KAPITEL 26
In das Schlafzimmer drang genug Tageslicht, um Campbell zu gestatten, die ausdruckslosen Gesichter derjenigen zu sehen, die sich um ihn versammelt hatten.
Er war erschöpft und geschlagen und hatte nicht einmal mehr genug Energie, um zu verzweifeln. Das Grauen von Wilmas Tod in der Nacht war noch frisch in seiner Erinnerung, ihre Schreie hallten noch immer im Inneren seines Schädels nach.
Und das kann dir auch passieren. Du musst nur aufstehen und gehen.
Campbell saß auf dem Bett, der Professor befand sich neben ihm. Auf einem kleinen Nachttisch befanden sich zwei Teller mit Essen für sie, ähnlich angerichtet wie die Gedecke auf dem obszönen Tisch im Esszimmer. Glücklicherweise bestand das Essen nicht aus menschlichem Fleisch, sondern aus Dosenerbsen, einem Klumpen rohen Teigs und einer verwelkten Karotte.
Zumindest befanden sich in diesem Schlafzimmer keine Leichen oder verstümmelte Menschen. Im Schlafzimmer nebenan gab Donnie von Zeit zu Zeit einen Schmerzenslaut von sich.
»Wir haben ein Fenster«, sagte der Professor. »Und wir kriegen Essen. Und wir dürfen leben. Alles in allem könnte es viel schlimmer sein.«
Donnies gedämpfter Schrei unterstrich die Aussage.
Campbell ignorierte die etwa fünfzehn Zapphirne, die vor ihnen mit gefalteten Händen im Schneidersitz auf dem Boden saßen. Sie starrten hoch auf ein gerahmtes Gemälde, das über dem Kopfende des Betts an der Wand hing. Auf ihm hatte Jesus seine eigenen Hände zum Gebet gefaltet, während sein langes Haar und sein Bart von einer hell strahlenden Kugel umgeben waren. Jesus blickte auf ähnliche Weise in den Himmel, wie die Zapphirne das Gemälde anstarrten – mit tiefer Verehrung und Feierlichkeit.
»Wie seid ihr hier gelandet?«, fragte Campbell den Professor.
»Auf ähnliche Weise wie du, vermute ich. Wir haben Wilma auf der Straße getroffen und sie sagte, dass sie Essen habe. Arnoff wollte so schnell wie möglich weiter zum Meilenstein 291, aber Pamela hat herumgezickt und dann hat Donnie herausgefunden, dass es Za–«
Der Professor konnte sich gerade noch bremsen und blickte auf die Versammlung, doch die Zapphirne waren ganz auf ihre andächtige Nachahmung konzentriert. »Donnie wollte ein paar erschießen. Aus Spaß. Er sagte, dass er seit Tagen keine Schießübungen mehr gemacht habe. Ich war zwiespältig, und ich dachte, dass Wilma ein bisschen zu freundlich war, aber als Arnoff nachgab, bin ich mitgegangen.«
Campbell benutzte seine Gabel, um ein paar Erbsen aufzuspießen und sie sich in den Mund zu schieben. Eines der Zapphirne in seiner Nähe, eine Großmutter mit flaumigem weißem Haar, imitierte seine Bewegung und kaute Luft, obwohl sie ihr künstliches Gebiss schon vor langer Zeit verloren haben musste. Campbell war der Appetit vergangen, aber er zwang sich zu essen, weil er wusste, dass er Kraft brauchen würde.
Irgendwann wirst du entweder rennen oder dich selbst umbringen.
»Ich wurde von meiner eigenen Neugier hereingelegt«, sagte Campbell. »Als ich sah, wie sie lebt, dachte ich mir: ›Wenn es das ist, was aus uns geworden ist, ist es idiotisch, es überhaupt zu versuchen. Die Menschheit ist geschlagen.‹«
»Ihr räudiger Köter, Peanut.«
»Der ist im Wohnwagen eingesperrt. Aber dort gibt es genug Futter für ein paar Wochen.« Campbell schwieg einen Moment. Dann fragte er: »Also, wie hat sie euch in dieses Haus hier gelockt?« Durch das Fenster konnte er Zapphirne draußen auf der Wiese sehen. Es war ihnen irgendwie gelungen, ein Huhn zu umzingeln, und sie schlugen jetzt mit den Armen wie Kinder, um die verzweifelten Flügelbewegungen des Tieres nachzuahmen.
»Sie hat behauptet, dass es hier drin eine Unmenge an Vorräten gebe. Waffen und Konservendosen und einen Schutzraum im Keller. Darauf hat Arnoff angebissen. Genau wie dich hat sie uns hierher gebracht, als es gerade dunkel wurde. Sie hatten uns überwältigt, bevor wir sie überhaupt bemerkten.«
Es war seltsam hier zu sitzen und über das mörderische Verhalten der Zapphirne zu sprechen, während sie sanftmütig wie Schafe um sie herumsaßen. Aber seit den Sonnenstürmen war einfach alles seltsam gewesen. Keine der Beschreibungen des Weltuntergangs in Romanen und keines seiner Videospiele hatte Campbell auf die Wirklichkeit einer erloschenen Zivilisation vorbereitet.
Nicht nur eine erloschene Zivilisation, sondern auch die ruchlose Imitation einer Gesellschaft, die sich anschickt, an ihre Stelle zu treten.
»Sie haben Arnoffs Zunge herausgerissen, nur um zu sehen, wie sie funktioniert«, erklärte der Professor mit schicksalsergebener Gelassenheit. »Sein ganzes Herumgebrülle – ich denke, das hat ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie haben abwechselnd mit Donnies Fingern gespielt, sie gebogen und sie gebrochen, als verstünden sie nicht, wozu sie gut sind. Und Pamela ...«
»Ich verstehe nicht. Wenn sie dabei sind zu lernen, wo haben sie gelernt, wie man jemanden fesselt? Wer hat sie das gelehrt?« Campbell biss mit einem lauten Knirschen in seine Karotte. Eines der Zapphirne drehte den Kopf, um ihn anzublicken, und er zermahlte sie leise zwischen seinen Backenzähnen.
Der Professor nickte in Richtung der Zapphirne und dann zu dem gemalten Jesus, den sie imitierten. »Ich glaube, dass sie von Bildern lernen. Als sie mich ... umzingelten, bin ich in das andere Schlafzimmer gelaufen. Dort war der Fußboden mit Zeitschriften und Fotos übersät. Das Zimmer muss einem Jugendlichen gehört haben, denn es gab viele Bücher. Und auch ... äh ...«
Der Professor senkte die Stimme: »Bondage-Pornos.«
Campbells Magen krampfte sich um seinen frischen Inhalt zusammen. »Pamela?«
Der Professor nahm die Brille ab und wischte die Gläser ab. »Vermutlich.«
Campbell war froh, dass er keinen richtigen Blick auf das, was mit ihr geschehen war, geworfen hatte. Draußen war das Huhn entkommen und die Zapphirne irrten nun ziellos auf der Wiese umher.
»Wie hast du herausgefunden, was sie von dir wollen?«, fragte Campbell.
»Genau wie du letzte Nacht. Als ich sie angebrüllt habe, haben sie einige meiner Worte zurückgebrüllt. Und ich erkannte, dass sie sich beruhigen, wenn ich nicht kämpfe und mich wehre wie die anderen.«
»Es ist absolut unheimlich, wenn sie so um einen herumstehen. Mir waren sie fast lieber, als sie noch versucht haben, mich zu töten. Das konnte ich zumindest verstehen. Aber das hier ...« Campbell winkte den Zapphirne zu. Zwei von ihnen in der Mitte winkten zurück.
»Auf eine eigenartige Weise habe ich angefangen, es zu akzeptieren«, sagte der Professor. »Ja, sogar es zu mögen. Ich bin mein ganzes Leben lang Lehrer gewesen. Es ist das einzige, worin ich wirklich gut bin. Und jetzt bin ich hier nach dem Ende der Welt und lehre noch immer.«
»Aber wo wird das hinführen? Werden wir diesen Dingern Frieden, Liebe und all den ganzen fröhlichen Hippie-Scheiß lehren? Schau sie dir an, da draußen auf der Wiese. Wie ein Haufen Blumenkinder auf Drogen.«
»Bis jetzt haben wir sie nur eines gelehrt: Gewalt.«
»Weil wir Angst haben.«
»Kein Wunder. Ich hab gesehen, wie sie Menschen mit bloßen Händen zerfetzt haben. Und es genossen haben.«
Der Professor blickte auf das Gemälde von Jesus, in dessen traurigen braunen Augen sich ein Verständnis des Märtyrertods, der ihn erwartete, abzuzeichnen schien. »Ich war niemals religiös, aber vielleicht gibt es einen Grund für all das hier.«
Campbell erhob sich und stampfte mit dem Fuß auf. »Nein!«
Die Hälfte der Zapphirne wurde von dem Aufruhr aus ihrer Verzückung gerissen.
»Ruhig, Campbell«, sagte der Professor. »Reg sie nicht auf.«
»Wie lange bist du schon ihr Spielzeug? Eine Woche? Du lehrst sie zu essen, beten, lieben und sich den Hintern abzuwischen, als ob sie ein Haufen seniler Patienten in einem Altenheim sind? Entschuldigung, aber da mache ich nicht mit.«
Campbell ging auf und ab, fasste die drei Meter bis zur Tür ins Auge und fragte sich, ob er die Tür erreichen konnte, bevor die Zapphirne reagierten. Sie beobachteten ihn jetzt alle und ihre Augen funkelten von dem geistesgestörten Brennstoff, der in ihnen brannte. Selbst wenn er es bis auf den Flur schaffen sollte, wusste er nicht, wie viele von ihnen noch unten im Erdgeschoss oder um das Haus herum warteten.
Campbell lachte bitter. »›Zeig keine Angst‹, hat Wilma gesagt.«
»Und sie hatte Recht«, sagte der Professor.
»Recht«, sagte ein Zapphirn.
»Recht«, sagte ein weiteres und dann noch eines.
»Verstehst du denn nicht?«, fragte der Professor. »Das ist eine Chance für einen Neuanfang. Sie zu lehren – sie zu programmieren, wenn du willst – ohne die alten Sünden und Fehler.«
Campbell setzte sich wieder auf das Bett, dessen Federn quietschten. Er würde heute Nacht hier schlafen. Aber was, wenn ein Zapphirn zu ihm ins Bett kriechen würde, vielleicht um die Stellungen zu imitieren, die sie in den Pornomagazinen gesehen hatten? Oder er zu schnarchen anfing und sie ihm die Kehle aufrissen, um zu sehen, wo der Lärm herkam?
Ja, träum was Schönes für immer und ewig.
»Sie sind wie Kinder«, sagte der Professor. »Sie werden zu dem, womit man sie füttert, also verhalte dich vorsichtig. Das ist der Schlüssel zu deinem eigenen Überleben.«
»Nimm es nicht persönlich, Professor, aber du siehst aus, als ob du hundert Jahre gealtert wärst, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben.«
Auf dem Gesicht des Professors zeichnete sich ein nervöses Lächeln ab. »Ich habe jetzt eine feste Anstellung.«
»Nun, du kannst bis zur Rente dabei bleiben. Ich für meinen Teil würde lieber sterben.«
»Sterben«, sagte die Großmutter, gefolgt von anderen, bis der Raum von ihrem wiederholten »Sterben, sterben, sterben« dröhnte.
Campbell versuchte, lauter zu brüllen als sie, damit sie aufhörten oder zumindest ein anderes Wort nachahmten, aber der Sprechgesang hörte nicht auf. Schließlich tat Campbell das einzige, was ihm in den Sinn kam, um sie zum Schweigen zu bringen, die einzig verbliebene Option, außer zu sterben.
Er presste die Handflächen aneinander, steckte die Hände unter sein Kinn und wandte sich dem Gemälde über dem Bett zu.
Innerhalb von einer Minute war es im Zimmer wieder ruhig geworden und alle Zapphirne hatten in ihren bizarren Yoga-Positionen die Hände wieder in Ehrfurcht gefaltet.
Zur Hölle. Beten hilft.