L

So war der Tag, an dem Beth und Henry geheiratet haben:

Niedrige Wolken zogen so tief dahin, als wollten sie sich in die weiche Erde graben, die Flüsse und Bäche quollen von schlammigem Wasser über und gelbe Traktoren zogen Hackstriegel über die Felder. Wildgänse flogen in V-Formationen über den grauwollenen Himmel, einem uralten Instinkt folgend, der sie alljährlich zur Flucht in die Ferne zwingt. Auf den Telefonmasten saßen die Rotschwanzbussarde und lauerten den Feldmäusen und den Wühlmäusen auf, im Schlamm standen träge die Kühe und irgendwo in der Ferne loderte ein Reifenbrand und schleuderte seinen Qualm in den Himmel.

Eine kleine evangelische Kirche in der Prärie, mit einem bescheidenen Parkplatz, der gerade erst neu asphaltiert und säuberlich mit gelber Farbe in Parktaschen aufgeteilt worden war. Eine Reihe von Lebensbäumen, die den Wind ein wenig abhielten, und eine zweite Reihe von Bäumen – Weißkiefern –, die Schatten spendeten. Auf dem Friedhof hundertneunundneunzig Grabsteine, von denen einer noch aus dem Jahr 187 7 stammte. BJORNERICKSON – das konnte man immer noch lesen, auch wenn die Gravur über die Jahre durch sauren Regen, Flechten, Westwind, Schnee und Eis gelitten hatte. Eine Schaukel, deren Kette an einigen Stellen rostig war und die in der leichten Brise laut kreischend hin- und herschwang. Der Glockenturm – der weit und breit alles andere überragte, abgesehen von zwei oder drei Getreidesilos und der einzelnen Pyramidenpappel unten am Bewässerungsgraben.

Im Innern der Kirche saßen die Hochzeitsgäste auf den Bänken aus Eichenholz und fingerten an ihren Programmheften herum, blätterten die Seiten der Bibel durch, spielten Drei Gewinnt, lockerten ihre Schlipsknoten, zupften ihre Strumpfhosen zurecht, putzten sich die Nase, tauschten flüsternd irgendwelchen Klatsch und Tratsch aus, stellten ihre Hörgeräte ein, erzählten sich Geschichten … Die Witwe, der die Aufgabe der Organistin zugefallen war, griff auf der Empore in die Tasten der röchelnden alten Orgel und alle erhoben sich geräuschvoll. Sie spielte den Hochzeitsmarsch, als handelte es sich um eine Totenklage.

Wir hatten einen fürchterlichen Kater. Unsere Nervenenden lagen brach, unsere Haut zuckte bei der leisesten Berührung und aus unseren Poren sickerte das Gift der zu vielen Biere und Schnäpse vom Vortag. Unsere Mütter warfen uns böse Blicke zu, aus tränenerfüllten Augen – wobei sie aber keineswegs vorhatten, diese Tränen auch tatsächlich zu vergießen –, und unsere Väter saßen einfach nur da, mit gleichgültigen, müden Gesichtern. In der Kirche war es selbst für einen Frühlingstag viel zu warm. Alle fächelten sich mit ihren Programmen Luft zu. Ich schaute über den Gang zu einer der Brautjungfern hinüber, auf deren rechter Schulter das Tattoo eines Einhorns prangte. Und die Brautjungfer direkt neben ihr hatte sich einen riesigen schwarzen Schmetterling aufs Dekolleté tätowieren lassen. Beide Geschöpfe wirkten, als wären sie tatsächlich in Bewegung, zumindest kam es mir in dem Moment so vor. Mir wurde langsam übel und ich glaube, ich bin ein wenig hin- und hergeschwankt, wie ein junger grüner-Farnwedel im Wind. Wir warteten darauf, dass Beth sich endlich zeigte.

Vielleicht sagt es ja schon alles, dass Henry nicht mich zu seinem Trauzeugen gemacht hat, sondern seinen jüngeren Bruder Simon, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal die Highschool abgeschlossen hatte. Simon war die richtige Wahl – keine Frage –, denn Familie geht natürlich immer vor. Und wenn Henry ein paar der Gedanken gekannt hätte, die mir durch den Kopf zuckten, oder die Gefühle, die sich in meinem Herzen breitmachten, während ich dort vorne in der Trinity Church neben ihm stand, dann hätte er mich gar nicht erst eingeladen. Geschweige denn mich zu einem der offiziellen Gefährten des Bräutigams ernannt.

Wir hatten in der Nacht zuvor so richtig auf die Pauke gehauen. Keine Streiche oder so was – nur ein sehr ausgedehntes Trinkgelage im VFW, das wir um zwei Uhr morgens noch oben auf der Spitze der Futtermühle fortgesetzt hatten. Wir hatten zwei Kästen mit lauwarmem Bier die Treppen hochgeschleppt und noch eine ganze Weile trinkend und lachend dort oben gesessen.

Melancholie ist ein sehr dramatisch klingendes Wort, aber manchmal trifft es eben doch genau das, was man sagen will. Wenn man sich zugleich ein bisschen glücklich und ein bisschen traurig fühlt. Die meisten Leute haben ein solches Gefühl bei ihrem Highschoolabschluss oder wenn ihr eigenes Kind zum ersten Mal in den Schulbus steigt. An dem Abend vor Beths und Henrys Hochzeit war das genau das Gefühl, das ich in mir spürte – Melancholie. Jedes Mal, wenn ich ein wenig lockerer wurde, es mir selbst erlaubte, etwas Spaß zu haben, überfielen mich wieder irgendwelche Gedanken an Beth und an diese Nacht, die wir miteinander verbracht hatten. Ich musste daran denken, dass sie die Einzige gewesen war, an die ich mich in meiner Not damals gewandt hatte. Und warum? Warum sie und nicht Ronny oder Henry oder sogar Eddy? Dachte sie auch an mich und hatte sie mich je geliebt?

Ein Güterzug brauste durch die Nacht. Ich saß dort oben, sah ihm zu und fragte mich, wo er wohl hinfahren mochte. Dieses erste Album – Shotgun Lovesongs – war gerade bei einer kleinen Plattenfirma erschienen und begann bereits, sich besser zu verkaufen, als irgendjemand es erwartet hätte (jede Woche ein paar hundert Exemplare). Ich bekam zwar noch kein Geld, aber es riefen schon die ersten Reporter an. Damals freute ich mich noch über jedes Interview, über jede Gelegenheit, die sich mir bot, über das Album zu reden, über den Hühnerstall, über Wisconsin und über meinen Liebeskummer.

Ronny tanzte oben auf dem Silo herum und warf unsere leeren Flaschen nach dem Güterzug. Er war gerade von einer Tour zurückgekehrt, bei der er sich ein blaues Auge geholt und einen Zahn verloren hatte – Souvenirs eines besonders grimmigen Stiers aus Cody, Wyoming.

»Bist du nervös?«, fragte ich Henry und sprach etwas lauter, um den Zug zu übertönen.

Er zuckte mit den Schultern, beugte sich nah zu mir herüber und sagte: »Ich weiß nicht. Ein bisschen vielleicht. Und gleichzeitig fühlt es sich so an, als würde es bis morgen noch ewig dauern, verstehst du? Ich glaube, ich bin ein bisschen nervös wegen der Zeremonie – dass ich das Falsche sagen könnte oder in Ohnmacht falle oder sonst irgendwas Dämliches.«

»Du machst das schon«, sagte Ronny und wischte Henrys Bedenken einfach weg, als verscheuchte er ein paar Schmetterlinge.

»Du hast echt großes Glück«, sagte ich.

»Ich weiß.«

»Beth ist … Sie ist einfach unglaublich. Ich freue mich wahnsinnig für euch zwei.« Ich nahm einen Schluck von meinem Bier und war froh, dass es dunkel war und Henry mein Gesicht nicht sehen konnte.

»Danke«, sagte er. »Alles okay bei dir, Lee? Du wirkst ein bisschen, ich weiß auch nicht, irgendwie ein bisschen neben der Spur heute Abend.«

Der Zug war endlich an uns vorbeigefahren. Ka-klonk-ka-klonk-ka-klonk. Dann ließ er seine Pfeife ertönen, diesen herrlichen Mitternachtsjazz, voller Hörner und Rhythmus … Ka-klonk-ka-klonk-ka-klonk…

»Nein – echt – mir geht’s gut, Kumpel. Alles in Ordnung.«

»Also gut«, sagte Henry, klopfte mir auf den Rücken, trank sein Bier aus und stand auf. »Ich glaube, ich werd mich mal aufs Ohr hauen. Morgen ist ein großer Tag.« Er reichte mir die Hand und ich schüttelte sie, nachdem ich die Bierflasche in meine Linke genommen hatte.

»Echt jetzt? Du wirfst das Handtuch? Es ist doch noch gar nicht spät!«

»Lee, es ist drei Uhr morgens! Du solltest auch mal ins Bett gehen.«

»Wie du meinst, Papi. Eh, in zwei Stunden wird’s hell. Komm schon. Wir gucken uns zusammen den Sonnenaufgang an, wie in alten Zeiten.«

Henry lachte nur, winkte uns freundschaftlich zu und stieg dann die Stahlbetontreppen der Mühle hinunter. Bald folgten ihm Eddy, die Girouxs und Kip, bis schließlich nur noch Ronny und ich übrig waren, so wie immer. Wir saßen einfach nur da, die Gesichter nach Osten, tranken die restlichen Bierflaschen aus, deren Inhalt immer wärmer wurde, und wechselten uns dabei ab, von der Spitze des Silos in die Tiefe zu pinkeln – für einen kleinen Nervenkitzel zwischendurch –, bis der Horizont allmählich verschwommene Umrisse anzunehmen begann und sich in ein immer heller werdendes Blau kleidete.

»Gleich kommt’s«, sagte ich.

»Das denke ich eher nicht«, sagte Ronny. »Blasé. Das wird ’ne ziemlich glanzlose Angelegenheit, das kann ich dir sagen. Ich prophezeie Regen.«

»Hast du gerade blasé gesagt?«

Er nickte. »Das ist Französisch für da gibt’s nicht viel zu sehen. Ich weiß auch so’n paar Sachen, du Arsch.«

Wir warteten auf die Farbenpracht der Morgendämmerung, aber vergebens. Schließlich gaben wir auf, kletterten müde und betrunken vom Silo herunter und schlichen uns zum Haus von Ronnys Eltern, wo Ronny sich in das Bett in seinem alten Kinderzimmer schmiss, während ich einfach auf der Erde einschlief. Mrs Taylor muss mich irgendwann später mit einer Decke zugedeckt haben. Gegen Mittag kam sie mit zwei Tassen Kaffee ins Zimmer, öffnete die Vorhänge und sagte verärgert: »Ihr zwei seid doch zu alt für so’n Mist. Ihr seid erwachsene Männer. Mensch noch mal, Lee, jetzt steh auf und mach dich fertig. In ein paar Stunden ist die Hochzeit.« Sie trat ganz leicht gegen mich, mit dem rosa Zeh ihres Plüschpantoffels.

...

Die Orgel verstummte plötzlich und alle, die uns angestarrt hatten, wie wir da vorne standen, drehten sich um und schauten nach hinten, wo Beth jetzt an der Seite ihres Vaters die Kirche betreten hatte. Sie war wunderschön. Schöner noch, als ich sie jemals zuvor gesehen hatte – und ich kannte sie seit einer Ewigkeit, länger als fast jeder andere hier, kannte sie, seit wir zusammen im Kindergarten gewesen waren und Beth Tierärztin hatte werden wollen. Ich musste so heftig schlucken, dass mir die Kehle schmerzte.

Und dann setzte die Orgel wieder ein, noch viel lauter als vorher – die alte Witwe gab jetzt alles –, und Beth kam nach vorne geschritten, langsam, träumerisch, als liefe sie Schlittschuh. Zweifellos haben alle in der Kirche sie genau so angestaunt wie ich: die Muskeln an ihren Armen, die Muttermale auf ihren Schultern, die Adern und Sehnen an ihrem Hals, ihre weißen Zähne, ihre feuchten Augen, die Spiralen braunen Haars, die tiefroten Lippen. Niemals in der Geschichte von Little Wing, Wisconsin, kann es eine Frau gegeben haben, die so schön war wie Beth in diesem Augenblick. Ihr einfach nur dabei zuzusehen, wie sie auf uns zugeschritten kam, reichte schon, um mich auf einen Schlag wieder vollkommen nüchtern werden zu lassen und mich aufrechter hinzustellen. Ich beobachtete die im Kirchenschiff sitzenden Männer, während Beth an ihnen vorrüberging, und sah, wie einige von ihnen den Blick senkten und auf die alten Schieferplatten mit den glattgewetzten Fugen im Kirchenboden starrten. Sie war so schön, dass man es fast nicht ertragen konnte. Danach erinnere ich mich nicht mehr an sehr viel. Nur noch daran, wie der Pfarrer mit ein paar Worten der Gemeinde bedeutete, sich wieder auf die Eichenholzbänke zu setzen, und uns, die wir vorne standen, anwies, sich nun zu ihm, der Braut und dem Bräutigam umzudrehen. Ich wandte mich in einer vorsichtigen, betrunkenen Pirouette auf dem Absatz um.

Von der Zeremonie selbst ist mir – wie gesagt – nicht besonders viel in Erinnerung geblieben. Die Solisten waren so lala, es wurden altbekannte Passagen aus der Bibel vorgelesen, der Pfarrer hielt einen Monolog über die Bedeutung der Familie, über das Geschenk, das uns gegeben wird, wenn wir Kinder bekommen, und über die reichen Schätze, die das Land hervorbringt. Ich trat von einem Fuß auf den anderen, stellte mir Beth vor, wie sie im Bett auf mir lag, ihre Lippen, ihr langes Haar, wie es mich herrlich duftend umhüllte, ihre strahlenden Augen, die sie hinter den mit Wimperntusche bedeckten Lidern verbarg. Scheiße, dachte ich. Reiß dich zusammen und hör auf damit.

Schließlich hob Henry geschickt und behutsam ihren Schleier und dann küsste er sie – die Konturen seines Kiefers wie die Klinge einer Sense, ihre Augen hingebungsvoll geschlossen, seine Hände um ihr Gesicht gelegt. Es war ein guter Kuss, vertrauensvoll und souverän, wie bei zwei Menschen, die wissen, was sie tun.

Als der Kuss endete, brach die Gemeinde in begeisterten Applaus und Pfiffe aus und dann schritt das frisch vermählte Paar den Gang hinunter, Hand in Hand, mit einem geradezu überirdisch glücklichen Lächeln im Gesicht, und ließ mich an meinem Platz zurück. Beth schien zu schweben, vollkommen schwerelos, als könnte sie jeden Augenblick in die Luft aufsteigen und einfach über die Kirchenbänke hinwegfliegen. Ich sah Ronnys Mutter in einer der Bänke sitzen; sie war mittlerweile vollkommen aufgelöst, verbrauchte ein Taschentuch nach dem anderen und klammerte sich an den Ärmel von Ronnys Vater Cecil. »Noch nie hat es eine so wunderschöne Braut gegeben. Noch nie, niemals«, hörte ich sie sagen.

In der Vorhalle der Kirche nahmen Braut und Bräutigam die Glückwünsche entgegen, neben einer riesigen Menge mexikanischer Hochzeitsplätzchen, die auf einem Tisch zu einer recht wackligen Pyramide aufgetürmt waren. Das Paar bedankte sich bei allen, bei jeder Großtante und jedem Großonkel, jedem Cousin ersten, zweiten und dritten Grades, jedem Schulfreund, Nachbarn und ehemaligen Lehrer. Ich folgte Ronny nach draußen auf den Parkplatz, zum Seiteneingang der Kirche, wo ein paar alte Farmer standen und Zigaretten ohne Filter rauchten und die jüngeren Tabaksaft in den Kies spuckten. Ronny schnorrte zwei Zigaretten von jemandem und wir stellten uns abseits und rieben uns die schmerzenden Köpfe. Oben im Turm begannen die Glocken zu läuten und dröhnten über das flache Land, und aus den Lebensbäumen schreckten plötzlich drei Dutzend Stare auf und barsten in den Himmel. Ich musste auf einmal an Mr Smith denken, unseren Lehrer in der fünften Klasse, der uns beigebracht hatte, dass eine Schar von Staren, die geschlossen zu ihrem Schlafplatz fliegt, manchmal aussehen kann wie ein Tornado.

Im nächsten Moment kam jemand um die Ecke der Kirche gehastet – eine von Beths Tanten, glaube ich – und sagte uns, wir sollten unsere Hände aufhalten. Und dann segelten unendliche Mengen von Rosenblättern in unsere erwartungsvoll aufgehaltenen Handflächen. Noch nie hatte ich etwas so Weiches und Rotes gesehen oder gefühlt. Sie wirkten so zerbrechlich – wirkten so, wie ich mich gerade fühlte – wie etwas, das vom kleinsten Windstoß einfach weggeblasen werden konnte. Ich stand dort, neben Ronny, mit einem schlimmen Kater und einem Gefühl leichter Trauer im Herzen und betrachtete diese Blätter in meiner Hand. Sie wogen so gut wie nichts. Dann ertönte plötzlich lautstarker Jubel und wir gingen zur Vorderseite der Kirche, wo sich der Himmel bereits mit unzähligen dieser zerpflückten Blumen gefüllt hatte – Tausenden von Blütenblättern, die durch die Luft taumelten und sich in den Haaren der Frauen verfingen.

Und dann waren sie weg. Sie stiegen in einen Lincoln ein – ein älteres Modell zwar, aber eben doch eine Limousine. Zweifellos war sie im Fond mit der üblichen Flasche Sekt und einer Schachtel Pralinen ausgestattet. Und da war Beth, steckte ihren Kopf durch das Schiebedach, so glücklich, so wunderschön, so strahlend. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt zu mir herübergeschaut, mich überhaupt gesehen hat, während sie ihren Freunden und Verwandten Kusshände zuwarf, um dann wieder im Innern der Limousine zu verschwinden. Aber ich sah sie und ich werde diesen Augenblick nie vergessen, wie ich dort stand, mit den Blütenblättern in den Händen – den Blüten, die vergeblich darauf warteten, geworfen zu werden.

Während die Menge sich zerstreute, blieben Ronny und ich auf den Sandsteintreppen der kleinen Kirche sitzen. Die Glocken läuteten immer noch und unter unseren Füßen lagen überall Rosenblätter verstreut. Wir schauten in die Landschaft hinaus, wo ein einzelner Traktor die schwarze Erde umpflügte. Über ihm lauerte eine kleine Schar von Vögeln auf die Würmer, die beim Pflügen an die Erdoberfläche kamen.

»Ich hab einen echt beschissenen Kater«, sagte Ronny.

»Hmm.«

»Du machst keinen so besonders glücklichen Eindruck, Kumpel. Das zieht mich irgendwie runter.«

»Ist nur das Wetter, glaube ich. Es ist alles so schrecklich trübe.«

»Na, bald wird’s überall grün.«

»Sollen wir gehen?«

»Ich kann Mom bitten, uns mitzunehmen.«

»Okay.«

...

Als Ronny und seine Eltern schon längst im Palladium-Tanzsaal verschwunden waren, lief ich noch lange auf dem Parkplatz auf und ab. Ich hatte Angst, ich könnte vielleicht zu spät kommen, aber ich war auch zu stolz, um zu früh aufzutauchen. Und darum lief ich weiter, eine jämmerliche Gestalt in gemietetem Smoking, während mir der Kummerbund dermaßen in den Bauch schnitt, dass ich mir vorkam, als trüge ich ein Korsett. Ich sah zu, wie die Gäste in den Saal gingen, die meisten von ihnen gehörten zu Beth. Dann kamen fünf Autos mit Henrys Farmerverwandtschaft, alles kräftige, durchtrainierte, vor Gesundheit strotzende Leute, mit sonnengebräunten Gesichtern und Hälsen, auch wenn ihre mächtigen Brustkörbe und flachen Bäuche zweifellos so bleich waren wie die Unterseite eines Fischleibs. Sie kamen alle aus der Umgebung von Little Wing, aus den vielen kleinen Farmerstädtchen, in denen sich überall die gleiche traurige Geschichte vom wirtschaftlichen Niedergang vollzog: ein mit Brettern vernageltes Kino, eine leerstehende Woolworth- oder Sears-Roebuck-Filiale und ein Gebrauchtwagenhändler, der nie auch nur ein einziges Auto zu verkaufen schien. Ich winkte ein paar von Henrys Cousins und Onkeln zu, Männern, die ich flüchtig kannte. Die Sonne hatte die Wolken nach und nach vom Himmel gebrannt, der nun die Farbe eines Sorbets angenommen hatte: lauter amerikanische Pastelltöne, die den fruchtbaren Horizont umwirbelten.

»Tja«, sagte ich schließlich laut zu mir selbst – »ich kann nicht den ganzen Abend hier draußen rumstehen.« Dann schleppte ich meinen erbärmlichen Hintern zum Empfang. Die Leute standen in kleinen Grüppchen zusammen, tranken Bier oder schlürften Cocktails aus roten Plastikbechern. Ich war dankbar, als Ronny sich mit zwei Bierdosen in der Hand zu mir gesellte.

»Trinken wir gegen den Kater an«, sagte er und stieß mit seiner Dose gegen meine.

»Dafür ist es wohl ein bisschen zu spät.«

»Jetzt werd mal’n bisschen fröhlicher, du Penner, und trink dein Bier.«

An einem Ende des rechteckigen Raumes befand sich eine Bühne, auf der ein DJ saß – ein etwas übergewichtiger Mann im Smoking und mit roten Hosenträgern. Ich sah ihm zu, wie er etwas auf seinem Laptop überprüfte und dann die hinter ihm stehende Wand aus überdimensionalen Lautsprechern zurechtrückte. Auch der Pfarrer war da. Er saß auf einem Klappstuhl aus Metall und hielt eine Flasche Grain Belt zwischen seinen dicken Fingern. Ich wusste, dass er früher einmal Schweinezüchter gewesen war. Er benutzte häufig Bilder aus der Landwirtschaft in seinen Predigten – sprach von der Ernte und den Früchten der Erde. Durch eine Reihe von Fenstern an einer Seite des Raumes konnte ich draußen ein paar unserer Highschoolkumpels sehen, wie sie barfuß in dem ungemähten Frühlingsgras mit Hufeisen warfen und rauchten. Es waren fast alle dort. Sie lachten und scherzten hinter ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen und wurden langsam wieder warm miteinander. In diesem Augenblick widerstrebte mir das alles. Das Klirren der Hufeisen, wenn sie gegen die kleinen Stahlpflöcke in der Erde schlugen. All diese begeisterten Ooooohhhhhs!!!! und Aaaahhhhs!!!!.

Der Saal füllte sich allmählich mit Leuten. Die Älteren setzten sich an die runden Tische, die im Raum standen, die jüngeren an die Bar, und jetzt trafen auch die Brautjungfern ein, was vereinzelten Applaus auslöste. Und dann kamen zum Klang von Queens »We Are The Champions« Beth und Henry ins Palladium. Sie streckten die Hände mit den glitzernden Ringen in Siegerpose in die Luft und umarmten alle, die ihnen auf dem Weg zur Bühne begegneten. Dort krönte eine langgezogene Festtafel den Raum.

»Bitte begrüßen Sie mit einem herzlichen Applaus: Mister und Missus Henry und Bethany Brown!«, rief der DJ.

Die Menge brach in frenetischen Jubel aus, als Beth und Henry ihre Plätze auf der Bühne einnahmen, und dann erklang diese gute alte Kakophonie aus Besteck und Glas, die aneinanderklingen, während jeder Onkel, jeder Neffe, jeder beste Freund das Meer aus Stimmen anpeitschte, aus dem bald nur noch ein einziger Sprechchor aufstieg: Küss sie! Küss sie! Küss sie! Küss sie! Und dann bog Henry Beth zurück, als sei sie ein Schilfrohr, ein einzelner winziger Grashalm, bog sie so weit, bis ihr eleganter, schwerelos wirkender Körper fast waagerecht über der Erde hing, und hielt sie mit seinen starken Armen dort fest.

Vor dem Essen stand der Pfarrer auf, ohne irgendwelche Notizen oder eine Bibel in der Hand – er hatte das alles schon tausendmal gemacht – und sagte: »Bitte sprecht mit mir ein Gebet … Gütiger Gott, segne dieses wunderbare Paar – Beth und Henry … Fülle ihre Herzen jeden Tag mit Liebe und Ehrfurcht, mit Geduld und Güte … Herr, segne diese Neuvermählten. Möge ihr Zusammenhalt jeden Tag fester werden, möge aus ihnen eine Familie werden, die wächst und der Kinder geschenkt werden, so wie auch ihre Liebe wachsen möge. In deinem Namen sprechen wir dieses Gebet.«

Und der Raum antwortete: »Amen.« Und ich sagte es auch: »Amen.«

Ich setzte mich an die Bar und schaute dem Ganzen zu: sah, wie das Brautpaar den ersten Tanz anführte, sah den Vater-Tochter-Tanz, den Ententanz, den Mambo-Reihentanz und den Electric Slide. Mir war nicht nach Tanzen zumute. Ronnys Eltern, die mich kannten, seit ich klein war, kamen zu mir herüber, von einem der Tische, wo sie mit anderen Elternpaaren gesessen hatten.

»Ist sie nicht wunderschön?«, fragte mich Ronnys Mutter Marilyn und küsste mich auf die Wange.

»Hallo, Mrs Taylor«, sagte ich.

»Nette Party«, sagte Ronnys Vater Cecil. »Wirklich nette Party.« Er hielt eine Dose Bier in seinen riesigen Händen. Cecil hatte einen Job als Bauarbeiter, war immer sonnenverbrannt und roch immer nach einer Mischung aus frischer Luft und Asphalt. Aber er liebte die Musik, hatte Konzerte von Lynyrd Skynyrd, Cream, MC5, den Stones und Led Zeppelin besucht. Er war der erste Mensch, mit dem ich einen Joint geraucht hatte, unten im Keller, an der Bar, die sie sich dort gebaut hatten. »Wie läuft’s mit deiner Musik, Lee?« Seine Stimme schien nur noch aus Zigarettenqualm zu bestehen und klang so rauh wie die Straßen, die er asphaltierte.

»Es wird, es wird«, antwortete ich.

»Gleich kommt der Dollartanz«, sagte Marilyn und ihre Stimme klang ganz begeistert.

»Hast du fünf Dollar, Cecil?«, fragte sie.

»Fünf Dollar!«, rief er lachend. »Es geht hier um Beth! Wir kennen sie schon seit einer Ewigkeit!«

»Das ist doch nur, damit sie sich eine schöne Hochzeitsreise leisten können!«, erwiderte sie. »Und außerdem will ich auch mit Henry tanzen. Er sieht richtig gut aus. Hat er schon die Farm von seinem Vater übernommen?«

Cecil reichte ihr einen Fünfdollarschein und Marilyn nahm das Geld und ging zu der Schlange von Leuten, die mit Henry tanzen wollten. Es hatten sich schon ziemlich viele Frauen vor ihr angestellt.

»Na, Jungs«, sagte Cecil. »Da habt ihr’s. Zwei eurer besten Freunde verheiraten sich miteinander. Wenn ihr mich fragt, dann ist das die allerbeste Methode. Heirate deine beste Freundin. Denn eins kann ich euch sagen, mit dem Sex wird’s irgendwann vorbei sein, glaubt mir, und dann habt ihr da ’nen anderen Menschen an der Backe und starrt euch nur noch an. Da sucht man sich doch lieber jemanden, mit dem man sich wenigstens gut unterhalten kann. Und dem wirklich was an einem liegt.«

Ronny und ich starrten seinen Vater an.

»Hört mal, ich weiß ja, wie ihr euch fühlt«, sagte er, nahm einen Schluck Bier und zog sich einen Stuhl heran. »Ich weiß, wie das ist.« Er nickte und trommelte mit den Fingern gegen die Bierdose. »Ihr glaubt immer, eure Väter würde es nicht kümmern, was ihr so tut und denkt, aber das stimmt nicht.« Er strich sich über den Schnurrbart und rückte dann seine Hose zurecht, die ein wenig heruntergerutscht war. »Alle heiraten, außer euch zweien. Und jetzt auch noch das. Schaut euch das an. Wahrscheinlich hätte sie auch genauso gut einen von euch heiraten können. Ihr seid ja schließlich auch mit ihr befreundet. Henry hatte einfach mehr Grips als ihr. Hat entschlossener gehandelt.«

»Dad –«, sagte Ronny.

»Ich weiß noch, wie ich zu so ’ner Talentshow von eurer Schule gegangen bin. Da hat sie ein Lied gesungen … Ich glaube, es war ›California Dreaming‹. Und ich erinnere mich noch, wie ich dasaß und dachte: Dieses Mädel ist was ganz Besonderes. Das war doch Beth, oder nicht?«

Ich hatte tatsächlich vergessen, dass Beth eine ganz ausgezeichnete Sängerin war, denn sie sang nicht besonders oft, hielt damit hinterm Berg, war nicht einmal im Kirchenchor. Aber manchmal erwischte man sie bei einer Party oder einer Autofahrt, wie sie plötzlich alle Hemmungen vergaß und lossang, und dann erklang diese unglaubliche Stimme, absolut selbstsicher und wunderschön. Wäre ich ein klügerer Mann gewesen, dann hätte ich sie gebeten, ein Duett mit mir aufzunehmen. Aber vielleicht war es ja – Henry zuliebe – besser, dass ich es nie getan hatte.

Cecil stand auf, fuhr sich über den Schnurrbart und strich seine Haare zurück. Wir schauten ihm zu, wie er sich zurechtmachte. Er rückte seinen Schlips gerade, strich die Revers seines Jacketts glatt und klopfte sich etwas Staub von den Ärmeln und Schultern. Dann nahm er einen letzten Schluck Bier und schaute zur Tanzfläche, wo Beth und Henry eifrig damit beschäftig waren, mit allen zu tanzen, die sich angestellt hatten. Der Trauzeuge und die Trauzeugin hielten Hüte in den Händen, die schon vor Geld überquollen.

»Ich weiß nicht, was du für’n Problem hast, Lee«, sagte er in einem nun etwas strengeren Tonfall. »Aber du schmollst hier schon den ganzen Nachmittag rum. Das ist keine Art, so darf sich der beste Freund des Bräutigams einfach nicht aufführen. Und verdammt noch mal, jetzt hast du’s sogar geschafft, dass Ronny sich auch hier hinten rumdrückt und mit dir mitschmollt. Ich bin zwar nicht dein Vater, aber ich bin mir sicher, wenn der jetzt hier wäre, dann würde er sagen, hört auf, euch wie Arschlöcher zu benehmen, und macht, dass ihr da rauskommt und mit euren Freunden tanzt, bevor sie ins richtige Leben verschwinden.« Dann ließ er uns ohne eine Antwort abzuwarten stehen, obwohl wir, um ehrlich zu sein, auch gar nicht gewusst hätten, was wir ihm entgegnen konnten. Wir ließen die Köpfe hängen wie zwei kleine gescholtene Jungs, tranken ein paar letzte Schlucke aus unseren Bierdosen und folgten Cecil zu der Dollartanz-Warteschlange. Ronny zuerst und dann ich, als Schlusslicht.

Während der nächsten zwanzig Minuten bewegten wir uns nur zentimeterweise vorwärts. Der DJ spielte ein Liebeslied nach dem anderen, quer durch die Jahrzehnte der amerikanischen Popmusik. Ich sah, dass Ronny ein paar zerknüllte Eindollarscheine in der Hand hatte, und durchwühlte meine Taschen, wo ich einen Fünfdollarschein fand. Das war alles, was ich nach fast zwei Tagen ununterbrochenen Saufens noch hatte. Dann war Cecil an der Reihe. Er gab der Trauzeugin etwas Geld und ging dann zu Beth auf die Tanzfläche. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und klatschte dann begeistert, als sie sah, dass Cecil Taylor in seinen blankpolierten schwarzen Cowboystiefeln gekommen war, um mit ihr zu tanzen.

Wir sahen, wie Cecil auf sie zuging. Aber bevor er sie ganz erreicht hatte, blieb er stehen und beugte vor ihr das Knie. Ich hatte so eine Geste noch nie zuvor bei einer Hochzeitsfeier gesehen – sie war so ritterlich, dass man sie von Cecil nie im Leben erwartet hätte; Cecil, dem Bauarbeiter und Skynyrd-Fan. Beth legte sich eine Hand auf die Brust und ging dann zu ihm und half ihm wieder auf, so wie es wohl auch eine gütige Königin mit einem alten Ritter getan hätte. Und als sie sich umarmten und zu tanzen begannen, da fiel mir zum ersten Mal der liebevolle Blick in seinen Augen auf. Ich schaute zu, wie er mit Beth tanzte, und dieser Anblick reichte schon, um mir erneut das Herz in tausend kleine Stücke zu zerbrechen. Ein erwachsener Mann, der sich vielleicht immer eine Tochter gewünscht hatte und nun mit einer erwachsenen Frau tanzte – einer der besten Freundinnen seines Sohnes.

Ich sah auf meine Hände und dachte daran, wie sich die Rosenblätter darin angefühlt und wie wenig sie gewogen hatten.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wie Cecils Tanz mit Beth endete oder wie Ronnys Tanz mit ihr begann. Ich weiß nur noch, wie ich in der Schlange stand und wartete. Liebeskrank und traurig. Als ich an der Reihe war, gab ich der Trauzeugin meinen Fünfdollarschein und ging dann wie in Trance hinaus auf das zerkratzte Parkett. Ich nahm Beths Hand in meine Linke, legte meine Rechte auf ihre Hüfte und wartete, bis sie ihre andere Hand auf meine Schulter legte. Dann begannen wir uns langsam umeinanderzudrehen, so wie man auf einem Abschlussball oder einer Schulfeier tanzen würde. Ich hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr berührt, und wir bewegten uns zunächst ein wenig zögerlich, bis wir schließlich den richtigen Takt für unsere langsamen Umdrehungen fanden. Unsere Hände waren feucht von Schweiß. Ich sah ihr unverwandt ins Gesicht, während ihre Augen hierhin und dorthin schweiften. Sie sah nicht unglücklich aus, aber auch nicht glücklich, und schließlich legte sie, wenn auch vielleicht nur aus Erschöpfung, leicht ihren Kopf auf meine Schulter.

»Geht’s dir gut?«, fragte sie. »Du machst ein wenig den Eindruck, als stündest du etwas neben dir …«

»Es ist schon okay. Ich weiß auch nicht, was los ist. Aber das Wichtigste ist, dass du heute Abend wunderschön aussiehst.«

»He!«

»Ja?«

»Werd jetzt nicht komisch, ja? Henry und ich sind schon immer zusammen gewesen. Das weißt du.«

»Ich weiß.«

»Lee, du gehörst zur Familie, okay? Jetzt komm schon. Mach ein glückliches Gesicht.«

»Ich weiß. Ich verstehe schon.«

Ich wollte sie küssen, wollte die Musik anhalten, den Tanz, das Sektgelage. Ich wollte allen und jedem, der dort war, erzählen, dass Beth und ich etwas geteilt hatten – etwas Reales und Besonderes – und dass ich vielleicht, vielleicht, immer noch in sie verliebt war, und sie in mich. Aber das konnte ich natürlich nicht. Also zog ich sie einfach nur eng an mich heran und schaute ihr direkt in die Augen. Ich spürte, dass einige der Gäste uns zusahen, während wir uns auf der Tanzfläche drehten, so eng aneinandergepresst, dass wir uns mit dem Unterleib berührten; Gesichter wie das von Cecil oder Ronny, die uns anstarrten und zweifellos gerade dachten: Mein lieber Mann, der drückt die aber ganz schön eng an sich.

Ihre Hand passte so perfekt in meine, als wäre sie dafür gemacht, und ich überließ mich einem kurzen Tagtraum: wie wir beide zusammen in einem weißen Bett lagen, unsere Gliedmaßen ineinander verschlungen, ihr kastanienbraunes Haar ausgebreitet, das morgendliche Sonnenlicht und die Freude, zusammen ein Kind zu zeugen. Ich sah, wie ihre Haare mit der Zeit immer weißer wurden, erst nur ein paar Strähnen, dann immer mehr und schließlich, nach langen Jahren, war ihr ganzer Kopf weiß, und dann wurde ihr Haar ganz schwach und brüchig und spröde. Ich sah ihr Gesicht, wie es jetzt war, und stellte mir vor, wie es in ferner Zukunft sein würde, nachdem die Sonne darin ihre Spuren hinterlassen hatte, die Sonne und die Kälte und die Präriewinde, und die Momente, in denen sie ihre Augen zusammenkniff oder in denen sie lachte. Gott im Himmel, es machte mich so unendlich traurig, mich aus diesem Traum reißen zu müssen, nur um der Zukunft in die Augen zu sehen, die tatsächlich vor mir lag, Jahrzehnte ohne diese Frau, Jahrzehnte, in denen ich sie mit meinem besten Freund zusammen sehen musste. Aber so war es eben.

»Vielleicht ist das, was ich eigentlich sagen sollte, ja, dass es mir leidtut.«

Sie sah mich an. »Was tut dir leid, Lee?« Wir hatten aufgehört zu tanzen.

»Nein«, sagte ich. »Bitte hör nicht auf, mit mir zu tanzen. Ich meine ja nur, ach, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es ist einfach … es tut mir leid, wegen dieser Nacht damals. Es tut mir leid, was passiert ist.«

Sie hatte ihren Kopf wieder auf meine Schulter gelegt und ich konnte ihre Augen nicht mehr sehen. Dann sagte sie: »Lee, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe schon seit Monaten nicht mehr an diese Nacht gedacht. Wir waren einfach so wahnsinnig glücklich, Henry und ich. Alle waren so glücklich.«

»Ich war nicht glücklich.«

»Ich will nie wieder darüber reden, okay? Ich will nicht einmal mehr daran denken.«

»Okay.«

»Und ich will auch nicht, dass du daran denkst. Okay? Lee? Es ist passiert«, sagte sie, »und jetzt lassen wir das hinter uns.«

»Beth?«

Sie schaute zu mir hoch.

Ich liebe dich, wollte ich sagen. »Nichts«, sagte ich. »Mach dir keine Gedanken mehr deswegen.«

Und dann schwiegen wir. Es gab nur noch das stetige Verlagern unseres Gewichts von einem Fuß auf den anderen, bis hinein in die kleinsten Regungen unserer Körper: das Blut, das in unseren Adern zirkulierte, unsere sich weitenden Lungen, die Blitzlichter in den Nervenenden unserer Gehirne, unsere Haare, die vom winzigsten Luftstrom oder Atemhauch vibrierten, und das Blinzeln unserer traurigen Augen, die das Licht und die Dunkelheit in sich aufnahmen. Unter unseren Füßen federte fast unmerklich der Parkettboden des alten Palladium-Ballsaales. Ich musste an eine Nacht denken, die unendlich viele Jahre zurücklag, als Henry, Beth und ich noch Kinder waren und ein kleines Stoffzelt am Lake Wing aufgestellt hatten. Wie die Lichter unserer Taschenlampen durch die Dunkelheit getanzt waren. Der Klang unseres mitternächtlichen Lachens.

Das Lied ging zu Ende und plötzlich stand ein alter Herr mit faltigem, zerknittertem Gesicht neben mir, der sich auf einen Stock stützte, mir mit dem Finger auf die Schulter tippte und dabei breit lächelte. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er, »aber Sie werden mir sicherlich verzeihen, wenn ich jetzt übernehme. Ich hab heutzutage nicht mehr so besonders viele Gelegenheiten, mit einer jungen Dame zu tanzen.« Und dann reichte er mir seinen Stock, als wäre ich ein Garderobenständer oder eine Hutablage. Beth küsste mich flüchtig auf die Wange und machte dann einen höflichen Knicks für den alten Mann. Sie fingen an zu tanzen, und ich ging wieder zur Bar zurück, wo ich mir ein Bier geben ließ und mich dann neben Ronny und Eddy stellte.

»Diese alten Knacker, auf die muss man höllisch aufpassen«, sagte Eddy. »Die sind eiskalt.«

Ich blieb bis zum Ende, bis die Lichter ausgingen und alle enttäuscht aufstöhnten und nach mehr verlangten: nach mehr Musik, mehr Bier, mehr Tanz, mehr Spaß. Beth und Henry winkten uns zu, als sie das Gebäude verließen. Draußen kletterten sie in ihre Limousine und fuhren zu einem Hotel in Eau Claire. Ich winkte zum Abschied, mit allen anderen zusammen, winkte, bis ich die roten Rücklichter nicht mehr sehen konnte.

Und dann ging ich mit Ronny und seinen Eltern nach Hause, legte mich bei ihnen auf die Couch und schaute dem Deckenventilator zu, wie er sich drehte. Ich war nicht müde. Nicht im Geringsten.

Um vier Uhr morgens stand ich vor dem Hotelzimmer, meine rechte Hand in die Luft erhoben, meine Fingerknöchel nur wenige Millimeter von der Tür entfernt – der Tür des Zimmers, in dem Beth und Henry schliefen, frisch verheiratet und sorglos glücklich. Die Flure des Hotels waren menschenleer und der Nachtportier starrte auf den Bildschirm eines winzigen tragbaren Fernsehers, den er sich hinter den Empfangstresen gestellt hatte. Das einzige Geräusch, das zu hören war, kam von der Eismaschine.

Aber ich konnte es nicht. Konnte nicht klopfen. Weil zu viel Zeit vergangen war. Weil wir alle erwachsen waren. Weil es Grenzen gibt, die erwachsene Menschen nicht überschreiten. Und dies war eine davon – zwei Menschen, die ganz normal und ordentlich geheiratet hatten. Welchen Grund, welchen überhaupt nur denkbaren Grund hätte ich haben können, das jetzt zu zerstören? Und warum? Warum jetzt? Warum nicht vor einem Jahr? Oder zwei? Oder fünf? Cecil hatte recht: Sie hatte mein ganzes Leben lang nur fünf Meilen entfernt von mir gelebt und jetzt stand ich hier, in einem muffigen Hotelflur, während ein Guckloch mir in mein jämmerliches Gesicht starrte und ich die Faust erhoben hatte, um was genau zu verkünden? Liebe? Freundschaft?

Ich dachte an die Zukunft, an meine Zukunft, mein Leben und ich konnte sehen, wie es sich vor mir ausbreitete, sah es so genau, wie ich die Landschaft um Little Wing kannte, die Hügel, Täler, Sumpflöcher, die ausgetrockneten Flussarme, die Felsrücken, Landstraßen, Maisfelder, Eisenbahnschienen und Wildwechsel. Ich konnte es alles vor mir sehen: wie ich fortfahren würde zu schreiben und Musik zu machen und durch die Gegend zu touren und dass ich bald Erfolg haben würde. Die ersten Zeitschriften würden Besprechungen drucken und dann Geschichten über mich schreiben. Man würde mir Aufträge geben, um Lieder für Fernsehshows zu schreiben oder auch Filmmusik, bis ich eines Tages auf einer Bühne stehen würde, mit einem kleinen goldenen Grammophon in der Hand, und eine Rede vor einem Publikum halten würde, in dem meine eigenen Vorbilder saßen. Ich konnte es sehen, weil ich an meine Musik glaubte, an meine Stimme und weil ich die Musik kannte, die ansonsten in der Welt gemacht wurde. Ich konnte sehen, dass Henry und ich uns allmählich auseinanderleben würden, schrittweise, in Abständen von Wochen und Monaten und dann von Jahren, bis er schließlich, wenn ich ihn anrief, nicht einmal mehr meine Stimme erkennen würde. Meine Freunde würden Familien gründen, Kinder haben und in gemütliche Häuser ziehen – Häuser mit müden, alten, gemütlichen Möbeln. Während ich mit Frauen ausgehen und Frauen heiraten würde, die mich erst liebten und dann verabscheuten, die nicht das Geringste von mir wussten oder verstanden, denen ich in kürzester Zeit langweilig wurde, die meine Heimatstadt verachteten und meine Freunde nur duldeten. Und dann, eines Tages, würde es nichts mehr geben, zu dem es sich lohnte heimzukehren. Keine Freunde mehr, keine Familie, keine lachenden Gesichter, keine Begrüßung, keine Gutenachtrufe. Ich sah mich, wie ich ein riesiges Penthouse kaufte oder vielleicht eine Strandvilla irgendwo an der Küste, ein Grundstück mit einer gigantischen, selbstsüchtigen Aussicht, und ich sah mich durch die Gänge des Hauses irren, rastlos, wie ein alter Hund.

Ich senkte meine Faust und atmete Jahre der Liebe aus. Ich ging den Flur entlang, hinaus in den frühen Morgen, stieg in das Auto von Ronnys Eltern und fuhr den ganzen Weg nach Little Wing zurück.