Ich lenkte den Umzugswagen an den Rand der Uecker Road, zu der Mündung meiner Auffahrt, wo sich der Schotter wie ein davongerolltes Murmelspiel über den Asphalt verstreut hatte. Meine Post war während der letzten Monate nach New York weitergeleitet worden, aber trotzdem lagen neben meinem Briefkasten ein paar Wurfsendungen und Briefumschläge im Dreck und zwischen dem Unkraut. Ich bückte mich und sammelte das durchnässte Papier auf. Die Briefe lagen überall verstreut und viele waren mit der Hand adressiert – Fanpost. Ich kann immer schon von weitem an der Schrift erkennen, von wem sie stammt. Rosafarbene Tinte, ein Alphabet aus lauter putzigen Luftblasen, unzählige Ausrufezeichen: ein dreizehnjähriges Mädchen mit gebrochenem Herzen. Große, wütende Buchstaben, gelbes DIN-A4-Papier, falsch geschriebene Wörter, die durchgestrichen sind: ein Fleischverpacker oder Rohrleger Anfang, Mitte zwanzig, der grade eine harte Zeit durchmacht. Manche der Briefe hatte der Wind bis in den Graben geweht. Meine Beine waren vom Fahren müde, aber während ich in den Straßengraben und in das Schilfgras hinunterstieg, entkrampfte sich wenigstens mein Rückgrat wieder etwas, und das fühlte sich gut an. Meine Redwing-Stiefel waren sofort durchnässt und meine Socken klitschnass. Ich hatte keine Ahnung, wann diese Briefe angekommen waren, wie lange sie schon im Straßengraben lagen, während der Regen die Tinte aus ihnen herauswusch, aber ich konnte sie dort unmöglich liegen lassen, wie eine Handvoll Müll – als wären sie mir egal. Denn sie waren mir nicht egal. Ich freute mich sehr über sie. Besonders in diesem Moment, bei meiner Heimkehr. Das war ganz so, als hätte jemand ein riesiges Plakat mit der Aufschrift WILLKOMMEN ZU HAUSE über die Auffahrt gespannt. Obwohl natürlich niemand wusste, dass ich heimkehrte. Außerdem hatte ich nun etwas zu lesen, jemanden, an den ich schreiben konnte, wenn mir die Einsamkeit zu viel wurde.
Als ich sicher war, dass ich alle in der Gegend verteilten Briefe bis zum letzten eingesammelt hatte, legte ich das nasse Bündel auf die Sitzbank des Trucks und ging dann zu der dicken Stahlkette, die ich quer über meine Einfahrt gespannt hatte. Es war gerade mal sechs Monate her, dass ich auf jeder Seite der Auffahrt zwei Löcher gegraben und zwei Pfähle in den felsigen Boden gerammt hatte. Dann hatte ich Zement in den Hohlraum um die Pfähle gegossen und, nachdem er hart geworden war, die Kette an den Pfählen befestigt, das Ganze mit einem Vorhängeschloss versehen und war dann in ein Flugzeug von Minneapolis nach New York gestiegen. Ich hatte noch nie so etwas gemacht, hatte nie zuvor mich selbst oder mein Haus vor der Außenwelt abgeschottet, niemals eine Notwendigkeit dafür gesehen, trotz der paar Journalisten, Autogrammjäger oder Groupies, die hier und da mein Grundstück unbefugt betreten hatten. Ich weiß noch, dass ich dachte: Diese Kette ist etwas vollkommen Neues, eine Art Zeichen, dass mir Little Wing und Wisconsin nicht mehr so am Herzen liegen. Das hatte mir irgendwie Angst gemacht. Aber das war im Frühling gewesen, vor meiner Hochzeit, als ich offiziell noch alleinstehend war. Und jetzt war ich wohl auch wieder alleinstehend, auch wenn wir formal – juristisch – gesehen nur getrennt lebten. Wir würden uns scheiden lassen, Chloe und ich. Ich trug den Ehering zwar noch am Finger, aber mit jedem Tag, der verging, fühlte sich das lächerlicher an. Während der ganzen Fahrt von New York nach Hause hatte ich meinen linken Arm aus dem Fenster hängen lassen, damit sich meine Haut in der Nachtluft zusammenzog und der Ring vielleicht irgendwo unterwegs verlorenging. Aber er klammerte sich fest, umschloss meinen Finger noch genauso eng wie vorher. Eine Art Liebessouvenir, dachte ich, und drehte ihn unablässig um sich selbst.
Ich steckte den Schlüssel in das silberne Vorhängeschloss und es sprang mit einem Ruck auf. Vielleicht sollte ich den Ring ja an irgendeinen Fan schicken, dachte ich, das wäre doch ’ne tolle Idee, was? Ich legte die Kette zu einem glitzernden Haufen am Rand der Auffahrt zusammen, ging zurück zum Umzugswagen, ließ den Motor an und lenkte das schwerfällige Fahrzeug in einer Wolke schwarzblauer Abgase von der Straße. Der Wagen mühte sich fast widerwillig die nicht enden wollende Auffahrt hinauf und ich strich ihm liebevoll übers Armaturenbrett; schließlich hatte er mich nach Hause gebracht. Über mir formten die herbstlich gefärbten Ahornbäume einen Baldachin, einen Tunnel aus Feuer – ein einziges orangerotes, gelbes Glühen, mit letzten Einsprengseln von Grün. Ich kurbelte das Fenster ganz hinunter, legte meinen Ellbogen auf die Tür, obwohl es draußen ziemlich kalt war, und atmete tief die Luft ein.
Zu Hause.
In den Schlaglöchern aus Kies und Erde stand das Regenwasser, und ich versuchte, mit den Reifen des Umzugswagens jedes einzelne davon zu treffen. Ich habe dieses spritzende Geräusch schon immer geliebt und das Gefühl, wenn die Federung unter meinem Sitz hüpft und ächzt. Langsam, Meter um Meter näherte ich mich meinem Haus und der Wiese und den Bäumen, die ich selbst gepflanzt hatte, und dem Bach, der dahinterlag.
Ich entspannte mich, spürte, wie sich meine Schultern lockerten, meine Augen sich weiter öffneten. Ich hatte mich seit Monaten nicht mehr so gefühlt.
Hatte mich nicht mehr gesund gefühlt.
Zu Hause.
Der Wald öffnete sich zur Wiese hin, und in dem Licht des frühen Morgens konnte ich erkennen, dass sich an einigen Stellen die Sommergräser und die Himbeersträucher schon gelbbraun verfärbt hatten. Und dann, sieh nur: eine Schar von einem Dutzend oder mehr Rehen, die Ohren plötzlich gespitzt, die weißen Schwänzchen wie Warnsignale aufgerichtet. Was mochten sie denken, während sie auf dieses große, kastenförmige, unbekannte Fahrzeug starrten? Erkannten sie mich wieder? Ich sah, wie ihre Haut und Muskulatur vor Angst und Aufregung zuckte. Ich winkte ihnen zu, wie der letzte Trottel, winkte, wie man es tut, wenn man weiß, dass man allein ist, und brüllte aus dem Fenster: »He, Rehe! Ich bin wieder da! Lee ist wieder da!« Da sprangen sie davon.
Ich muss einen Salzblock auf die Wiese stellen, dachte ich. Ich werde Gesellschaft brauchen.
Ich parkte den Umzugswagen vor dem Haus und ging zur Eingangstür. Dann hantierte ich mit den Schlüsseln herum, schloss auf und ließ die Tür weit offen stehen, damit ich ein paar Fuhren hineintragen konnte. Ich streckte mich, ächzte, kratzte mir den Kopf und wollte eigentlich nur noch unter die Dusche, mir die Zähne putzen und ein Glas mit kaltem Wasser trinken. Das Wasser schmeckt besser hier, schmeckt überhaupt nach etwas – nach Eisen, dachte ich. Aber vielleicht schmeckt es auch eher nach dem, was fehlt. Es fehlt der Geschmack nach Chlor und Schwefel, der Geschmack, der entsteht, wenn etwas Tausende Male wiederaufbereitet wurde. Draußen waren die Rehe ganz vorsichtig zurückgekehrt und sammelten sich im Schatten der Bäume, die die Weide säumten. Es gab so viel zu tun und gleichzeitig war nichts zu tun. Am liebsten hätte ich mir einfach nur eine Tasse Kaffee gemacht, mir auf der Veranda eine Zigarette angezündet und dann vielleicht nachgeschaut, ob der alte Traktor noch ansprang. Ich lief bestimmt fünf Minuten in der Diele im Kreis herum, einfach nur wahnsinnig glücklich, wieder zu Hause zu sein.
Zu Hause.
Die Luft im Haus roch abgestanden. Überall lagen tote Fliegen auf den Fensterbänken und auf dem Boden. Alles war mit einer Staubschicht überzogen: die Möbel, meine Bücher, der Fernsehschirm. Ich drehte den Wasserhahn in der Küche auf, aber die Rohre gaben nur ein heiseres Husten von sich, als hätten sie mir etwas mitzuteilen, wären aber nicht ganz sicher, ob sie es auch aussprechen sollten. Mir fiel ein, dass ich das Wasser abgestellt hatte; ich hatte natürlich nicht damit gerechnet, so bald schon wieder zurückzukehren. Aber es war anders gekommen. Ich ging in den Keller und stellte das Wasser wieder an, hörte, wie der Hahn in der Küche spuckte und krächzte und wie sich das Wasser erst stockend und dann immer stetiger in die Spüle ergoss. Ich konnte hören, wie im ganzen Haus die Rohre ooohhh und aaahhh sagten, als seien sie glücklich, mich wieder zurückzuhaben. Ich stieg die Treppe langsam wieder hoch. Meine Muskeln im Rücken und im Hintern waren immer noch ganz verkrampft und taten höllisch weh. In der Küche summte und brummte der Kühlschrank wie ein Dudelsack. Ich öffnete ihn, um nach Bier Ausschau zu halten. Da war tatsächlich eins! Ein Leinenkugel’s! Ich trank in durstigen Zügen, wie ein Mann, der gerade der Wüste entkommen war.
Bei meinem Gang durch das Haus drehte ich den Thermostat auf und wartete auf das Ächzen des guten alten Heizkessels im Keller. Dann schaltete ich ihn wieder aus. Ich öffnete die Fenster, machte das Radio an, riss noch einmal den Kühlschrank auf, um zu schauen, ob vielleicht durch irgendeinen Zauber plötzlich mehr Bier und etwas zu essen darin aufgetaucht waren. Ich schloss die Kühlschranktür wieder. Öffnete sie noch mal – er war immer noch leer.
Während ich über der Toilette im Bad stand und pinkelte, schüttete ich mir mit der anderen Hand das Bier in den Mund: ein Siegerfrühstück, wie es im Buche stand. Am Badezimmerspiegel klebte ein Foto von Chloe auf Kips Hochzeit. Ein perfektes Bild von ihr. Einer der Paparazzi, ein Freund von ihr aus New York, der für eines der Supermarkt-Klatschblätter arbeitete, hatte es gemacht und ihr dann einen Abzug geschickt, zusammen mit einem Brief, in dem er sich für den Überfall auf uns entschuldigte. Er hatte noch ein paar andere gute Bilder von uns beiden mitgeschickt, aber die hatte ich alle in New York gelassen. Die konnte sie behalten, wenn sie wollte. Ich fragte mich, ob sie das wohl tun würde.
Souvenirs. Erinnerungsstücke. Andenken.
Ich zog ab und ging rüber zur Badewanne. Der Duschkopf spuckte erst ein wenig, aber dann verströmte er so viel heißes Wasser, dass alle Spiegel beschlugen und der Raum wunderbar warm wurde. Anscheinend hatte ich vergessen, die Warmwasserheizung auszuschalten – ein sehr erfreulicher Fehler. Ich zog mich aus, warf meine Kleider zu einem Knäuel auf den Boden und stieg unter den Wasserstrahl – nur, um sofort wieder triefend hinauszusteigen und mir die braune Bierflasche zu schnappen. Dann kehrte ich unter die Dusche zurück. Ich lehnte mich dankbar gegen die gekachelte Wand und schluckte – mitten im prasselnden Wasser stehend, das so heiß war, dass meine blasse Haut ganz rot wurde – das kalte Bier hinunter. Ich schloss die Augen, atmete tief durch, ließ mich nach unten in die Badewanne rutschen und schlief ein, während das heiße Wasser unablässig auf mich herabregnete.
Zu Hause.
Ich weiß nicht, wie lang ich geschlafen hatte, aber es konnte nicht besonders lang gewesen sein. Ich wachte mit einer leeren Flasche Leini’s zwischen den Beinen auf. Das Wasser, das auf mich herabfiel, war kalt. Wenn Chloe mich jetzt hätte sehen können: eine gottverdammte, schon von einem Bier betrunkene, schlotternde Dörrpflaume, die auf dem Badezimmerboden liegend ihre Wunden leckt. Sei’s drum, es gab eine Menge zu tun. Ich musste zurück zum Umzugswagen. Und: Bier. Ich brauchte dringend Bier. Ganze Kästen voll. Und was zu essen. Mein Gefrierschrank musste bis oben hin mit Pizzas und Fischstäbchen vollgestopft werden. Und mein Kühlschrank mit Bratwürsten, Steaks und Schweinekoteletts.
Ich stellte mich vor den Badezimmerspiegel und betrachtete mich prüfend: Ich sah aus wie ein streunender Hund. Ein gottverdammter streunender New Yorker Hipster-Hund.
Scheiß drauf. Es war höchste Zeit, sich für den Winter zu wappnen. Ein paar Pfund mehr auf die Rippen zu bekommen. Etwas Holz zu hacken. Ich schlang mir ein Handtuch um die Hüften, verließ das Bad und ging in mein Schlafzimmer, wo ich ein paar von meinen Kleidern anzog – ein altes grünes Chamois-Hemd und eine Carhartt-Hose und ein paar wunderbar dicke Wollsocken. Dann setzte ich mir noch eine alte Baseballkappe der Milwaukee Brewers auf den Kopf und ging ins Wohnzimmer.
Und dort, mitten in meinem Wohnzimmer, stand vierbeinig und gelbfellig ein Kojote – und hinter ihm stand die Eingangstür immer noch weit offen. Ich erstarrte. Der Kojote hob den Kopf, musterte mich und hob dann eine weißbestrumpfte Tatze, schlug mit seinen Krallen in die Luft zwischen uns.
Ich kann nicht sagen, wie lange wir so dastanden und uns gegenseitig beschnupperten, aber schließlich war ich entschlossen genug, um mit scharfer Stimme »Schschh! Hau ab!« zu rufen. Ich hatte Angst gehabt, meine Stimme würde versagen.
Und er ging tatsächlich, drehte sich langsam um, wie ein gescholtener Hund, und lief geradewegs wieder zur Haustür hinaus. Erst trabte er nur, aber auf dem Rasenstück, das zwischen meinem Haus und der Auffahrt liegt, begann er plötzlich zu rennen und verschwand schließlich in der Wiese, wo ich hier und da noch seinen gelbweißen Rücken über den hohen Gräsern und Wildblumen auftauchen sah. Mit zitternder Hand machte ich die Haustür zu. Und dann schloss ich sie sogar ab – etwas, das ich nur sehr selten tue. Aber jetzt tat ich es. Ich setzte mich hin. Ich starrte auf meine Hände. Ich fühlte mich lebendig, jede Faser in mir vibrierte, jedes Atom war voller Energie, das Blut rauschte durch meine Adern.
Ich lebe hier, ich habe mich entschlossen, hier zu leben, weil mir hier das Leben real vorkommt. Authentisch, echt – ich weiß nicht –, so, als ob man wirklich etwas damit anfangen könnte. Vielleicht hat ja jeder dieses Gefühl, wenn er zu Hause ist – vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht. Wie dachte Chloe über New York? Es stimmt schon – diese Stadt pulsiert, jeden Tag, den ganzen Tag über, die Zeit verschmilzt wie in einem Hochofen: lange Nächte und frühe Morgen, Tagesanbruch und Mittagszeit, träge Nachmittage und wieder lange Nächte und wieder früh aufstehen, alles wieder von vorne, und die Menschen verlassen nie die Insel, sie wohnen siebzig, achtzig, neunzig Jahre in dem einen winzigen Apartment. Sie lieben den Gedanken, eingeschlossen zu sein, auf dieser Insel festzusitzen.
Aber ich habe New York nie geliebt, und auch keine andere Stadt. Keine einzige der Städte, in denen ich auf meinen Tourneen aufgetreten bin. Hier, wo ich jetzt bin, entfaltet sich das Leben in jeder Jahreszeit anders. Hier spult sich die Zeit unendlich langsam ab, wird jeder Augenblick sorgfältig verteilt, als sei er ein köstlicher Nachtisch, den wir uns auf der Zunge zergehen lassen – Hochzeiten, Geburten, Schulabschlüsse, Eröffnungsfeiern, Beerdigungen. Die meisten Dinge bleiben gleich. Dort ist Henry inmitten seiner Felder, winkt mir mit seiner Baseballkappe von seinem Traktor aus zu. Dort ist Ronny, auf der Hauptstraße, kickt mit seinen Cowboystiefeln, die Hände in den Hosentaschen, einen Stein vor sich her. Dort ist Beth, sitzt mit den Kindern vor der Eisdiele und wischt ihnen mit einer feuchten Serviette die Eiscreme aus den Gesichtern. Dort ist Kip, steht vor der Mühle und telefoniert mit seinem Mobiltelefon, wedelt mit den Händen wie ein exzentrischer Dirigent, dem sein Orchester abhandengekommen ist. Dort ist Eddy vor dem Postamt und kauft von einem alten Vietnamveteranen eine rote Mohnblume aus Plastik, sein weißes kurzärmeliges Hemd unter seinem riesigen Bauch straff in die Hose gestopft, so dass sein Wanst wie ein heftiger Windstoß wirkt, der einen Spinnaker vor sich aufbauscht.
Und auf den Feldern, in den Wäldern ist es das Gleiche: die Präriebrände im Frühling, die Reifenbrände, die Streumaschinen voller Kuhmist, die langsam über die Felder fahren und sie mit dem wunderbar reichhaltigen Dünger besprühen, Kanadakraniche und Schreikraniche am Himmel, so groß wie B-52-Bomber, und all die anderen unzähligen Vögel, die heimkehren wie zurückgesandte Post und die den Nachthimmel mit so viel Lärm erfüllen, als feierten sie eine Willkommensparty. Und dann kommt der Sommer und überall breitet sich das Grün in solcher Überfülle aus, dass man denkt, der Winter sei womöglich gar nicht geschehen und würde auch nie wiederkehren. Lange Tage, träge Tage. Im VFW-Posten 66 die Neonreklame für irgendwelche Biersorten und lauter offene Fenster und Fliegentüren und süße, rauchige Dunkelheit. Und Kips Mühle, die lange Schatten über die ganze Stadt wirft. Feldtauben und Trauertauben, die in der kühlen taufeuchten Morgendämmerung dort oben sitzen und gurren und im blauen Himmel auseinanderschwirren, sobald der erste morgendliche Verkehr eintrifft – die Farmer, die kommen, um ihren verbrühten Tankstellenkaffee zu trinken und abgestandene Donuts zu essen, sich über die Politik zu beschweren, über die Steuern, die Rohstoffpreise und was ihnen sonst noch alles einfällt. Spätabendliche Softballspiele der ländlichen Sportclubs, auf Plätzen, die meistens hinter irgendeiner Kneipe an irgendeiner Kreuzung liegen, wo die Neonlichter Millionen von Insekten und Nachtfaltern anlocken und die Frauen und Mütter und Tanten auf den Tribünen sitzen, irgendwas in ihre Handys tippen, sich die Fingernägel feilen und so tun, als würden sie das Spielgeschehen auf dem Feld mit Interesse verfolgen. Und in den Hinterhöfen flattert mit lautem Knallen die Wäsche an den Leinen, im kühler werdenden Wind, der schon das Kommen des Herbstes ankündigt, dieser so eleganten Jahreszeit, der Zeit, in der man die Schals und Jacken wieder aus dem Schrank holt, in der man die Ernte einfährt und die Fenster in der Nacht geöffnet lässt, der Zeit, in der es sich am besten schlafen lässt. Wenn in den Feldern alles darauf wartet, wieder neu bepflanzt zu werden; die blassgelben Maispflanzen, so trocken wie Papier, und dann wird die Erde wieder umgepflügt und man lässt sie bis zum nächsten Jahr ruhen. Die Oktoberluft, die so voller Maisstaub ist, dass jeder Sonnenuntergang wie eine kitschige Postkarte wirkt und so unglaubliche Farben entstehen, als hätte es gerade irgendwo eine Atombombenexplosion gegeben. Und dann der Schnee. Schnee genug, um die ganze Erde zu bedecken. Um uns zu bedecken. Unsere Welt, die unter dieser weißen Decke schlafen und ruhen und ihre Wunden heilen kann. Die Wälder, die im Oktober noch ihr prächtiges Konfetti wie ein Halluzinogen in die Welt gestreut hatten, stehen nun auf einmal ganz anders da, in sich gekehrt, dürr, ihrer Blätter beraubt, gleichmütig. Sie wirken wie alte Menschen, die wissen, dass ihre Zeit nun bald gekommen ist. Winter: Man macht es wie die Bären und bleibt im Bett, hält Winterschlaf, wird immer blasser, liest russische Romane oder spielt mit entfernten Verwandten oder weggezogenen Schulfreunden Briefschach. Winter: Man zieht sich ein Paar Schlittschuhe an und schnitzt Muster in einen zugefrorenen See, als hätte man zwei Messer an den Füßen, oder man schlägt einen vereisten Puck mit einem langen Hockeyschläger durch die Gegend, bleibt schwitzend stehen, um Atem zu holen, bei Temperaturen unterm Nullpunkt. Winter.
Wenn man hier seine Haustür offen stehen lässt, kommt ein Kojote hereinspaziert. Aber es hätte auch genauso gut ein Bär sein können. Einmal saßen Henry und ich unten am Bach und kifften. Und während wir den Joint hin- und herwandern ließen, landete ein Adler im Geäst einer riesigen Pyramidenpappel, die uns gegenüberstand. Und wir sahen ihn und freuten uns über seine Gesellschaft. Dann landete eine Krähe auf einem großen Steinbrocken in der Mitte des Bachs, so dass man hätte meinen können, der Stein sei ihre Kanzel. Und wir freuten uns auch über ihre Gesellschaft. Und schließlich setzte sich noch eine verirrte Möwe, die sich so weit, wie man es nur konnte, von jeglichem Meer entfernt hatte, auf den Wipfel einer großen Weißkiefer. Drei vollkommen unterschiedliche Vögel. Sie bildeten eine Art Quorum, das sich in regelmäßigem Abstand zueinander am Bach verteilt hatte. Wir warteten, beobachteten, schwiegen, während die Vögel miteinander zu sprechen begannen. Erst gab der Adler ein hohes pfeifendes Geräusch von sich, dann erklang das schroffe Krächzen der Krähe und schließlich folgte der heisere Schrei der Möwe. So ging das hin und her. Sie verließen für keine Sekunde ihre Plätze, unterbrachen einander nicht ein einziges Mal, sprachen immer abwechselnd – wie konnte das irgendetwas anderes als eine Unterhaltung gewesen sein? Wir sahen und hörten ihnen zu. Ich kann unmöglich sagen, wie viel Zeit verging, bis sich schließlich die Möwe aus der Weißkiefer erhob, drei träge Pirouetten am Himmel beschrieb und dann die Oberfläche des Flusses kurz mit einer Flügelspitze streifte, bevor sie hinter den Baumwipfeln verschwand. Wie eine Gymnastiktänzerin, die prahlerisch ihre Bänder durch die Luft wirbelt.
Die Wölfe, Bären, Elche, Rotluchse und Berglöwen. Die Gänse in ihren gleichförmigen Geschwadern und die Enten und die wilden Seetaucher. Aber die Rehe sind mir immer noch die liebsten. Diese Weide, die ich von meinem Haus aus sehen kann, über die sie mit ihren Familien ziehen, wie Nomaden oder Flüchtlinge oder auch einfach nur Einheimische – ich werde es nie erfahren. Ich habe mich oft in ihre Schlafmulden gelegt und bin dort eingeschlummert – an jenen Stellen auf der Wiese, an denen sie das Gras flachgedrückt und es mit ihren Körpern gewärmt hatten, eingeschlafen waren und davon geträumt hatten, ja, von was hatten sie wohl geträumt? Es gibt Menschen in Wisconsin, für die sie fast so eine Art Ungeziefer sind, eine Plage, Kreaturen, die nichts als Unannehmlichkeiten bereiten, eine Spezies, die täglich Massenselbstmord begeht, indem sie sich in den entgegenkommenden Verkehr wirft, die die Ernte beschädigt, die Gärten ruiniert und deren Bestand sich so vermehrt hat, dass es schon einer Seuche gleichkommt. Aber ich habe das nie so gesehen. Wir sind der Grund dafür, dass es so viele Rehe gibt. Es ist nicht ihre Schuld. Vielleicht gibt es ja auch zu viele von uns: zu viele Menschen, die Auto fahren, Mais essen, zu viele Häuser bauen und die Wölfe und Kojoten verdrängen. Ich liebe die Rehe.
Wenn du in einer Großstadt die Tür offen stehen lässt, dann sind, wenn du aufwachst, deine Möbel und Kleider weg. Wenn du hier die Türe offen lässt, kommt ein Kojote herein und will etwas zu essen von dir.
Hier ist mein Zuhause. Hier ist der Ort, der als Erstes an mich geglaubt hat. Der immer noch an mich glaubt. Dies ist der Ort, der die Lieder meines ersten Albums hervorgebracht hat.
Ich rief Henry an. Doch es war Beth, die den Anruf entgegennahm.
»Hallo, Beth«, sagte ich.
»Lee?«, fragte sie. »Leland? Bist du das? Ist alles okay?«
»Äh, ja, klar, Beth. Alles ist prima, wirklich prima.«
Es war mir peinlich. Peinlich, kaum älter als dreißig zu sein und bereits vor der Scheidung zu stehen. Henry und Beth sind schon seit einer Ewigkeit zusammen. So kommt es mir jedenfalls vor. Ich habe sie noch nie streiten sehen. Sie scheinen sich nicht einmal zu zanken. Dieses wunderbare Haus, das sie haben, ihre wunderbaren Kinder. Alle sind die ganze Zeit im Freien, spielen oder arbeiten oder tun sonst irgendwas. Wie oft bin ich zu ihrer Farm gekommen und sie saßen alle draußen am Gartentisch, aßen zu Abend, reichten sich gegenseitig Schüsseln mit Was-weiß-ich-was darin, so als wäre es das Natürlichste der Welt. Oder Henry ist draußen auf den Feldern, in seinem Geräteschuppen, im Melkstand, auf der Weide bei seinen Kühen: bringt Kälber zur Welt, setzt Spritzen, reinigt mit den Händen ihre Zitzen – reibt rostfarbenes Jod auf die blasse rosafarbene Haut. Die Browns führen ein so unkompliziertes Leben, so scheint es mir. Ich beneide Henry schon seit Jahren. Er ist mit einer wunderschönen Frau verheiratet und tut genau das, was er gerne tut. Dort draußen, unter der Sonne, mit allem um ihn herum verbunden. Wenn er mich nur ließe, würde ich in ihre Farm investieren. Ich würde alles, was ich besitze, hineinstecken. Ich würde die Musik aufgeben, um von ihm zu lernen, und dann auf meinem eigenen Land einen kleinen biologischen Betrieb errichten. Ich würde Möhren anbauen. Unzählige Hektar Möhren. Ich würde sie mit meinen eigenen Händen aus der Erde ziehen, große orangefarbene Möhren so süß wie Zucker. Ich würde einen riesigen Schlauch bis hinaus zum Feld verlegen und meine ellenlangen, zuckersüßen Bio-Möhren damit abwaschen. Und jeden Tag gut zwei Dutzend davon essen.
Aber in diesem Moment, als ich mit Beth telefonierte, immer noch ein wenig benebelt von dem einen Bier und der langen Fahrt Richtung Westen, kam mir alles in meinem Leben sehr verworren und offen gesagt auch ziemlich deprimierend vor. Ich hatte es nicht einmal geschafft, ein Jahr lang verheiratet zu bleiben. Ich hatte es nicht geschafft, Chloe dazu zu bringen, mich zu lieben. Und was die Sache noch schlimmer machte, ich hatte meinen Heimatort und alle meine engsten Freunde im Stich gelassen, nur um mich in New York wichtigzutun.
»Wo bist du?«
Und was noch dazukommt: Ich war mein Leben lang mit mindestens halbem Herzen in Beth verliebt gewesen. Ich habe das nie irgendjemandem gegenüber eingestanden. Genauer gesagt hatte ich es bis zu diesem Augenblick, als ich mit ihr telefonierte, wohl nicht einmal mir selbst eingestanden. Aber es stimmt. Oder ich glaube zumindest, dass es stimmt. Ich kann es nicht mehr so gut einschätzen; kann den Unterschied zwischen Liebe und Einsamkeit nicht mehr ausmachen, zwischen Heimweh und Schwäche. Was zum Teufel weiß ich schon über die Liebe?
»Ich bin bei mir zu Hause.«
»Aber es ist so still bei dir«, sagte sie. »Alles, woran ich mich von New York erinnere, sind Autohupen und Sirenen. Wie geht’s Chloe?«
»Sehr gut. Sie dreht gerade irgendeinen Film in Prag.« Das war frei erfunden. Ich hatte keine Ahnung, wo sie war. Ich hegte den dumpfen Verdacht, dass sie einen Fetisch für Musiker hatte und sich bereits auf der Jagd nach ihrem nächsten Ehemann befand. Noch bevor es mit uns den Bach runtergegangen war, hatte sie angefangen, von irgendeinem Rapper in Cleveland zu schwärmen, hatte unaufhörlich seine Musik gehört und sogar mich gezwungen, sie zu hören. Einen Tag bevor ich New York verließ, bekam ich einen Anruf von einem Freund aus der Musikbranche, der fragte: Bist du in Cleveland? Ich hab nämlich gerade Chloe gesehen, backstage …
»Ist Henry da?«
»He, alles okay bei dir?«
»Mir geht es gut, Beth.«
»Lee, ich bin etwas verwirrt. Bist du in New York oder in Little Wing?«
»Ich bin hier.«
»Hier dort, oder hier hier?«
Tief einatmen. »Hier hier.«
»Lee«, sagte sie mit sanfter Stimme, »ist mit euch alles in Ordnung?«
Meine Küche ist auf der Rückseite des Hauses. Die Fenster schauen auf den Bach unter dem Haus und auf einen Hügelkamm, der dicht mit Rotkiefern und Sumachbäumen bestanden ist. Ich habe sie, kurz nachdem ich die Farm gekauft hatte, gepflanzt. Dort unten rauscht der Bach, grau und blau. Im Wasser spiegelt sich der Himmel und die Wasseroberfläche ist mit roten, orangefarbenen und gelben Blättern geschmückt. Sie treiben dahin, wie Sheriffsterne. Ich liebe meine Küche.
Ich setzte mich auf einen Hocker am Küchentisch, das Telefon ans Ohr geklemmt. Warum hatte ich mir noch keinen Kaffee gekocht?
In meinem Kopf pochte es, das Blut rauschte mir durch Ohren und Augenlider.
»Wir lassen uns scheiden.«
Ich hörte, wie der Rhythmus ihres Atems sich veränderte. Sie wechselte das Telefon in die andere Hand. Hast du mich je geliebt? Könnte ich dich dazu bringen, mich zu lieben?
»Es tut mir schrecklich leid, das zu hören«, sagte sie. »Wir mochten Chloe.«
»Tja, wie sich herausstellt, hat sie mich wohl nicht so wahnsinnig gemocht.«
»Kannst du zum Essen kommen? Jetzt wo du wieder da bist. Du musst unbedingt vorbeikommen. Wir wollen unbedingt, dass du kommst. Zum Essen.«
Mit Beth, glaube ich, hätte ich hundert Jahre im Bett verbringen können. Und ihre Brustwarzen küssen können. Ich erinnere mich immer noch genau an die Form und Farbe deiner Brustwarzen. Würden wir zusammen Kinder haben? Wie würden sie heißen? Wem von uns würden sie ähnlich sehen?
»Ähm. Ist Henry da?«
»Ja, ich geh ihn holen.« Eine Pause.
Hat sie sich das Telefon an die Schulter geklemmt? Hat sie es in der Hand? Hat sie es auf den Tisch gelegt?
»Ich liebe dich«, flüsterte ich.
Nichts. Nicht einmal ein statisches Geräusch. Kein trockenes Reiben des Hörers an der Haut.
Ich flüsterte es noch einmal. »Ich liebe dich.« Du wirfst dich gerade von einer gottverdammten Klippe. Was zum Teufel tust du da? Mach nicht auch noch ihr Leben kaputt.
Und dann das Räuspern von Henry, bevor er den Hörer aufhebt. Ich stellte mir vor, wie er sich mit einem roten Taschentuch das schwarze Motoröl und Schmierfett von den Händen wischt. Vielleicht steht Beth hinter ihm, gießt Kaffee in eine angeschlagene Tasse und drückt sie ihm in die Hand.
»Lee? Bist du das? Lange nicht von dir gehört.«
Henrys Stimme – die Stimme eines alten Freundes. Als würde man in einem fremden, dunklen Hotelzimmer plötzlich eine Wand berühren, an der man sich entlangtasten kann. Die Welt ist immer noch dort draußen. Henry ist immer noch da. So real wie ein Zaunpfahl.
»He, Kumpel, es tut gut, deine Stimme zu hören.«
»Alles okay bei dir? Beth hat gesagt, du wärst wieder zurück in Little Wing? Wo ist Julia? Wo ist meine Lieblingsjulia?«
Henry sieht selbst gut genug aus, um Schauspieler sein zu können. Ich glaube nicht, dass er das weiß, und vielleicht wäre es ihm auch vollkommen egal, wenn er es wüsste, aber es stimmt. Ich habe mittlerweile ziemlich viele Schauspieler kennengelernt, und die meisten von ihnen sind nicht besonders groß und haben einen Blick in den Augen, der irgendwo zwischen ausdruckslos und wahnsinnig liegt. Sie sehen alle gut aus, keine Frage, aber sie wirken ungefähr so echt wie Plastik. Wenn man Henry kennenlernt, dann denkt man: Das ist jetzt mal ein tüchtiger, fähiger Mann. Seine Hände sind groß und trocken und sie umschließen deine eigenen Hände wie warme Fäustlinge. Er ist nicht ganz so groß wie ich, vielleicht 1,80 – aber er ist stark wie ein Ochse, mit freundlichen braunen Augen. Und seine Haut hat einen Farbton, der – egal zu welcher Jahreszeit – nur wenige Nuancen dunkler als ein Ritz-Kräcker ist. Auf Kips Hochzeit zog Chloe mich beiseite und sagte: »Wenn ich nicht schon so in dich verliebt wäre, dann würde ich irgendwelche Ränke schmieden, wie ich deinen Freund da von seiner Frau und seiner Farm weglocken kann.« Und dann knabberte sie an meinem Ohrläppchen. Ich muss zugeben, es gab so einige Warnzeichen, dass wir es nicht schaffen würden, Chloe und ich, aber sie war eine ziemlich gute Liebhaberin.
»He«, sagte ich, »warum triffst du mich nicht einfach auf dem Parkplatz der U-Haul-Mietwagenfirma in Eau Claire und ich erzähle dir die ganze Geschichte.«
»Moment mal, hast du denn schon alles abgeladen?«
»Nein«, sagte ich, »aber ich habe auch nicht so besonders viel mit zurückgebracht. Ich brauch nicht lange.«
»He, Lee?«
»Ja?«
»Bist du sicher, dass du okay bist?«
»Triff mich in zwei Stunden.«
...
Der ganze Mythos beruhte nur auf diesen ersten zehn Stücken. Wo ich sie aufgenommen hatte, wie ich sie aufgenommen hatte, der Herzschmerz, die Drogen, der Alkohol. Das meiste davon stimmt überhaupt nicht. Diese ersten zehn Stücke, dieses ganze Album, Shotgun Lovesongs, ist einfach nur so aus mir herausgekommen. Ich war müde, denke ich. Ich war es leid zu scheitern, durch das Land, um den ganzen Globus zu reisen, auf Tour zu sein. Von einer Stadt zur anderen zu ziehen, wo niemand wusste, wer wir waren, wo niemand wusste, wer ich war. Vor Leuten in Deutschland oder Frankreich oder Belgien zu singen und sich zu fragen: Verstehen diese Leute überhaupt ein einziges gottverdammtes Wort von dem, was ich hier singe? Und als dann die letzte Band auseinandergegangen war (wie es unweigerlich jedes Mal geschah), kam ich heim und fühlte mich wie der größte Versager im Universum. Ich dachte über Jobs nach – echte Jobs. Ich dachte darüber nach, aufzugeben.
Man muss schon ziemlich verrückt sein, um Musiker zu werden. Es ist eine vollkommen unvernünftige Entscheidung. Die meisten Musiker hangeln sich nur irgendwie so durch, versuchen die ganze Zeit verzweifelt, irgendwelche Auftritte an Land zu ziehen, spielen auch schon mal gern auf einer Hochzeit oder einer Bar-Mizwa. Die meisten Musiker haben keine Krankenversicherung, nur ein sehr geringes Einkommen und keine zündende Idee, wie sie den Durchbruch schaffen könnten. Aber ich kann sie gut verstehen; sie sind besessen, sie lieben die Musik, sie lieben es, zusammen mit anderen Leuten Musik zu machen, das Publikum zu begeistern, das erhebende Gefühl des Applauses zu erleben, der auf einen guten Auftritt folgt. Wenn es sich anfühlt, als wollte die ganze Stadt dich plötzlich adoptieren; jeder im Publikum scheint von jetzt auf gleich bereit zu sein, dir eine Unterkunft, Essen, frische Kleider und Geld für das Taxi oder die Busfahrt nach Hause zu schenken.
Sogar als ich noch ein Kind war, konnte ich, wenn ich im Bett lag, immer diese Riffs hören, diese Worte, und dann konnte ich sie auch sehen, wie sie in einzelnen Schichten übereinanderlagen, und ich sah, wie das Ganze zusammenpasste und miteinander verschmolzen werden musste. Ich nehme an, das meiste, was ich damals in meinem Kopf hörte, waren Echos von Bob Dylan oder Neil Young, Abwandlungen ihrer Werke. Aber schon damals lernte ich dazu, bastelte an meinem eigenen Klang, meinem eigenen Stil. Auch heute noch schlafe ich nachts nicht besonders gut, weil ich immer Angst habe, es würde sich alles in Luft auflösen und unwiderruflich verloren sein, wenn ich nicht sofort aufstehe und den Kram festhalte. Lieber bleibe ich bis zum Morgengrauen wach und schreibe irgendwelchen Mist auf, der nie zu etwas taugen wird, als dass ich morgens gut ausgeruht aufwache, aber nicht mehr in der Lage bin, etwas zusammenzusetzen, das – wer weiß – vielleicht richtig gut gewesen wäre. Die meisten Schubladen in meinem Haus sind mit Papierschnipseln vollgestopft, auf die ich irgendwelches zusammenhangsloses Gefasel, winzige Gedichte oder Metaphern gekritzelt habe, die ich vielleicht mal in einem Song verwenden wollte. Und neben meinem Bett habe ich immer einen Notizblock liegen, der so über und über vollgeschrieben ist, dass es aussieht, als wäre darauf ein Tintenfass explodiert.
Und jetzt war ich wieder zurückgekehrt. Nach Little Wing. Und war im Begriff, mich scheiden zu lassen. Ich verstand das alles noch immer nicht ganz. Die Hochzeit war wunderschön gewesen, die Flitterwochen herrlich (auf Saint-Barthélemy, wo ich jeden Tag Hummer gegessen habe und mich mit einem Tischler namens Jimmy anfreundete, der irgendwann herkommen wird, um meine Küche hier umzubauen), und dann fuhren wir wieder zurück nach New York, gingen eines Abends aus und sie schaut von ihrem Mobiltelefon auf und plötzlich ist sie ein anderer Mensch, den ich noch nie zuvor gesehen habe.
»Ich glaube, das hier funktioniert nicht mehr«, sagte sie. Sie gab oft irgendwelche abgedroschenen Sprüche von sich. Ich führte dieses sprachliche Unvermögen auf zu viele schlecht geschriebene Drehbücher zurück.
»Du glaubst, dass was nicht mehr funktioniert?«, fragte ich und war drauf und dran, ihr meine Serviette ins Gesicht zu werfen, je nachdem, was sie als Nächstes sagen würde. Niemals zuvor habe ich mein Essen so vorsichtig gekaut wie ich dem Moment. Ich hatte Angst, mich zu übergeben, Angst, ich könnte meine Zähne so fest zusammenbeißen, dass irgendetwas brach. Ich wusste, was jetzt kommen würde. Ich hatte es nicht kommen sehen, aber als sie diesen Satz gesagt hatte, da wusste ich genau, was mich erwartete.
»Vielleicht ja auch nicht«, sagte sie nonchalant und schob ein einzelnes Salatblatt auf ihrem Teller herum. Ihre Gabel machte ein hohes, scharfes Geräusch auf dem Porzellan, wie wenn man mit einem Fingernagel über verrosteten Stahl kratzt.
»Ich war ja noch nie verheiratet, verstehst du?«
Sie sagte das »war« in einer Weise, wie sie auch ihre Filmtexte sprach. Eine gewisse Affektiertheit, eine Prise Stress und schon klingt ein beiläufig hingeworfenes Wort so, als bedeutete es alles nur Menschenmögliche. Plötzlich klang dieses »war« wie eine Gefängnisstrafe, ein Verbrechen, ein vom Krieg verwüstetes Land, ein früheres Leben. Ich wusste, dass sie in zwei Wochen nach Vancouver fliegen würde, für die Dreharbeiten zu einem neuen Film. Wir hatten geplant, dort zusammen ein Apartment zu mieten. Ich hatte mich darauf gefreut, an einem ganz neuen Ort meine Musik zu schreiben, oder es zumindest zu versuchen. Nicht in Wisconsin, nicht in New York, sondern an einem vollkommen anderen Ort.
»Wir sind jetzt gerade mal vier Monate verheiratet«, sagte ich und schluckte.
Ich kannte in Little Wing Menschen, die waren seit einem halben Jahrhundert verheiratet.
»Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an«, sagte sie und betrachtete das beleuchtete Display ihres Telefons. »Verstehst du?«
»Nein«, sagte ich, »ich verstehe nicht. Ich tappe völlig im Dunkeln, Scheiße nochmal.«
In diesem Augenblick wusste ich, dass sie mir das Herz brechen würde.
»Hör zu«, sagte sie. »Ich glaube, ich schlafe heute Nacht mal bei Jenna. Lass uns morgen einen Kaffee trinken gehen, okay?«
Ich beugte mich über den Tisch und flüsterte: »Chloe, wir sind verheiratet. Wir schlafen nicht in getrennten Betten. Wir schlafen nicht in den Wohnungen anderer Leute.« Ich nahm ihre Hand. Ich nahm ihre Hand sehr fest, so fest, dass man es längst nicht mehr sanft nennen konnte. Ich nahm ihre Hand fast so fest, als hinge sie über einem Abgrund, aus dem Fenster eines Hauses. »Chloe?«
Sie schaute mich an. Schaute auf meine Haare, meinen struppigen Bart, meine langen Ohren, auf die Tattoos, auf meine Haut. Ich kenne diesen Blick. Ich kenne meinen Körper. Ich bin kein Filmstar, ich sehe nicht wie Ronny oder Henry aus – mächtige Kerle aus dem Mittleren Westen, lauter Muskeln und tapfer in Rodeoreitersonnenlicht und schwarzen Lehm getauchte Hände. Ich habe mit mehr Frauen geschlafen, als ich zählen kann, aber diesen Blick kenne ich nur zu gut.
Frauen denken, sie könnten sich in dich verlieben, weil du den ein oder anderen guten Song geschrieben hast, weil du es geschafft hast, einen Nerv zu treffen, einen wunden Punkt im Fühlen der Menschen, über den die meisten sich keine Mühe machen nachzudenken. Weil du ein scheiß Liebeslied schreiben kannst. Weil du berühmt bist. Und eine Nacht lang verströmst du dann so ein goldenes Glänzen. Ich habe es überall in der Welt verströmt. Ich habe für Frauen geglänzt, deren Name Sie zum Erröten bringen würde, so wunderschön und berühmt sind sie. Ich habe meinen goldenen Schein über zwei, drei, vier Frauen gleichzeitig ausgegossen. All ihre Münder auf meiner Haut, ihre Zungen. Aber auf der anderen Seite kann ich genauso wenig zählen, wie oft diese Frauen dann wieder verschwunden waren, noch bevor ich morgens aufwachte, bevor ich mit meiner morgendlichen Dusche fertig war. Ganz plötzlich, nachdem sie dich verschlungen, dich aufgebraucht haben, nachdem sie dir deinen gesamten Schutzpanzer und deine Privatsphäre vom Leib geschält haben, sehen sie dich nur noch als einen ganz durchschnittlichen, stinknormalen Typen. Einen stinknormalen weißen Typen aus einer Kleinstadt in Wisconsin.
»Wart ihr schon mal in Wisconsin?«, fragte ich sie manchmal. »Das ist der schönste Ort auf der ganzen weiten Welt. Riesige Seen, ausgedehnte Wälder, sanfte Hügelketten und dann noch der Mississippi.«
»Ist das in der Nähe von Montana?«, fragten sie dann. »Das klingt nämlich ganz wie Montana.«
»Nein«, antworte ich ihnen, »das ist nördlich von Chicago.«
Es war schon erstaunlich, wie viele von ihnen nicht in der Lage waren, auf einer Landkarte von Amerika die Stadt Chicago zu finden, selbst dann nicht, wenn man ihnen sagte, dass es in Illinois an einem der großen Seen liegt.
Zwei Wochen nach diesem Abendessen las ich in der Zeitung Gerüchte über meine eigene Scheidung. Ich mied die Außenwelt. New York ist nicht meine Stadt und war es auch nie. Ich habe mich dort nie wohlgefühlt. Die Geschwindigkeit, mit der alles passiert, die vielen Lichter, das Diktat der Mode, des Geldes. Und nach der Trennung mochte ich die Stadt noch viel weniger. Ich konnte nirgendwo hingehen, ohne dass mir eine Meute Fotografen folgte und mich mit persönlichen Fragen bedrängte, auf die ich keine Antwort wusste. »Was ist passiert? Wo ist Chloe? Wo wohnt sie jetzt? He! He, Corvus!« Das Gute daran, dass unsere Ehe so schnell zerbrach, war, dass es kein Haus gab, das ich hätte verkaufen müssen, und auch nicht besonders viele Dinge, mit denen ich umziehen musste. Ich mietete einen Umzugswagen, parkte vor dem Gebäude, in dem wir wohnten, und nahm letztendlich nur eine Couch, einen Ledersessel, den neuen Fernseher, meine Bücher, Gitarren und das Bild mit, das Kip und Felicia »uns« zur Hochzeit geschenkt hatten. Ich zahlte irgendeinem Gammler fünfzig Dollar, damit er mir beim Tragen der schweren Sachen half; ich hätte ja lieber einen Freund um Hilfe gebeten, aber in New York hatte ich keine echten Freunde. Alle unsere Freunde waren in Wirklichkeit Chloes Freunde gewesen. Ich ließ dreitausend Dollar in bar auf dem Küchentisch liegen, zusammen mit einem Zettel, auf dem ich ihr mitteilte, sie möge sich an meinen Anwalt in Little Wing wenden, wenn sie etwas von mir wolle. Die Telefonnummer, die ich ihr aufschrieb, war die von Eddy Moffitt. Er mochte zwar im eigentlichen Sinn kein Anwalt sein, aber ich wusste, dass er eine derartige Situation mit Aplomb und Humor regeln würde. Und ich war mir ziemlich sicher, dass Chloe sich nicht an Eddy erinnern würde, obwohl ich ihn ihr bestimmt mehr als einmal vorgestellt hatte.
Nachdem ich das Gebäude zum letzten Mal verlassen hatte, blieb ich auf dem Bürgersteig stehen, rauchte eine Zigarette und warf einen letzten Blick auf die Stadt. Der Portier verließ seinen Posten, stellte sich neben mich und sagte dann, als hätte er mich nie zuvor gesehen: »Sir, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dort drüben rauchen könnten.« Er zeigte mit einem weißbehandschuhten Finger auf eine Gasse voller überquellender Müllcontainer, dicken braunen Pfützen und nassem Zeitungspapier.
»He, Tino. Ich bin es«, sagte ich. »Lee. Chloes Ehemann. Wissen Sie noch?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mich mit gerunzelter Stirn an.
Ich trat meine Zigarette vor ihrem Haus aus, spuckte auf die Straße und sagte: »He, Tino! Die Yankees sind die letzte Scheiße.«
Ich bewunderte die versteckte Geste, mit der es ihm gelang, sich in den Schritt zu fassen und mir dann den Mittelfinger zu zeigen, mitten auf der Straße, in seiner marineblauen Portiersuniform aus samtähnlichem Stoff; und das alles mit der Eleganz, Anmut und Arroganz eines echten Angehörigen der New Yorker Arbeiterklasse.
Die Leute fragen mich immer, was der Titel jenes ersten Albums zu bedeuten hat, und ich habe Dutzenden verschiedener Zeitschriften Dutzende unterschiedlicher Geschichten erzählt und dabei versucht, meine Lügen jedes Mal so echt wie möglich klingen zu lassen. Ich habe den Leuten erzählt, es sei eine Hommage an Guns n’ Roses. Ich erzählte ihnen, es ginge um einen Selbstmord, der drei Orte weiter passiert sei; jedes Mal variierte ich die Anzahl der Orte, die dazwischen lagen, und auch die grobe Richtung, in die der betreffende Journalist für seine Recherchen zu fahren hatte. Ich habe den Leuten erzählt, es ginge in dem Album darum, dass man mir das Herz gebrochen hatte – und das kam der Wahrheit wohl noch am nächsten. Sie stellten Fragen zu den einzelnen Songs und zu meinem Arbeitsprozess. Ich kann ehrlich behaupten, dass ich zu keinem einzigen meiner Fans jemals grob oder unhöflich geworden wäre, zur Presse vielleicht, aber niemals zu meinen Fans. Ich empfinde es verdammt noch mal als ziemliches Glück, es geschafft zu haben, ich bin sehr dankbar dafür, mich einen professionellen Musiker nennen zu können. Aber ich rede nicht besonders gerne über dieses erste Album, denn als ich es damals aufnahm, steckte ich in einer ziemlich düsteren Phase.
Die Lage war folgende gewesen: Nachdem aus diesen ersten Bands nie etwas geworden war, nachdem wir uns getrennt und unserer Wege gegangen waren, kam ich zurück nach Wisconsin, um meine Wunden zu lecken, mit eingezogenem Schwanz, eine weiße Fahne schwenkend – diese ganze Scheiße. Die Geschichte damals war mir genauso peinlich wie jetzt die Scheidung. Der einzige Unterschied zwischen damals und heute war der, dass ich jetzt Geld hatte und mir keine Sorgen darüber machen musste, wer meine nächste Platte rausbringen würde.
Als ich damals nach Wisconsin zurückkehrte, war es gerade Halloween. Es war ein perfekter Tag, ein Tag, wie er für den Mittleren Westen typisch war: Die Wolken jagten über den tiefblauen Himmel und in der kühlen, frischen Luft lag der Geruch von Regen und der westlichen Prärien. Ich brauste durch Chicago, am Lake Shore Drive entlang. Große, schaumgekrönte Wellen donnerten gegen die Betoneinfassung des Ufers, im Westen überragten mich die Türme des Finanzdistrikts, an denen die Wolken sich zerteilten, nur um sich dahinter gleich wieder zu vereinen. Ich weiß noch, dass ich an Kip dachte, wie er dort oben irgendwo saß oder vielleicht ja auch weiter im Innern der Stadt, im Loop, auf dem Börsenparkett, wo er lauter imaginäre Zahlen brüllte, rosafarbene Papierstreifen in die Luft warf und unablässig schnelle Handzeichen gab, wie ein hektischer Baseballcoach. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, wie sein Job in Wirklichkeit aussah. Aber ich wusste, dass er gerade dabei war, es zu schaffen, sich einen Namen zu machen. Die ganze Strecke an der Gold Coast entlang starrte ich aus meinem Autofenster und dachte: Scheiß auf dich, Kipper. Obwohl Kip mir nie auch nur das Geringste getan hatte. Ich hatte keinen Grund, ihm seinen Erfolg zu verübeln. Ich fuhr weiter nach Nordwesten, durch die endlosen Vorstädte und Mautstellen, bis ich das Flachland von Nord-Illinois erreichte, wo die Erde so glatt und öde wirkt, als wäre sie ein gigantischer, durchs Weltall segelnder Kubus. Nichts durchbricht die Monotonie außer einer riesigen Autofabrik, ein paar Raststätten und einer endlosen Reihe von Starkstrommasten, die die Energie aus Nord- und Süd-Dakota und aus Kanada in die Großstadt Chicago tragen.
Meine Eltern ließen sich scheiden, nachdem ich die Highschool abgeschlossen hatte. Es war eine recht undramatische Trennung, glaube ich. Soweit ich weiß, hatte es keine Untreue gegeben, keine Drogen, kein Glücksspiel, keine Alkoholprobleme. Keinen der üblichen Gründe. Meine Eltern waren in meinen Augen keine besonders interessanten Menschen. Sie haben sich seit meiner Geburt wohl einfach immer weiter voneinander entfernt. Ich hörte einmal, wie mein Vater in der Garage über das schnurlose Telefon zu meinem Onkel Jerry sagte: »Wir haben uns einfach nichts mehr zu sagen. Wir interessieren uns nicht für dieselben Sachen. Ich weiß nicht mehr, was das Ganze überhaupt noch soll. Keiner von uns ist glücklich.« Während ich also durch die Bars an irgendwelchen abgelegenen Straßen und die Bingohallen des Mittleren Westens tourte, während ich mit meinen verschiedenen Bands die amerikanischen Küsten entlangtingelte oder Westeuropa durchquerte, verkauften meine Eltern das Haus, in dem ich aufgewachsen war, und gingen getrennte Wege. Mein Vater wurde Leiter eines Warenlagers in Arizona und meine Mutter zog zurück in ihre Heimatstadt im nördlichen Minnesota, nahe der Grenze zu Kanada. Dort fand sie einen Job als Sekretärin und Koordinatorin der Sonntagsschule eben jener Kirche, in der sich meine Eltern hatten trauen lassen.
»Ich brauche nicht mehr viel«, erklärte sie mir. »Ich habe dort ein kleines Haus gekauft, mit viel Platz für einen Garten. Und ich freue mich darauf, lauter bekannten Gesichtern zu begegnen.« Ich stellte sie mir vor, wie sie die Briefumschläge für die Kirchenpost zuklebte und den Bestand an buntem Kartonpapier wieder auffüllte.
Und mein Vater sagte: »Ich wollte mal eine Weile an einem Ort wohnen, wo es warm ist. Ich habe die Schnauze voll von dieser ganzen beschissenen Schneeschaufelei. Eine warme Gegend. Ich habe ein Apartment in einer Wohnanlage gefunden. Direkt auf der anderen Straßenseite ist ein mexikanischer Imbiss, wo ich jeden Abend essen gehe. Ich trinke Coronas und esse Tacos. Und sie schmecken viel besser als die Tacos, die deine Mutter immer gemacht hat, mit diesen harten Schalen. Du solltest mich mal besuchen kommen. Hier gibt’s sehr hübsche mexikanische Mädels. Dann setzen wir uns an den Pool und trinken ein Bier zusammen. Oder fahren in die Wüste und schauen uns Kakteen an.«
Und so kam es, dass ich plötzlich ohne Zuhause dastand. Little Wing war der einzige Ort, den ich wirklich kannte, egal wie lange ich weg gewesen und durch die Welt gereist war. Hier waren alle meine Freunde. Hier konnte ich immer einen Auftritt bekommen, wenn ich neues Material ausprobieren wollte, freitags oder samstags abends im VFW. Ich konnte sogar einfach nur den ganzen Abend Coverversionen spielen. Und auch wenn Henry gerade nicht dort war, wusste ich, dass es nur vorübergehend war – ich wusste, dass er zurückkehren würde. Und Ronny. Irgendwo dort draußen bei einem Rodeo – wer weiß wo –, in Butte oder Bozeman oder Billings, in Las Vegas oder Laramie oder Las Cruces. Ich hatte es im Gefühl, dass auch Ronny eines Tages wieder da sein würde.
Denn Ronny war der erste Einwohner von Little Wing gewesen, der es zu Berühmtheit gebracht hatte. Ich kann mich noch genau an den Freitagabend erinnern, an dem er im VFW im Fernsehen zu sehen war. Die Bar platzte aus allen Nähten, die ganze Stadt war gekommen. Ronny sollte einen Stier namens Texas Tornado reiten. Er hatte sich seinen riesigen schwarzen Cowboyhut fest in die Stirn gezogen. An Ronny war eigentlich alles fest. Die Muskeln an seinen Unterarmen schwollen auf geradezu groteske Weise an, während sich der Stier unter ihm in dem Verschlag ungeduldig aufbäumte. Sein Gesicht war so scharf gemeißelt, wirkte so unendlich konzentriert. Seine Bluejeans waren so eng, als hätte man sie direkt um seine Schenkel genäht, und direkt über seinem Schritt saß eine riesige silberne Schnalle, wie der Siegesgürtel eines Schwergewichtschampions. Genauso gut hätte er sich auch ein Schild dorthin hängen können, mit einem großen Pfeil darauf und den Worten: Hier hängt der größte Schwanz der Welt.
Als das Gatter des Verschlags dann aufsprang und sich in die schlammbraune Arena von Amarillo, Texas, öffnete, hielten wir alle die Luft an. Und dann feuerten wir ihn an. Mein Gott, haben wir ihn angefeuert – die ganze Stadt gegen diesen einen Stier –, alle schrien, verschütteten ihr Bier, sprangen auf und ab und drängelten sich aneinander, und Ronny – dieser Teufelskerl – hielt sich dort oben fest, mit aller Kraft, eine Hand hoch in die Luft gehoben, als fordere er Applaus, die andere fest wie ein Schiffstau im Stier verankert. Die silbernen Sporen glänzten, der schwarze Hut sprang in den Sand, die v-förmigen Hufe trommelten in der Luft und der Rotz des Stiers sprühte durch die Gegend. Acht Sekunden zum Ruhm. Und als einer der Rettungsreiter ihn schließlich von diesem Stier herunterholte, da brüllten wir vor Begeisterung so laut, dass die Wände wackelten. Mein Gott, war ich stolz auf ihn. Und Ronny lupfte elegant den Cowboyhut aus dem Staub und verbeugte sich dann vor der Menge, wie ein wirklicher echter Cowboy – ein amerikanischer Matador. Dann sprang er über einen Zaun neben der Koppel und wartete auf seine Wertung.
Er gewann damals dieses Rodeo. Er bekam ein Preisgeld von fünftausend Dollar und eine neue glänzende Gürtelschnalle, und jeder in Little Wing dachte, Scheiße, Mensch, Ronny Taylor ist ein reicher Mann! Ronny ist ein verdammter Fernsehstar!
Ich wollte auch haben, was er hatte. Ich wollte, dass mich bei meiner Rückkehr nach Little Wing die Mädels aus der Highschool, Mädels wie Beth, im VFW umringten und mir die Zungen ins Ohr steckten, mir sagten, wie herrlich und einzigartig ich war, dass sie Kinder von mir haben wollten, dass sie sich wünschten, ich würde sie in dem Motel zwischen Little Wing und Eau Claire an einen Bettrahmen fesseln. Das Motel hatte nur acht Zimmer, und als Teenager fuhren wir dort manchmal hin, um Marihuana zu rauchen. Manchmal mieteten sich auch zwei Jungs und zwei Mädchen zwei Betten und brachten zwei Flaschen Whiskey mit und dann verschwamm oft jegliche mathematische Zuordnung – die Treue zu dem einen Bett oder dem einen Liebhaber wurde fließend oder verschwand völlig, und manchmal waren es drei und manchmal auch alle vier, in einem Bett oder auf dem Boden, sechzehn Arme und Beine ineinander verflochten, und am Morgen zu viele Menschen für ein kleines Motelzimmer und längst nicht genügend Handtücher.
Ich fuhr durch Süd-Wisconsin, an Madison und Dells vorbei, immer weiter Richtung Norden. Die Espen erstrahlten in einem so tiefen Gelb, dass man tatsächlich meinen konnte, sie gäben einen Ton von sich, wenn sie von einem Sonnenstrahl getroffen wurden, einen unendlich hohen Ton, der so rein und klar war, dass ich nur schwer die Augen offen halten konnte; es war wie der Klang eines göttlichen Schwerts, das durch die Luft schnitt. Und das Rot der Ahornbäume war genauso kräftig wie die Herzen, die wir in der Grundschule immer ausgemalt hatten, diese Papierherzen, die wir mit unseren Buntstiften so leidenschaftlich bearbeiteten, um sie dann unseren Müttern zu schenken. Ich fuhr schneller. Ich schämte mich, nach Hause zu kommen, ohne etwas in Händen zu halten, ohne etwas vorweisen zu können, es war mir peinlich, kein Superstar zu sein, und dennoch war ich unendlich froh heimzukehren.
Ich hielt am Supermarkt, um mir zur Feier des Tages ein Sixpack zu kaufen, und dort sah ich einen Zettel, auf dem jemand mit zittriger Handschrift ein Zimmer in einem Farmhaus für eine lächerlich niedrige Miete von hundert Dollar im Monat anbot. Daneben standen eine Telefonnummer und eine Adresse, die an einer der Landstraßen lag. Ich hatte ungefähr viertausend Dollar in bar zusammengespart, von unseren Auftritten und auch von ein paar Gelegenheitsjobs, die ich während unserer Tourneen hier und da angenommen hatte. Außerdem konnte ich, wenn es wirklich hart auf hart kam, auch mein Auto verkaufen, einen ziemlich heruntergekommenen hellblauen AMC Gremlin. Ich wählte die angegebene Nummer und machte ein Treffen mit der Vermieterin aus, einer ganz offensichtlich schon etwas betagteren Dame namens Bea Cather.
Sie schien mich sofort zu mögen, aber vielleicht war sie ja auch einfach nur einsam und freute sich über jeden Besuch. Sie lud mich zum Mittagessen ein – Thunfisch-Sandwiches, alte Kartoffelchips, selbstgemachte Essiggurken und Milch. Wir saßen an ihrem Küchentisch und schauten auf einen großen Hinterhof, der in endlose Maisfelder überging. Alle paar Meter waren Nistkästen und Futterhäuschen für die Vögel angebracht und der ganze Hinterhof quoll über von kitschigem Dekor wie Gartenzwergen und blauvioletten Kugeln, die das Licht reflektierten.
»Ich könnte den Rasen da für Sie mähen«, bot ich an.
»Oh, das ist sehr nett von Ihnen, aber darum kümmert sich Joaquin schon.«
»Joaquin?«
»Einer meiner anderen Mieter.«
Ich hörte Schritte im Raum über uns und das leise Geräusch eines Radios.
»Wie viele andere Mieter wohnen hier denn noch?«
»Im Augenblick drei. Vier, wenn Sie mich mitzählen. Und der Hund.«
»Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam«, sagte ich, »aber … ich habe keine Möbel.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Herzchen, das Zimmer, das ich noch übrig habe, ist möbliert. Es ist zwar nicht besonders viel, aber es müsste reichen.«
»Oh, und ich würde gerne im Voraus bezahlen. Für sechs Monate. Ist das okay?«
Ich zog ein Bündel Geld aus der Tasche, zählte sechs Hundertdollarscheine ab und legte sie auf den Tisch.
Bea hob eine weißhaarige Augenbraue und sah mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg an. »Sie sind doch nicht etwa einer von diesen Leuten, die heimlich Meth kochen, oder? Ich kann hier keine Drogenhändler gebrauchen.«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin Musiker.«
Das Beste am Herumtouren, an den Festivals und den vielen neuen Städten ist, dass man andere Musiker kennenlernt. Ich bin jetzt an einem Punkt angelangt, wo ich zum Telefon greifen, mein Label oder meinen Agenten anrufen und sie nach der Nummer von so ziemlich jedem fragen kann. Ich habe die Nummer von Bob Dylan auf einem Zettel, den ich in meinem Studio an die Wand geklebt habe. Es steht nur BOB drauf, und dann noch ein paar Zahlen. Aber es ist nicht so, als hätte ich ihn tatsächlich schon mal angerufen. Ich habe irgendwie Angst davor. Ich habe Angst, er könnte nicht wissen, wer ich bin, aber es ist mir auch ein bisschen peinlich, dass es mir so wichtig ist, dass er meinen Namen kennt. Für den Augenblick reicht es mir einfach, den Zettel dort hängen zu haben, zu wissen, dass ich ihn anrufen könnte, wenn ich es wollte. Für mich fühlt sich das so ähnlich an, als hätte ich eine direkte Leitung zu Gott. Aber vielleicht sollte ich ihn ja irgendwann doch mal anrufen. Er ist hier in der Nähe aufgewachsen. Minnesota liegt sozusagen gleich um die Ecke.
Aber was ich damit sagen will: Es kann ziemlich großartig sein, so viele andere Musiker um sich herum zu haben – man wird die ganze Zeit mit neuen Ideen und neuen Klängen bombardiert. Wenn du willst, kannst du dich jeden Tag mit jemandem zusammentun und verrückte Ideen mit Leuten ausprobieren, die diese Ideen in keiner Weise für verrückt halten. Wenn du Glück hast, dann wird dein eigener Klang von Tag zu Tag komplexer, bis du einen Klangteppich aus Stoffen webst, von denen du gar nicht mehr weißt, dass sie dir gehören oder du sie dir irgendwann mal angeeignet hast.
Aber als ich dort in diesem Farmhaus wohnte, war ich vollkommen allein – es gab keine anderen Musiker. Ich wohnte zwar mit anderen Menschen zusammen, aber meistens ließen sie mich in Ruhe, damit ich arbeiten konnte. An dem Tag, nachdem ich nach Wisconsin zurückgekehrt war, nachdem ich Bea sechshundert Dollar gegeben hatte, wachte ich mittags auf, während draußen der Regen auf das Blechdach des alten Hauses trommelte. Es war der 1. November. Ich hatte meine Kleider noch nicht ausgepackt. Ich besaß sowieso keine Winterklamotten, hatte seit Monaten keine mehr gebraucht; ich war ja andauernd unterwegs gewesen. Ich öffnete den kleinen Schrank. Drinnen hingen ein paar Kleiderbügel aus Draht und ein abgetragener rosa Morgenmantel, auf dessen Brust links die Initialen BEC gestickt waren. Ich probierte ihn an. Meine Schultern dehnten den alten Stoff fast zum Zerreißen, und meine Knie waren unbedeckt. Ich zog ein paar Jeans, Socken und ein langärmeliges T-Shirt an, wickelte mich wieder in den Morgenmantel und verknotete den rosa Gürtel eng um die Taille. Dann trottete ich die Treppe hinunter.
Am Küchentisch saßen drei mexikanische Männer mit Tortillas in ihren großen braunen Händen und aßen Huevos Rancheros aus einer gusseisernen Pfanne. Ich hatte sie wohl erschreckt, denn ihr eifriges spanisches Geschnatter verstummte abrupt. Sie hörten alle auf zu essen und starrten mich mit ihren harten schwarzen Augen an.
Dann ertönte Beas zerbrechliche und dennoch laute Stimme von der umlaufenden Veranda draußen: »Ist schon okay, Jungs. Er wohnt jetzt bei uns.« Da kauten sie weiter.
Ich stand da, die Hände in den Taschen des rosa Morgenmantels vergraben, betrachtete den Linoleumboden, die Magneten an Beas Kühlschrank und die Sammlung von Porzellanküken, die auf einem Regal über der Küchentür hockten.
»Setz dich«, sagte einer von ihnen. »Ich bin Joaquin. Das ist Ernesto. Und das da ist Garcia. Komm schon, setz dich. Tortillas?«
Und so aß ich mit ihnen, schweigend, hörte ihnen zu, wie sie Spanisch sprachen, und spürte den Blick ihrer nachtschwarzen Augen auf mir, wie sie mich prüfend anschauten, mich, ihren neuen Mitbewohner, der im Bademantel einer alten Frau steckte. Das Essen war köstlich. Egal wie deprimiert ich in diesen ersten Monaten war, ich muss durch Joaquins Kochkünste ungefähr acht Kilo zugenommen haben. Die ganzen Bohnen und Tortillas und Menudosuppen und der viele Reis.
»Entschuldigt mich«, sagte ich und stand auf, als ich fertig war. »Vielen Dank fürs Frühstück.«
»Almuerzo«, sagte Garcia. »Mittagessen.« Er schüttelte den Kopf.
Ich ging hinaus auf die Veranda und zog den Morgenmantel enger um mich. Der Regen schlug die Blätter von den Bäumen. All diese herrlichen Farben, die gestern noch den Himmel geschmückt und zum Leuchten gebracht hatten, bedeckten jetzt den Boden – und der Himmel war so grau wie Graphit. Mein Atem stieg dampfend in die Luft. Bea saß in einem Schaukelstuhl und hielt eine Tasse Tee in der Hand.
»Allein könnte ich hier nicht wohnen«, sagte sie, ohne mich anzusehen. »Die Stille dieses Hauses könnte ich allein nicht ertragen.«
Ich nickte. Es ließ sich nur schwer sagen, wie alt sie war. Siebzig vielleicht. Oder auch neunzig. Ihre Stimme kiekste ein wenig, wenn sie sprach, aber ihr Tonfall war selbstsicher, klar und bestimmt.
»Es sieht aus, als wäre es ein vollkommen anderer Ort«, sagte ich. »Die ganzen Farben. Weg.«
»Wie ist Ihre Musik denn so?«, fragte sie.
Ich schaute in den Himmel. Die lückenlose Wolkendecke hing tief über der Erde und die Regentropfen fielen wie schwarze Pinselstriche auf das Farmland und die ausgeblichenen braungelben Stiele der stehen gebliebenen Maisstauden.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wie der Winter vielleicht.«
Sie nickte. »Der kommt schon bald.«
In den ersten Tagen wanderte ich einfach nur über Beas Anwesen. Ich ging hinaus zur Straße und folgte ihr auf dem Schotter des Randstreifens. Ging über die wartenden Felder, überließ mich der Einsamkeit. Ich wollte meine neue Welt erkunden.
Nicht weit vom Farmhaus war ein alter Hühnerstall. Er ging nach Süden raus. Der niedrige, enge Raum wurde von einer Reihe kleiner schmutziger Fenster erhellt, die etwa zweieinhalb Meter über dem Boden lagen und fast direkt an das unisolierte Dach grenzten. Der Boden war aus Lehm, und ein Großteil der Wand war mit einem schwarzweißen Fresko aus Hühnerkot bedeckt. Die Luft roch nach Harn, fauligem Stroh und kalter nasser Luft.
Das genügt mir.
Ich säuberte den Stall so gut es ging. Fegte die verwaisten Vogelnester und toten Mäuse hinaus. Wischte die Spinnweben von Wänden und Decke. Reinigte die Fenster mit Zeitungspapier und Essigwasser. Zwischen die alten Wände und das neue Sperrholz, das ich mit Nägeln daran befestigte, stopfte ich frisches Stroh. Ich kaufte mir fünf rechteckige Strohballen, um etwas zum Sitzen zu haben und meinen Computer darauf abstellen zu können. Der Stall war früher einmal an den Stromkreis angeschlossen gewesen, um die einzelne nackte Glühbirne zum Leuchten zu bringen, die von der Mitte der Decke herabhing. Licht ist gut für Legehühner, es wärmt den Stall und hemmt die Brutbereitschaft. Joaquin half mir dabei, den Stall neu zu verkabeln, und dann fand er noch ein übriggebliebenes Stück Teppichboden, das wir über dem Lehmboden verlegten. Bei einer Auktion in Eleva kaufte ich einen alten Holzofen und stellte ihn in eine Ecke. Joaquin schnitt ein Loch ins Dach, verlegte ein Kaminrohr und isolierte den Abzugskanal.
Ich hatte ein Tonstudio.
Der Schnee kam schon sehr früh. Noch vor Thanksgiving. Ich weiß noch, wie ich in meinem Schlafzimmer stand und auf einen Novemberblizzard hinausschaute, der so heftig war, dass ich Beas rote Scheune nicht mehr sehen konnte. Die Mexikaner waren schon zur Arbeit gefahren (sie standen jeden Tag sehr früh auf und arbeiteten bis spät, melkten Kühe und misteten Ställe aus). Ich ging nach unten und kochte mir einen Kaffee. Bea saß im Wohnzimmer und las in einer Ausgabe der National Geographic.
»Sie sind jetzt schon seit zwei Wochen hier«, sagte sie streng. »Und ich habe noch kein einziges Mal Musik von Ihnen gehört, nicht mal das Radio haben Sie eingeschaltet.«
»Na ja«, stammelte ich. »Ich war, also, ich habe das Studio eingerichtet … musste mich erst mal einleben und so.«
»Okay«, sagte sie. »Ich dachte ja nur, weil Sie sagten, Sie seien Musiker.«
Vielleicht hatte ich ja einfach nur ein wenig Schelte gebraucht, denn von da an stand auch ich immer früh auf – sobald ich die Mexikaner herumwerkeln hörte. Ich frühstückte mit ihnen. Kochte ihnen Kaffee. Wir saßen zusammen in der frühmorgendlichen Dunkelheit und aßen schweigend. Sie gingen, ohne sich zu verabschieden, zwängten sich zu dritt in einen uralten Pick-up und fuhren los. Die Frontscheinwerfer tasteten sich die Veranda entlang und an der Haustür vorbei und dann sah man die Rücklichter rot und schläfrig auf der Straße kleiner werden, bis sie verschwanden. Drei Männer nebeneinander auf der Sitzbank. Garcia in der Mitte, der sich noch den Schlaf aus den Augen rieb und den Rest seiner dick mit Butter und Ahornsirup beschmierten Tortilla aß.
Ich spülte und trocknete das Geschirr. Räumte die Küche auf. Füllte eine Thermoskanne mit Kaffee und wappnete mich gegen die Kälte. Lange Unterwäsche, dicke Socken, Redwing-Stiefel, Flanellhemd, dicke Jacke, Wollmütze.
Neunundneunzig Schritte bis zum Stall. Das war meine Pendlerstrecke. Zeit genug, um währenddessen eine halbe Tasse Kaffee zu trinken, wenn nicht gerade so viel Eis, Schlamm oder tiefer Schnee auf meinem Weg lag, dass ich aufpassen musste, nicht auszurutschen. Im Innern des Stalls hatte ich ein paar Scheite trockenes Eichenholz gestapelt und in einem alten Milchkasten aus Plastik lagen ein paar Zeitungsblätter, Kiefernzapfen und Anzündholz. Das war immer meine Lieblingszeit, wenn ich das Feuer anzündete, den Tag begann. Mein Magen war noch ganz voll und warm, der Kaffee schon fertig, meine kalten Finger und Zehen tauten allmählich auf. Manchmal saß ich eine Stunde oder länger über den Ofen gebeugt und wärmte mir einfach nur die Handflächen. Bea gab mir ein altes Kurzwellenradio und ich hörte mir an, was auch immer ich finden konnte: französische Liebeslieder aus Quebec, Zydeco aus New Orleans, Bluegrass aus den Appalachen und sogar die Gospels von irgendeinem örtlichen Bibelsender.
Und dann kritzelte ich irgendwelche Songs auf, Ideen, Gedichte. Schrieb über all das, wonach ich mich sehnte, was zu der Zeit, wie sich herausstellen sollte, ungefähr alles war, was man sich nur denken konnte. Ich hatte niemandem erzählt, dass ich da war, nicht einmal Henry oder Ronny. Eddy war in der Stadt, das wusste ich, und die Giroux-Zwillinge ebenfalls. Aber ich hatte mich mit niemandem getroffen. Ich fuhr nie in die Stadt, obwohl sie nur etwa fünf Meilen entfernt war. Bea hatte die Gewohnheit, jeden Tag nach Little Wing zu fahren, und so konnte ich ihr einfach eine Liste und ein wenig Geld geben, wenn ich etwas brauchte. Falls ich Bier oder sonstigen Alkohol wollte, steckte ich Joaquin ein paar Dollar zu und er brachte mir das Gewünschte, und Garcia hatte so seine Quellen, über die er mir jederzeit Gras besorgen konnte.
Der Klang meiner Musik hatte viel von diesem Hühnerstall: ein kalter Ort, den es nach etwas Wärme dürstet. Die Lieder fingen immer sehr langsam an und tauten dann auf, begannen zu fließen. Und falls der Holzofen mitten im Stück knallte, mitten in einer Aufnahme, dann war das eben so. Wenn der Wind heulend aus den Dakota-Staaten herunterfegte, aus Alberta oder Saskatchewan, und die losen Fensterscheiben durchrüttelte, dann war das eben auch so. Das Ganze erinnerte mich an alte Jazzaufnahmen – John Coltrane, den man hören kann, wie er um eine Zigarette bittet, Miles Davis, der dem Produzenten gerade etwas zumurmelt, oder diese Live-Aufnahmen aus dem Village Vanguard – klingende Gläser, klirrende Eiswürfel im Sektkühler, das Klappern hoher Absätze, während sie die Treppen in den Club im Greenwich Village hinuntersteigen.
Manche von den Musikern, die ich auf meinen Touren treffe, besonders die ganz jungen, die, die jünger sind als ich, fragen mich: »Wie hast du es geschafft, dorthin zu kommen, wo du jetzt stehst? Was müssen wir tun, um noch diesen einen Schritt weiterzukommen?« Ich weiß dann nie genau, was ich antworten soll. Ich glaube, meistens sage ich ihnen einfach nur, sie sollen weitermachen, immer nur weitermachen. Dranbleiben. Aber wenn ich in einem solchen Moment betrunken wäre und so richtig mein Herz ausschütten wollte, dann würde ich wohl Folgendes sagen:
Sing so, als hättest du kein Publikum, sing, als wüsstest du nicht, was ein Kritiker ist, sing über deine Heimatstadt, deine Abschlussfeier, sing über Rehe, über die Jahreszeiten, über deine Mutter, sing über Kettensägen und Tauwetter, über Flüsse und Wälder, sing über die Ebenen der Prärie. Aber egal was du tust, fang sehr früh morgens mit dem Singen an, und sei es auch nur, um dich warm zu halten. Und wenn du an einem warmen, malerischen Ort wohnst, dann zieh nach Wisconsin. Kauf dir einen Holzofen und verbring eine ganze Woche damit, Holz zu hacken. Bei mir hat es funktioniert.
Ich ging mit dem Brief die Kiesauffahrt vor Beas Haus hinunter, jeder Schritt schwerer als der vorherige. Der Briefkasten und die Landstraße erschienen mir wie ein furchtbares schwarzes Loch, das diesen Brief in die Welt hinaussaugen würde, hinaus zu Beth. Ich stand mehrere Minuten neben dem Briefkasten, bis ich den Brief endlich hineinschob und die Klappe wieder schloss. Einen Augenblick später öffnete ich sie wieder und steckte den Brief in die Hosentasche. Und dann wünschte ich mich selbst zur Hölle und schob ihn wieder in den Kasten. Gleich darauf nahm ich ihn wieder heraus. Ich schaute die Straße hinauf und hinunter, hielt nach Autofahrern Ausschau, Passanten, Zeugen. Natürlich war da niemand. Vielleicht schaute mir ja Bea vom Verandafenster aus mit dem Fernglas zu, das sie zum Vogelbeobachten benutzte, und dachte: bekloppter Musiker. Schließlich legte ich den Brief zurück in den Kasten, ging etwa zwanzig Schritte die Straße hoch, setzte mich hin und schnipste mit den Fingern kleine Kieselsteine durch die Gegend. Es war ein relativ warmer Januartag und über den vereinzelten Inseln aus Schnee lag ein freundlicher Nebel.
Nach einer Weile kam der Postbote in einem alten Minivan, bei dem das Lenkrad auf der rechten Seite war. Wir bekamen nicht besonders viel Post, aber ich hatte die Aufgabe übernommen, täglich zum Briefkasten zu gehen und die wenigen Sendungen zu holen, die für uns gekommen waren. Meistens waren es Rechnungen. Rabattgutscheine. Wurfsendungen mit Werbung für Autos oder Immobilien. Niemand wusste, wo ich war, also rechnete ich auch nicht damit, Post zu bekommen. Manchmal kam ein Brief aus Mexiko und ich genoss es, die ausländischen Briefmarken zu berühren und mir den Umschlag an die Nase zu halten, um herauszufinden, ob ich wohl irgendetwas Exotisches riechen konnte. Doch das gelang mir nie. Der Postbote hatte unseren Briefkasten vollgestopft und schloss die Klappe. Dann hielt er mit seinem Minivan neben mir.
»Der Brief, der da drin war«, fragte er, »haben Sie den adressiert?«
Ich nickte.
»Ich kenne Beth«, sagte der Postbote. »Nettes Mädel.« Er sah mich misstrauisch an. »Kenne ich Sie?«
»Wahrscheinlich nicht«, log ich. »Ich bin nur auf der Durchreise.«
Wenn es auch nur einen einzigen Nachteil gibt, den eine Kleinstadt hat, dann der, dass man sich nicht vor seinen Nachbarn verstecken kann. Sie wissen immer, wo sie dich finden können. Und meistens finden sie dich dann auch wirklich. Weil sie dich gerade brauchen, dein Werkzeug oder deinen Wagen. Wir sind eben aufeinander angewiesen. Ich erkannte den Postboten wieder, wenn auch nur sehr vage. Obwohl ich schon seit Jahren nicht mehr in Little Wing wohnte, kannte ich sein Gesicht. Er gönnte sich öfter im VFW einen Drink, am frühen Abend, am liebsten einen Cocktail namens Rusty Nail. Manchmal spielte er auch Cribbage an der Bar, mit einem anderen Postboten.
»Sie wissen aber schon, dass das hier die Adresse ihrer Eltern ist, oder?«, fragte er. »Und nicht ihre eigene.«
Ich nickte, stand auf und klopfte mir den feuchten Kies vom Hosenboden. »Also vielen Dank noch mal«, sagte ich.
»Das nächste Mal benutzen Sie aber besser einen Kuli«, sagte er. »Das hier kann ich ja kaum lesen.«
Ich wollte ihr einfach nur nahe sein, denke ich. Ich sehnte mich nach der Gesellschaft einer Frau. Ich wollte mit einer Frau im Bett liegen, ihre Haare riechen, ihren Bauch berühren, aber mehr als alles andere wollte ich mit jemandem reden. War der Brief, den ich an Beth geschrieben hatte, ehrlich gewesen? Ich glaube schon. Ich glaube, er war zutiefst aufrichtig, obwohl man das nach so vielen Jahren nur noch schwer sagen kann. Wir haben miteinander geschlafen, das lässt sich nicht leugnen, und ich weigere mich, das zu bereuen. Ich werde mich für den Rest meines Lebens an diese Nacht erinnern. Mittlerweile habe ich mit Hunderten von Frauen geschlafen. Vielleicht waren es auch mehr als tausend. Ich habe wahrscheinlich mit mehr Frauen im Bett gelegen, als Little Wing Einwohner hat. Aber jene Nacht mit Beth, das ist die eine Nacht, an die ich mich erinnere. Die eine Nacht, die mich verwirrt, die mich quält, die mein Blut rascher fließen lässt.
Was bin ich nur für ein Freund? Mit der Frau meines besten Freundes zu schlafen? Klar, sie waren damals noch nicht verheiratet – sie waren zu diesem Zeitpunkt nicht einmal zusammen – aber trotzdem. Ich habe all diese Jahre ein Geheimnis bewahrt. Und ich nehme an, Beth ebenfalls. Heißt das, wir schämen uns dessen, was wir getan haben? Oder heißt es, wir wollen es ganz für uns allein behalten, wie einen unerklärlichen Traum, einen Traum, zu dem du, wenn du aufwachst, wohlig wieder zurückkehren möchtest, einen Traum, in dem du eine Ewigkeit verweilen könntest, während dein Körper altert, dein Bett sich erschöpft und diejenigen, die du geliebt hast, immer mehr verblassen und irgendwo an den Rändern deiner Wirklichkeit einen leisen Tod sterben.
An dem Morgen, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, war Beth schon vor der Dämmerung verschwunden. Ich konnte die Mexikaner in der Küche hören, wie sie Eier aufschlugen, Tortillas brieten und die Bohnen in einem Topf zum Kochen brachten. Bea schlurfte in ihren Hausschuhen durch die Gegend und pfiff »Don’t Sit Under The Apple Tree«. In einer Ecke murmelte das Radio vor sich hin, während es aus dem Toaster daneben rauchte, weil gerade ein größerer Krümel von Beas Bananenbrot darin verbrannte.
»Buenos Dias«, sagte ich zu niemandem Bestimmten. Ich war froh zu sehen, dass schon jemand Kaffee gekocht hatte. Ich goss mir eine Tasse ein und blies in den Dampf. »Buenos«, antworteten meine Mitbewohner, während Bea mich von oben bis unten musterte, als sei ich ein Landstreicher.
»Ihre Schwester, hmmm?«, sagte sie.
Garcia kicherte, schaufelte sich Rührei in den Mund, verschluckte sich, hustete, nahm einen Schluck Orangensaft und setzte sich aufrecht hin, um wieder zu Atem zu kommen.
»Sie hätte doch mit uns frühstücken können«, sagte Bea. »Ihre Schwester. Wir hätten sie bestimmt gerne dabeigehabt.«
»Ihr Flug ging sehr früh«, sagte ich.
»Ist da nicht jemand mitten in der Nacht aufgestanden?«, fragte Joaquin. »Ich hätte schwören können, dass ich jemanden an der Haustür gehört habe.«
»Wisst ihr«, sagte ich, »ich glaube, ich nehme heute mal mein Frühstück und meinen Kaffee mit ins Studio.«
Ich schaufelte Eier und Bohnen in eine Schüssel, legte drei Tortillas darüber, um das Essen warm zu halten, und nahm dann alles mit nach draußen. Keine Jacke, keine lange Unterhose. Im Studio stieß ich die Tür mit dem Fuß hinter mir zu, stellte das Essen oben auf den Holzofen und machte ein Feuer. An diesem Tag vollendete ich Shotgun Lovesongs. Ich arbeitete ohne Unterbrechung. Wenn ich mal musste, ging ich einfach nach draußen, außer Sichtweite vom Farmhaus und von Beas Fernglas und pinkelte in eine Schneewehe. Wenn ich Hunger hatte, rannte ich ins Haus und holte mir noch ein paar Tortillas und etwas mehr Kaffee. Es war Sonntag, der einzige Tag in der Woche, an dem die Mexikaner freihatten. Sie lungerten im Wohnzimmer herum, schauten Collegefootball, Profiwrestling, eine Dokumentation über Buckelwale. In der Küche stand eine Menudosuppe auf dem Herd und der Dampf beschlug die Fenster. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise schien jeder zu verstehen, was vor sich ging, was ich gerade tat. Wann immer ich das Haus betrat, nickten sie mir einfach nur zu. Sie kochten immer neuen Kaffee. Als ich nach Einbruch der Dunkelheit wieder ins Haus kam, wartete auf dem Tisch ein Apfelkuchen auf mich und die ganze Küche roch nach Zimt und Muskatnuss.
Man nennt sie Shotgun Weddings – eine Heirat mit Schießgewehr –, weil der Vater der Braut dem Bräutigam währenddessen ein Gewehr in den Rücken drückt. Vorher ist irgendwas geschehen. Eine Schwangerschaft, ein verlorenes Jungfernhäutchen, ein Bankrott, der Ausbruch eines Krieges. Was auch immer passiert ist, diese Hochzeit wird jetzt vollzogen, und zwar schleunigst. Es wird nichts geplant. Es geht sofort zum Standesamt und dann gibt es allenfalls einen kleinen Empfang im Untergeschoss der Kirche, deren Gemeinde die Braut angehört, ohne Alkohol. Keine Flitterwochen, keine Dosen, die hinter der Limousine des Brautpaars herscheppern.
Genau so dachte ich auch über Shotgun Lovesongs. Während ich daran arbeitete, fühlte es sich an, als würde ich mir selbst ein Gewehr in den Rücken drücken. Ich spürte den Druck, diesen unglaublichen Druck, es zu tun, zu vollenden, es Little Wing zu beweisen, Beth, Kip, Ronny und Henry zu beweisen, dass ich kein Versager war. Dass ich etwas schaffen konnte, etwas Schönes und Neues und Bemerkenswertes und dass ich es auf schnelle schmutzige Art einfach so hinbekam, in einem Hühnerstall, nur mit meinem kleinen armseligen PC und einem Holzofen, der mich vor dem Erfrieren bewahrte.
Dieses Album, dessen Produktion mich im Grunde genommen genau sechshundert Dollar gekostet hat, hat 1,6 Millionen Exemplare verkauft. Es verkauft sich immer noch. Jede Woche verkauft es sich besser als in der Woche davor. Und die Liebeslieder: Ich habe sie alle für Beth geschrieben.
...
Ich fuhr mit dem Umzugswagen nach Little Wing, am Steinbruch und am Golfplatz vorbei, über die Eisenbahnschienen und über einen kleinen Bach, der keinen Namen hat. Da war die Mühle, Kips Mühle. Davor standen zahlreiche Pick-up-Trucks, und es war sogar ein Güterzug da, der eine Ladung Mais entgegennahm. Die Luft schien stillzustehen, während der gelbe Maisstaub hinauf in den Himmel stieg. An dem höchsten Turm der Mühle hingen an der Seite mehrere Plattformen herab, auf denen Anstreicher hin und her liefen. Am höchsten Punkt war das zerschundene Grau der Mühle bereits einem cremigen Honigton gewichen. Vor dem Hintergrund des blauen Himmels schien dort oben ein winziges Stück Wohlstand Einzug gehalten zu haben. Doch weiter unten, dort, wo die Maler noch nicht hingekommen waren, sah die Mühle noch immer wie ein Gebäude aus, das zu viele Winter erlebt hatte. Ich fuhr weiter. Nach Eau Claire waren es immer noch zwanzig Meilen.
Henry wartete bereits auf dem Parkplatz der Umzugsfirma auf mich. Er stand gegen seinen Pick-up gelehnt. Wir begrüßten uns mit einer herzlichen und kräftigen Umarmung und lächelten uns an.
»Du siehst aus wie ausgekotzt«, sagte Henry.
»Schön, wieder zu Hause zu sein.«
»Was musst du hier noch tun?«
»Nur noch den Schlüssel abgeben, dann können wir uns aus dem Staub machen. Ich würde gern was einkaufen. Ich brauche dringend Bier.«
Nachdem ich meine Vorräte aufgestockt hatte, fuhren wir zurück nach Little Wing. Im Auto herrschte eine gespannte Stille und die Luftpartikel zwischen uns waren vor lauter Wiedersehensglück wie elektrisch geladen, auch wenn wir beide irgendwie nicht wussten, was wir sagen sollten.
»Also«, sagte Henry, und ich wusste, das war seine Art zu fragen, was es mit meiner Scheidung auf sich hatte.
»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Es war nichts Dramatisches. Wir hatten einfach nur – Scheiße, wir hätten gar nicht erst heiraten dürfen. Verstehst du? Du und Beth. Ihr beide habt den Dreh raus. Ich weiß auch nicht. Ich habe keine Ahnung, wie ihr das überhaupt schafft.«
Wir schwiegen einen Moment und schauten auf die Straße.
»Und was jetzt?«
Ich zuckte mit den Schultern und schaute aus dem Fenster: eine Senke voller rostiger Traktoren und verschrotteter Pick-ups, ein von Felswänden umrissener Hügelkamm, uralte Eichen, die mit Stacheldraht verbunden waren. »Ich schätze, jetzt bin ich erst mal hier. Ich schätze, ich bin ein geschiedener Mann. Nein, Verzeihung. Ich lasse mich scheiden. Lebe getrennt. Wir leben getrennt.«
»Tja, Beth und mir, uns tut’s schrecklich leid für euch. Wir mochten Chloe. Ich mochte Chloe.«
»Das tun anscheinend sehr viele Männer.«
»Lee.«
»Nein, echt, das ist die volle Wahrheit.«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Wir fuhren schweigend weiter. Dort drüben war eine Herde von Kühen, die in einer niedlichen, geraden Reihe brav zu einer roten Scheune trotteten. Und da hinten, weit entfernt am Horizont, fuhr ein Heißluftballon durch die Luft, der so gelb war wie das Nummernschild von New Mexico.
»Wollen wir uns betrinken?«
Henry drehte sich zu mir und nickte dann langsam mit dem Kopf, als bräuchte er ein wenig Zeit, um über diese Frage nachzudenken. »Ich glaube, ich hätte schon Lust, mich zu betrinken. Ja. Jetzt, wo du es sagst. Auf jeden Fall. Aber bist du sicher, dass das jetzt das Richtige für dich ist?«
»Es kann auf keinen Fall schaden.«
Wir hielten an einer Spirituosenhandlung und ich kaufte so viele Kästen Bier, so viele Weinkisten und sonstigen Alkohol, dass der alte Mann, dem der Laden gehörte, uns ein Rollwägelchen lieh, mit dem wir das Ganze besser zum Wagen transportieren konnten. Wir liefen hin und her, Henry hielt mir die Tür auf, während ich mit dem Wägelchen raus und rein fuhr und den Alkohol auf der Ladefläche von Henrys Pick-up verstaute.
»Denkst du, das reicht jetzt?«, fragte ich Henry an der Kasse und zwinkerte ihm zu.
»Ich weiß nicht«, sagte Henry. »Vielleicht nicht.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wir nehmen noch drei Kästen Leinenkugel’s.«
Der alte Mann blinkte mehrfach hinter seiner dicken Brille, bevor er die drei Kästen zu unserer Rechnung addierte. Der Kassenzettel, der sich aus der Kasse spulte, wurde länger und länger und sah nun fast so aus wie eine winzige Schriftrolle.
»Feiert ihr ’ne Party?«, fragte der alte Mann und spähte über seine Brille hinweg zu mir hoch.
»Eine Willkommen-daheim-Party«, sagte ich, lächelte und legte zehn Hundertdollarscheine auf den Ladentisch.
Nachdem wir an meinem Haus angekommen waren, luden wir den Alkohol und die übrigen Einkäufe aus dem Pickup. In meiner Garage steht ein alter Kühlschrank von General Electric. Den füllten wir bis obenhin mit Bier. Dann füllten wir die Küchenvorräte wieder auf, bis die Vorratskammer von Frühstücksflocken, Kräckern, Chips, Olivenöl, Pasta und Nudelsoße nur so überquoll.
»Ich sollte Beth mal anrufen und sie wissen lassen, wo ich bin«, sagte Henry. »Kann ich dein Telefon benutzen?«
Ich winkte zustimmend mit der Hand. »Lad sie doch einfach auch ein. Sag ihr, sie soll die Kinder mitbringen.«
»Bist du sicher?«
Ich hob die Schultern, ließ sie dann wieder fallen. Während ich aus dem Fenster schaute, fühlte ich mich plötzlich wie ein sehr alter Truck, dessen Kilometerzähler nicht mehr weiß, wie viel Meilen er gelaufen ist. Ich verspürte das unbändige Bedürfnis, mich zu betrinken und dann bis in alle Ewigkeit betrunken zu bleiben. Ich hatte Angst vor dem nächsten Tag und dem Tag darauf, Angst vor der Vorstellung, allein zu sein und an Henry und seine Familie zu denken. Mir Henry und Beth im Bett vorzustellen. Wie sie sich berühren, sich küssen. Wie sie einfach nur zusammen sind. Wie sie ihm die Zeitung vorliest. Wie er ihr die Fußnägel lackiert.
»Warum nicht?«
»Okay, ich schau mal, was sie dazu sagt. Ich weiß es grad nicht mehr. Vielleicht muss ja eins der Kinder zum Training. Ich kann mir das einfach nicht merken.«
»Kinder«, sagte ich. »Kinder.« Ich fragte mich, wie das wohl sein mochte, Vater zu sein, für ein anderes menschliches Wesen verantwortlich zu sein.
Henry tippte die Nummer in mein Haustelefon und schaute zu mir rüber. »Bei dir alles in Ordnung, Kumpel?«, fragte er sanft. »Wir müssen uns nicht besaufen, wenn du nicht magst. Wir könnten uns einfach nur einen Kaffee kochen und dann etwas spazieren gehen. Keine Ahnung, oder wir machen ein Feuer oder so. Schauen nach, ob mit deinem Wagen alles in Ordnung ist. Basteln ein bisschen am Traktor rum.«
Ich stand vor der Spüle, stützte mich mit den Armen darauf ab. Draußen vor dem Fenster, ein Stück unterhalb des Hauses, stand der Kojote am Rand der Baumgrenze, wo die Sumachbäume nicht mehr wachsen können, weil es dort zu viel Schatten gibt. Ich fing lautlos an zu weinen – ich konnte mich nicht mehr beherrschen, es brach einfach so aus mir heraus. Ich beugte mich über die Spüle, mit bebenden Schultern, und mir brach das Herz, in einer Weise, wie es in New York nicht gebrochen war. Ich konnte spüren, wie meine Lungen nach Sauerstoff rangen – ich hatte vergessen zu atmen – und als ich endlich den Mund öffnete, brach ein Schluchzen aus mir heraus. Ich konnte nur noch schluchzen. Ich schämte mich. Und ich war unendlich traurig. Wir würden uns scheiden lassen. Wir waren auseinandergegangen. Gescheitert.
Henry legte das Telefon leise zurück auf die Gabel. Ich hörte, wie er sich hinter mich stellte, nah hinter mich, aber er berührte mich nicht, obwohl ich wollte, dass er es tat. Aber ich verstand auch, warum er es nicht tat, warum ein erwachsener Mann einen anderen nicht berühren kann, selbst wenn es das Richtige wäre.
»Was für eine Scheiße«, sagte ich. »Verstehst du? Sie hat mich verdammt noch mal verlassen.« Ich zog an den Haaren auf meinem Kopf, zog an meinen großen roten Ohren. Mein ganzes Gesicht war rot und heiß und tropfte. Ich hängte den Kopf in die Spüle und ließ es laufen, ließ alles aus mir herauslaufen, hinunter in das Porzellanbecken, hinunter in den Abfluss. Mein Geflenne erzeugte dort unten eine Art Echo, und das ernüchterte mich wieder etwas. Ich wollte nicht, dass Henry mich so sah, ich wollte nicht, dass überhaupt irgendjemand mich so sah. Ich drehte den Wasserhahn auf, spürte das kalte Wasser auf meinem Gesicht und ließ es über meine Hände laufen, benetzte mir den Hals, die Augen, die Nase. Dann holte ich Luft, atmete tief ein und wischte mir das Gesicht mit dem Arm ab. Der Rotz und die Tränen glitzerten auf meinen Tattoos. Als ich das erste Mal duschte, nachdem ich mir ein Tattoo hatte machen lassen, hatte ich Angst, die Tinte könnte einfach so wieder herauslaufen. Mittlerweile sind sie ganz verblichen, wie alte Graffiti. »Tut mir leid, Mann. Keine Ahnung, was da über mich gekommen ist.«
»Ich nehme an, das ist wohl ein Nein auf die Frage, ob die Kinder mitkommen sollen«, sagte Henry.
Ich lachte und wischte mir die Nase ab. Aber ich konnte Henry noch immer nicht ins Gesicht sehen. Ich starrte wieder aus dem Fenster und der Kojote schien zurückzustarren. Eine Krähe flog über den Hügelkamm, schwarz und glänzend.
»Ich koch uns mal Kaffee«, sagte Henry.
»Henry, kann ich dich um einen Gefallen bitten?«
»Alles, was du willst«, antwortete Henry. Ich muss unendlich schwach gewirkt haben, unendlich traurig.
»Lass mich nicht allein, okay?«
Und dann umarmte Henry mich doch und ich fing wieder an zu weinen, aber er drückte mich so fest, dass er mir genauso gut die Rippen hätte brechen können. Er würde ganz offensichtlich nicht loslassen, bevor ich nicht aufgehört hatte zu weinen. In diesem Moment verstand ich, was für ein Vater er war, was für ein Ehemann, was für ein Mann. Ich verstand, dass er stärker war als ich, besser als ich.
Wir setzten uns neben den Bach, teilten uns einen Joint und schauten dem Waser zu, wie es die abgefallenen Blätter zum Mississippi trug. Ich hatte mich schon seit Wochen nicht mehr bekifft und jetzt wurde ich so schnell high, dass die Worte aus meinem Mund strömten wie eine Abfolge von Noten, die ich sehen und berühren konnte – die Buchstaben dieser Wörter hingen dort draußen vor mir in der Luft, wie ein Alphabet-Spruchband, das in die Ferne schwebte.
»Das ist mir jetzt wirklich peinlich«, sagte ich. »Tut mir echt leid, Mann. Tut mir leid, dass du das da drinnen mit ansehen musstest. Ich weiß auch nicht. Ich bin so wahnsinnig traurig. Ich bin traurig und verwirrt und habe keine Ahnung, was hier eigentlich passiert. Ich bin einer von diesen Leuten, über die man in der Klatschpresse liest. Verdammte Scheiße. Wir waren nicht mal ein Jahr verheiratet. Was für ein Idiot muss man sein, wenn man’s nicht mal schafft, ein Jahr verheiratet zu bleiben?«
»Das ist den Leuten doch vollkommen egal«, sagte Henry. »Es wird ihnen jedenfalls bald vollkommen egal sein. Wart nur ein paar Monate – du wirst schon sehen. Wir sind einfach nur froh, dich wieder hierzuhaben.«
»Aber du verstehst doch, was ich meine, oder? Scheiße. Was zum Teufel habe ich mir bloß dabei gedacht?«
Henry sagte nichts, warf einfach nur Zweige in den Fluss und schaute zu, wie sie davontrieben.
»Hast du in letzter Zeit mal mit Ronny gesprochen?«
»Nein. Geht es ihm gut?«
Henry lächelte schief und nickte. »Besser als gut, würde ich sagen. Er wird heiraten.«
»Ach das. Ja, er hat mich vor ’ner Weile angerufen. Ich soll sein Trauzeuge werden.«
»Dann hast du’s also schon gehört.«
»Dass sie schwanger ist. Ich meine, Lucy ist schwanger – die Frau, die mit ihm auf deiner Hochzeit war.«
»Was? Du verarschst mich doch.«
»Ich schwör’s dir.«
»Lucy. Die mit auf der Hochzeit war. Die ist schwanger? Sie kriegen ein Kind?«
»Yep.«
»Und das passiert wirklich und wahrhaftig? Oder bin ich jetzt nur total bekifft?
»Sie ist schwanger.«
»Nein.«
»Doch.«
»Nein.«
»Technisch gesehen«, sagte Henry, »je nachdem, wann deine Scheidung durch ist, wird sie länger schwanger gewesen sein, als du verheiratet warst.«
Ich schaute Henry an, bereit, ihm eine reinzuknallen, aber dann brach ich in schallendes Gelächter aus. Und er lachte mit. Wir holten alles raus, was nur rauszuholen war. Unser Gelächter war so laut, dass kaum zwanzig Schritte von uns entfernt im tiefen Gras ein Moorhuhn aufgeschreckt wurde.
»Du solltest ihn anrufen«, sagte Henry. »Er wollte es dir persönlich sagen. Weil du ja der Trauzeuge bist und so.«
»Ich hab es wohl eher nicht verdient, sein Trauzeuge zu sein. Ich bin ein echter Scheißbrocken gewesen, dieses ganze letzte Jahr. Ich habe keine Ahnung, was da in mich gefahren war.«
Henry fuhr fort, Zweige in den Bach zu werfen, und sah mich nicht an. »Ich hab schon geglaubt, du würdest für immer weggehen.«
»Nein, das würde ich nie tun«, log ich. Und dann sagte ich: »Henry, da ist etwas, was ich dir sagen muss.«
Henrys Blick war auf den Bach gerichtet, der Joint zwischen seinen Lippen bis zum Filter heruntergebrannt. Die Sonne stand tief im Westen, das Licht des Tages war schon fast verschwunden. Es war kalt geworden. Wir zogen unsere Jacken eng um unsere Körper und bliesen in unsere Hände.
»Ja?« Er reichte mir den Joint.
Ich schaute zurück zum Haus – auf die Telefonmasten und Drähte, die das Haus mit der Welt verbanden. Auf den Drähten saßen die Vögel, wie Töne auf einem einzelnen langen nie enden wollenden Notenstrich.
»Na ja, es ist so eine Art Kompliment, denke ich.« Alles in mir ist so verschwommen, so traurig.
»Über Komplimente freut sich jeder.«
Wenn du etwas sagst, ist es kein Geheimnis mehr … »Es könnte sein, dass ich in Beth verliebt bin.« Ich nahm einen Zug von dem Joint. Zu spät …
Henry schwieg. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte. Aber das tat er nicht. Er saß einfach nur da, rupfte tote Grashalme aus der Erde. Sein Kiefer sah seltsam verkrampft aus.
Ich wollte, dass er verstand, was ich zu sagen versuchte. »Ich weiß auch nicht, Hank. Aber ich glaube, ich bin in Beth verliebt. Ich glaube, ich bin schon seit ziemlich langer Zeit in sie verliebt.« Sie ist so wunderschön …
Henry schwieg lange. Ich war so bekifft, dass ich unmöglich hätte sagen können, wie viel Zeit verging, ob er nur ein paar Sekunden geschwiegen hatte, oder Minuten oder Stunden.
»Ich weiß, wir sind gerade beide high«, sagte er schließlich. »Deshalb gebe ich dir noch eine Chance. Wenn du echt so im Arsch bist und diese Sachen einfach nur so aus dir rauskommen und du es nicht kontrollieren kannst, dann wäre jetzt der Zeitpunkt zu sagen: ›Henry, es tut mir echt leid, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.‹ Ansonsten, Mann – also, ich glaube, ansonsten haben wir zwei ein Problem.«
Du weißt nicht, was du sagst. »Ich glaube, dass sie vielleicht auch in mich verliebt ist.«
»Lee, halt verdammt noch mal die Schnauze.«
»Es tut mir leid, aber ich muss es einfach sagen.«
»Warum? Warum musst du es sagen?«
»Weil es stimmt. Wir haben miteinander geschlafen.« Hör auf zu reden.
Henry stand auf, ging zwei Schritte auf mich zu und senkte sein Gesicht zu mir herab. Ich starrte auf den Bach hinaus, konnte seine Faust sehen, die er über meinem Kopf erhoben hatte, seinen heißen Atem auf mir spüren, den penetranten Geruch des Marihuanas an seinem ganzen Körper riechen.
»Wer zur Hölle bist du?«
»Es tut mir leid, Mann.« Das hier war ein übler Fehler.
»Halt dich verdammt noch mal fern von uns, hörst du?«
»Henry.« Warum hast du es bloß erzählt?
»Wir sind fertig miteinander. Klar? Und ich möchte dich nie wieder in unserer Nähe sehen. Wir sind fertig miteinander.«
Ich sah ihm nicht zu, wie er fortging, sah nicht, wie er die Böschung zu meinem Haus hochging, sah nicht, wie er einen Stein nahm und ihn mit großer Kraft geradewegs durch mein Küchenfenster warf. Sah nicht, wie er seinen alten Pick-up anließ und vom Haus wegfuhr und dabei mit den Schneereifen, die er gerade erst aufgezogen hatte, den Kies gut dreißig Meter hinter sich durch die Luft katapultierte.
Aber ich hörte es. Das zerbrechende Glas, die Wut des V8-Motors, die umherstiebenden Steine und Schlammspritzer. Und dann war es plötzlich sehr still im Wald und auf den Wiesen und im Himmel. Alles schien mich zu beobachten, darauf zu warten, dass ich mich bewegte. Und doch blieb ich weiter dort sitzen, in der Dunkelheit, und hatte Angst, etwas anderes zu tun, als zu atmen.