem Rand der frei liegenden Matratze nieder, weil ihm die muffigen Patchworkdecken, die auf ihr lagen, suspekt waren.

Wilma öffnete einen Schrank und gab ein Alkohollager preis. Die Flaschen waren mit einer Sorgfalt angeordnet, die in deutlichem Gegensatz zu dem Chaos des Wohnbereichs stand – so, als ob es sich um das eine Gebiet handelte, auf dem die Frau Trost und Sicherheit fand. Viele der Flaschen waren voll und er fragte sich, wie viele Ausflüge sie in die nächste Stadt unternommen haben musste, um sich mit einem derartigen Vorrat einzudecken.

Sie langte hinein und zog eine Flasche Scotch mit gelbem Etikett heraus. »Nur das Beste für die Gäste, nicht wahr, Peanut?«

Der Hund wedelte ein paar Mal wenig überzeugt mit dem Schwanz. Campbell fragte sich, wie viele »Gäste« im Lauf der Jahre ihren Weg in den Wohnwagen gefunden hatten.

Ganz unzeremoniell löste die Frau den Verschluss von der Flasche und nahm zwei tiefe Schlucke. Sie keuchte mit offenkundigem Genuss und zeigte dabei zwei schwarze Zahnlücken. Dann hielt sie Campbell die Flasche hin.. Obwohl die betäubende Wirkung des Alkohols verlockend war, konnte er nicht anders, als an die Kruste auf ihrer Lippe zu denken, die nun vom Alkohol benetzt war.

»Nein, danke«, sagte er.

»Ein Abstinenzler, hä? Nun, ich denke, es hat keinen Sinn, jetzt noch zu versuchen, Pluspunkte im Himmel zu sammeln. Gott hat dieses verrückte Experiment namens ›das menschliche Geschlecht‹ für beendet erklärt. Oder, Peanut?«

Dieses Mal ignorierte der Hund sie.

»Du hast keine Waffe getragen«, bemerkte Campbell.

»Wozu denn auch? Wenn sie mich tot haben wollten, wäre ich schon lange tot.« Sie blies die Kerze aus und Campbell hörte, wie eine Plastikflasche zu Boden fiel, als sie sich in seine Richtung bewegte. Sie legte ihre Hand auf sein Knie, als sie mit der Scotchflasche auf das Bett kletterte.

Er bereitete sich auf ihre Umarmung vor und fürchtete, sie würde intim werden wollen, vielleicht sogar Sex von ihm wollen.

»Du solltest besser schlafen«, sagte sie. »Peanut wird bellen, wenn irgendjemand kommt. Du bist hier mindestens so sicher wie anderswo.«

Campbell fand darin nicht viel Trost, aber er war erschöpft. Er legte sich vollständig bekleidet hin, wobei er den Rucksack immer noch über seine Schulter geschlungen hatte. In der Dunkelheit hörte er ihr beim Trinken zu.

Er stellte sich vor, wie die stille Prozession der Zapphirne den Leichnam durch den Wald trug, eine endlose Reihe von ihnen, und schon bald konnte er die Erinnerung nicht mehr von einem Traum unterscheiden.