KAPITEL 22
Campbell wischte sich die säuerliche Gallenflüssigkeit vom Mund und spuckte winzige Stücke halbverdauten Schinkens aus.
Er konnte das, was ihm seine Augen mitteilen wollten, nicht verstehen und hatte auch nicht vor, sich die Zeit für eine genauere Untersuchung zu nehmen. Lieber würde er versuchen, den Kordon der Zapphirne draußen zu durchbrechen. Vielleicht hatte er im Hof hinter dem Haus bessere Chancen. Er lehnte sich gegen das Treppengeländer und wollte dann im Dunkeln nach unten eilen, aber er hatte erst drei Schritte getan, als das Zischen anhob.
Sie sind im Haus.
Hinter ihm öffnete sich die Schlafzimmertür mit einem Knarren.
Ebenso wie die beiden anderen Türen im Obergeschoss.
Wie viele von ihnen sind hier?
Ein Lichtstrahl bewegte sich durch den Flur im Erdgeschoss. Er hörte Stimmen inmitten des irrsinnigen Zischens der Zapphirne – menschliche Stimmen.
»Hab’s dir doch gesagt«, verkündete Wilma. Ihre Stimme klang gedämpft, als ob sie auf der Veranda hinter dem Haus stünde. »Hab dir gesagt, dass er Angst haben würde.«
»Ich kümmer’ mich darum«, antwortete ein Mann – und Campbell erkannte seine Stimme.
Oder ist das nur ein weiterer Geist in deinem Kopf, wie Pete?
Er kicherte erneut und der schwindelerregende Wahn triefte aus den Windungen seines Geistes wie uraltes Wasser aus Gestein. Der Wahnsinn staute sich wie die Flut hinter einem Damm und drohte, ihn jeden Moment zu durchbrechen.
Der Mann rief erneut: »Campbell? Bist du das?«
Campbell tat einen weiteren vorsichtigen Schritt. Er hoffte, dass die Treppe unter seinem Gewicht nicht knarren würde. Als er den Fehler beging, zurück nach oben auf den Treppenabsatz zu blicken, kam die Formation glitzernder Augen näher.
Von Panik erfasst fing Campbell an, die Treppe hinunter zu laufen. In seinem Mund schmeckte er Erbrochenes, in seinen Ohren dröhnte es und es war ihm völlig egal, ob sie ihn fingen oder sogar töteten, solange er nicht so enden musste wie die oben im Schlafzimmer.
Er nahm unten Bewegungen wahr. Der Lichtkegel tanzte im Inneren des Hauses umher.
»Bleib ruhig, Campbell.«
»Die ... Wissen Sie, was die getan haben?«
»Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Warum sind Sie noch am Leben?« Campbell war nun schon fast unten, die Entscheidung war ihm abgenommen worden. Zapphirne versammelten sich oben auf dem Treppenabsatz, abgelenkt von den Beschäftigungen, denen sie hinter verschlossenen Türen nachgegangen waren. Anders als diejenigen unten, zischten die oben jedoch nicht, sie starrten nur in stummer Feierlichkeit mit glitzernden Augen.
Campbell ging zwei weitere Stufen nach unten. Das Haus war voller Spannung, so als ob eine Gewitterwolke kurz davor stand, sich zu entladen. Grünliches Halblicht fiel durch die Fenster herein, der Strahl der Taschenlampe unten tanzte und Campbell fühlte sich wie im Karneval der Hölle.
»Hör mir zu«, sagte der Professor und nun wurde Campbell klar, wer da kopfüber im Schlafzimmer hing – Donnie, Arnoff und Pamela. »Hör zu.«
Und das Zischen veränderte sich. Es wurde zu einer unsauberen Imitation des Professors. Ein Dutzend Stimmen, vielleicht zwanzig: »’Ör schu. ’Ör schu. ’Ör schu.«
Campbell schrie, was den Bann, der die Zapphirne oben zurückgehalten hatte, brach. Sie strömten über den Treppenabsatz, ihre Füße donnerten auf den Bodenbrettern. Campbell sprang den Rest der Treppe hinab, verlor das Gleichgewicht, stolperte, schlug sich die Knie an und knallte mit dem Kopf gegen den Treppenpfosten. Der Pfosten streifte ihn über dem linken Ohr, seine Sicht verschwamm und es fühlte sich an, als ob das Blut in seinen Adern durch flüssiges Blei ersetzt worden wäre.
Dann leuchtete die Taschenlampe in seine Augen und der Professor kniete neben ihm nieder, um sich um ihn zu kümmern. »Schhh«, sagte der Mann. »Bleib liegen und rühr dich nicht.«
Die Zapphirne, die die Treppe hinabgestürmt waren, waren stehen geblieben und warteten nun wieder. Campbell fühlte, dass sich andere Zapphirne hinter dem Professor versammelten.
»Was die gemacht haben ... mit Pamela ...«, flüsterte Campbell.
»Ist, was sie mit dir machen werden, wenn du dich nicht beruhigst.«
»Bitte, lass sie nicht ...« Campbell versuchte, sich aufzusetzen, aber der Professor verhinderte das, indem er seine Hand auf Campbells Brust drückte.
»Sie wollen dich nicht verletzten«, sagte der Professor und die zischenden Zapphirne wiederholten einen Chor aus »Leschen, leschen, leschen«.
Campbell kicherte erneut und hoffte, dass er gerade träumte. Oder schon tot war. Ja, tot sein wäre okay.
Denn dann könnten die Zapphirne mit ihm nicht das tun, was sie mit Donnie und Arnoff getan hatten. Nun, können würden sie schon, aber es wäre ihm egal.
Hinter der Tür, die er geöffnet hatte, hatte eine Gruppe von Zapphirnen am Boden gesessen wie die Jünger eines Gurus. Sie waren um einen Schaukelstuhl versammelt gewesen, in dem ein Mann mit dicken Seilen gefesselt saß – Arnoff, wie Campbell nun wusste, obwohl er ihn niemals erkannt hätte, wenn der Professor nicht im Haus gewesen wäre. Arnoff lebte noch. Seine Augen waren weit aufgerissen gewesen und erfüllt von dem Schrei, den sein Mund nicht mehr von sich geben konnte.
Das Licht der Stiftlampe hatte offenbart, dass Arnoffs Zunge herausgerissen worden war. Um sein Kinn war geronnenes Blut verkrustet gewesen. Er konnte bereits seit Tagen gefangen hier sitzen.
Hinter ihm, mit dem Kopf nach unten, hatte Pamela gehangen. Sie war nackt, ihr Körper mit Blutergüssen übersät. Ihr rotes Haar hing herab, so dass die Haarspitzen den Boden berührten. In diesem einen Bruchteil einer Sekunde hatte Campbell erkannt, dass sie tot war. Glücklicherweise.
Donnie hingegen hatte nicht so viel Glück gehabt.
Er hatte bäuchlings auf dem Bett gelegen. Sein Kopf hatte in Richtung der Tür geblickt und war in einem derart unnatürlichen Winkel angehoben gewesen, dass sein Genick gebrochen sein musste. Seine entleerten Gedärme waren vermutlich für den größten Teil des Gestanks in dem Zimmer verantwortlich, wo Kot mit dem gewöhnlichen Geruch des Todes zu einer fauligen Mischung verschmolzen war.
Donnies Hände waren durch die Seitenteile des Betts geführt worden. Die Finger hatten in ein gutes Dutzend verschiedene Richtungen abgestanden, als ob sie jemand immer wieder sorgfältig gebrochen und dann ausgerichtet hätte. Donnies Augen hatten offen gestanden, wie die von Arnoff, aber sie waren so glasig und vom Schmerz betäubt gewesen, dass er sich wahrscheinlich jenseits des Drangs zum Schreien befunden hatte.
Campbell versuchte, sich seine eigene Rolle in dieser Horrorinszenierung auszumalen. Würden sie ihm die Ohren vom Kopf reißen oder seine Sommersprossen abzupfen, ganz so als ob sie Ungeziefer wären?
Der Professor arrangierte die Taschenlampe so auf der Treppe, dass sie sich beide im Lichtkegel befanden. Obwohl seine Stirn von der Anspannung in Falten lag und er in den Wochen, seit Campbell ihn zuletzt gesehen hatte, um ein Jahrzehnt gealtert zu sein schien, wirkte er körperlich unversehrt und einigermaßen im Besitz seiner geistigen Kräfte. Seine Hände zitterten, als er Campbells Bein auf Brüche untersuchte.
»Du hast Glück gehabt«, sagte der Professor, dessen Worte vor dem Hintergrund des unaufhörlichen Zischens der Zapphirne im Erdgeschoss und auf der Treppe kaum auszumachen waren. Er legte seine Finger auf Campbells Augenlider und schob sie nach oben. »Sieht so aus, als ob du keine Gehirnerschütterung hast.«
»Ich fühle mich nicht unbedingt wie ein Glückspilz.«
»Du bist weder tot noch verstümmelt. Sie akzeptieren dich.«
»Das ist Glück?«
»Sie spüren, dass du sie nicht verletzen willst.«
Campbell erinnerte sich daran, dass Wilma gesagt hatte, man dürfe keine Furcht zeigen. Aber er konnte nicht anders. Er wollte noch immer schreien – und wenn er nicht so große Schmerzen gehabt hätte, würde er sich durch die Zapphirne hindurch zur Tür kämpfen. Kein vernünftiger Mensch konnte in einem Haus voller zerstörungswütiger Mutanten eingesperrt sein und keine Angst haben.
Aha. Vielleicht ist »vernünftig« hier das wichtige Wort.
»Warum wurdest du nicht von denen getötet?«, fragte Campbell, der versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er hatte sich fast vom Sturz erholt.
»Sie brauchen mich.«
»Misch-misch-misch«, skandierten die Zapphirne. »Misch-misch-misch-misch-misch.«
Diejenigen im ersten Stock schlossen sich dem Chor an: »Misch-misch-misch-miiiisch.«
Der Professor lächelte, obwohl sich eine gewaltige Anspannung auf seinem Gesicht abzeichnete. »Sie haben ein neues Wort gelernt.«
»Sie können nicht lernen. Sie sind zerstörerische Mordmaschinen.«
»Schinen«, wiederholte eines der am nächsten stehenden Zapphirne. Und ein Chor von »Schinen« wogte durch das Haus.
»Wir haben uns seit den Sonnenstürmen alle verändert«, sagte der Professor. »Es ist an der Zeit, das zu akzeptieren.«
Er beendete die Untersuchung Campbells und half ihm dabei, sich auf die unterste Treppenstufe zu setzen. Dann griff er nach seiner Taschenlampe. Er schwenkte sie in der Luft und die Zapphirne verstummten, obwohl Campbell weiter ihr schweres Atmen hören konnte.
Als ob sie warteten.
Campbell glaubte noch immer, dass sie urplötzlich über ihn herfallen und ihn in Stücke reißen würden. Er bekam den Anblick von Arnoff, Donnie und Pamela in dem Zimmer oben nicht aus dem Sinn. »Warum haben sie dich am Leben gelassen, während sie ... diese Dinge mit den anderen angestellt haben?«
»Sie sind wie Kinder«, sagte der Professor. »Und ich war Zeit meines Lebens ein Lehrer.«
»Kinder zerstören nicht aus Spaß.«
»Doch, das tun sie«, erwiderte der Professor, wobei er eine Hand auf Campbells Arm legte, um ihm zu bedeuten, dass er seine Stimme nicht heben sollte. »Es ist völlig natürlich. Kinder reißen Fliegen die Flügel aus, um zu sehen, wie sie funktionieren. Sie schütten Cola auf Ameisenhügel. Sie sezieren Frösche und Regenwürmer, um zu sehen, was sich in deren Inneren verbirgt.«
»In«, rief ein Zapphirn. Die Menge drängte nach vorn, bis sich eines von ihnen im Lichtkegel der Taschenlampe befand. Es handelte sich um eine Frau um die dreißig, attraktiv trotz ihrer wilden und verknoteten Mähne goldbraunen Haars und obwohl ihre Augen mit einer geistesgestörten Aufregung funkelten und glitzerten. »In, in, in«, plapperte sie.
»In«, kam es aus drei Dutzend Kehlen.
»Ich will auch rein!«, jammerte Wilma draußen vor dem Haus.
Die Zapphirne verstummten. Die elektrische Spannung kehrte zurück und brachte die Härchen auf Campbells Unterarmen dazu, sich aufzurichten.
»Sie wird zu einem Problem«, sagte der Professor.
»Sie sagte, sie würden sie nicht hereinlassen.«
»He-rein-las-sen.«, sagte das Zapphirn mit den goldbraunen Haaren.
Mehrere Zapphirne wiederholten ihre Worte und dann breitete sich der Sprechgesang nach oben hin aus. Campbell hielt sich die Ohren zu, unfähig, diese neue verblüffende und abscheuliche Entdeckung zu verarbeiten. Er hatte sich endlich mit einer Welt abgefunden gehabt, in der die menschliche Rasse um viele Milliarden reduziert worden war, und er hatte auch die neue natürliche Ordnung akzeptiert, in der viele Menschen zu barbarischen Mördern geworden waren.
Zumindest folgte das noch einer gewissen Form von Logik – eben der des Untergangs einer Gesellschaft.
Aber hier war eine neue und seltsame Gesellschaft, die tatsächlich im Aufstieg begriffen war. Eine Mutantenrasse, die sich offensichtlich fortentwickelte, um an die Stelle der alten Rasse zu treten.
Es nützte nichts, dass er sich die Ohren zuhielt. Das Haus dröhnte von dem beinahe jubelnden Chor der Zapphirne: »He-rein-las-sen! He-rein-las-sen! He-rein-las-sen!«
Wilma lachte gackernd. Offenbar befand sie sich nun an der Hintertür, denn Campbell konnte sie deutlich hören: »Dann komme ich jetzt rein!«
Campbell erhob sich, um sie zu schützen. Er fühlte sich irgendwie für sie verantwortlich, obwohl sie ihn in dieses Haus des Schreckens gelockt hatte. Aber der Professor legte die Hand auf seine Schulter und hielt ihn zurück.
»Sie ist verrückt«, sagte Campbell. »Sie werden sie in Stücke reißen, so wie sie es mit deinen Freunden getan haben.«
»Das ist nicht dein Kampf, Campbell. Akzeptiere es.«
Campbell löste sich und begann, sich einen Weg durch die Zapphirnmenge zu bahnen. Der Gestank des Hauses, der Tod, den es beherbergte, und die ungewaschenen Mutanten machten ihn schwindelig und verursachten ihm Platzangst. Es kümmerte ihn nicht länger, ob sie ihn töten würden. Er hatte von Tag zu Tag überlebt, weil er sich auf die Hoffnung auf eine ferne, bessere Zukunft gestützt hatte. Aber nun musste er einsehen, dass ein solches Ideal keine Wirklichkeit werden würde.
Seine Welt war zu Ende gegangen.
Es kam zu einem Tumult in einem der nicht einsehbaren Räume, vermutlich der Küche. Das Zischen klang wie Dampf, der aus einem undichten Heizkörper entwich. Campbell zog seine Stiftlampe hervor. In seinem Schädel klopfte es, seine Beine schmerzten und sein Hals war wie verdorrt vor Durst und Furcht.
Die Zapphirne hatten sich abgewandt, um sich um Wilma zu versammeln. Sie lachte und schrie: »Gebt ihn mir zurück!«
Sie drängten auf Wilma ein, die von der bloßen Menge erdrückt wurde. Campbell wollte keine der abstoßenden Kreaturen berühren, aber sie wandten ihm den Rücken zu und blockierten den Weg. Er arbeitet sich soweit er konnte den Flur entlang vor und leuchtete mit seiner Stiftlampe über die Köpfe der Menge.
Der Strahl fiel auf Wilmas pockennarbiges, verwirrtes Gesicht. Der Kampf mit den Zapphirnen schien sie in einen Zustand der Glückseligkeit versetzt zu haben.
»Halte dich da raus«, warnte ihn der Professor von irgendwo hinter ihm. Die Treppe dröhnte, als die Zapphirne herabkamen.
»Hab keine Angst«, sagte Campbell zu Wilma. Um das Zischen zu übertönen, musste er fast schreien. Sie hörte einen Augenblick lang auf, sich zu wehren, und blickte in Richtung des Lichts, obwohl sie vermutlich sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Erzeuger!«, rief sie. »Ich will dich als Erzeuger! Diese Welt braucht Erzeuger!«
»Erzeuger!«, schrie eines der Zapphirne.
Das Wort breitete sich durch das Haus aus und wurde lauter: »Erzeuger, Erzeuger, Erzeuger.«
Eines der Zapphirne packte Campbell an der Vorderseite seines Hemds und zog so kräftig, dass er aus dem Gleichgewicht geriet. Der Strahl seiner Stiftlampe tanzte unkontrolliert über die Decke, bevor er über das Gesicht des Zapphirns, das ihn festhielt, wanderte. Es war die Frau mit dem goldbraunen Haar.
»Erzeuger!«, kreischte sie verzückt.
»Ich bring dich um, du Schlampe!«, schrie Wilma und schlug auf die Zapphirne um sich herum ein.
Die Zapphirne zahlten ihr die Worte und ihre Schläge mit gleicher Münze zurück. »Du Schlampe! Du Schlampe!«
Das Haus schwankte unter den Schreien, Schlägen und Wilmas Stöhnen.
Dann wurde Campbell die Stiftlampe aus der Hand geschlagen und zertreten, während die Menge sich nach vorne in die gewalttätige Mitte der Küche drängte. Campbell schlich zur Seite, bis er die Wand erreicht hatte. Dort sank er zu Boden, kauerte sich in Embryonalstellung hin und bedeckte den Kopf mit den Armen.
Doch auch davon ließen sich Wilmas Schreie nicht verdrängen.