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Wir schauten dem Blizzard zu, wie er beim Wetterbericht im Fernsehen über den Bildschirm kroch. Es sah aus wie eine Invasion von Aliens: ein riesiger weißer Klecks, der sich langsam von Oklahoma bis nach Ontario bewegte. Aber die Hauptkraft des Sturms ging genau in unsere Richtung, genau nach Wisconsin. Im Fernsehen wurden Bilder davon gezeigt, wie die Orte aussahen, durch die der Blizzard gezogen war. Straßen in Iowa City, die vollkommen unterm Schnee vergraben lagen, und umgestürzte Telefonmasten in Lincoln, Nebraska. In Pierre, South Dakota, war das Vieh am Boden festgefroren und außerhalb von St. Louis, Missouri, hatte es eine Massenkarambolage mit vierzig Autos gegeben. Die Wetterfrau trug eine sehr gelbe Bluse, während sie uns mitteilte, dass der Sturm am Samstag, den 5. Januar zuschlagen würde – an genau dem Tag, an dem meine Hochzeit mit Miss Lucinda Barnes geplant war.

An dem Freitagnachmittag vor der Hochzeit fuhr Lee mit mir nach Eau Claire, zu dem Männerbekleidungsgeschäft in dem kleinen Einkaufszentrum am Hastings Way. Es liegt in der Nähe des Army-Stores und des pleitegegangenen Chinarestaurants, das wie eine rote Pagode aussieht. Wir fuhren hin, um unsere Smokings abzuholen und um sicherzugehen, dass auch alles passte. Lucy wollte, dass Lee und ich genau die gleichen Smokings trugen, aber ich bestand darauf, mir meine eigenen Hochzeitssachen auszusuchen. Ich wollte nämlich auf jeden Fall ein neues Paar Cowboystiefel tragen und die türkisfarbene Bolotie, die mein Dad bei einem Familienausflug nach Albuquerque gekauft hatte. Ich lächelte mir im Spiegel zu und prüfte, wie ich aussah.

Wir aßen zusammen zu Mittag, in Lees Lieblingsrestaurant, dem Chicken Unlimited, das direkt um die Ecke lag. Das war der letzte Laden, den es noch an der alten Landstraße gab. Die anderen waren alle pleitegegangen, seit man vor langer Zeit die Umgehungsstraße gebaut hatte. Wir saßen auf roten Barhockern und aßen Pommes und Hähnchenburger und Quarkbällchen. Wir schlürften unsere Limonade und er las mir Artikel aus ein paar alten Ausgaben von Sports Illustrated vor.

Nach dem Essen fuhr Lee uns zu der Bowlingbahn. Lee kann echt ums Verrecken nicht bowlen, er ist superschlecht darin – das ist er wirklich. Er schaffte es auf eine Punktezahl von hunderteins und ich auf zweihundertfünfzehn. Aber es machte Spaß. Die Bowlingbahn war fast menschenleer und wir nahmen an, dass es an dem Blizzard lag, der in unsere Richtung zog, und dass die Leute alle in den Supermärkten waren, um sich mit Essen und anderem Zeugs einzudecken.

»Du lieber Gott«, sagte Lee. »Man könnte meinen, es sei ein Hurrikan unterwegs, so wie die Leute sich aufführen. Wir sind in Wisconsin, verdammt noch mal.«

»Lucy macht sich Sorgen wegen der Hochzeit«, sagte ich. »Sie hat Angst, die Leute würden vielleicht nicht nach Little Wing fahren wollen oder ihre Flüge könnten über Minnesota aufgehalten werden.«

»Ach, was soll’s«, sagte Lee. »Das Wichtigste ist, dass ihr heiratet. Stimmt’s, Kumpel? Ich werde da sein. Und Kip und Felicia. Und Eddy. Und die Girouxs. Und Beth und die Kinder.«

»Und Henry.«

Lee nickte und rollte eine Bowlingkugel in den Händen hin und her. »Ja, Henry auch.«

»Vielleicht sollten wir jetzt zurückfahren«, sagte ich. »Wir müssen ja nicht zwei Spiele spielen. Lass uns heimfahren.« Draußen wurde der Himmel grau.

Auf dem Weg zurück nach Little Wing fuhr Lee sehr langsam, nahm irgendwelche Seitenstraßen und schaute immer wieder durch die Windschutzscheibe nach oben in den Himmel.

»Es wird ziemlich dunkel da draußen«, sagte er.

Ich fragte mich, was Lucy wohl in diesem Augenblick tat, ob sie ihre Hände auf ihren Bauch gelegt hatte oder das Baby sie gerade trat. Ich dachte an meine eigenen Eltern und wünschte mir, sie wären noch am Leben und dass sie bei meinem Hochzeitstag dabei sein könnten.

»Also«, sagte Lee. »Deine letzten Stunden als Junggeselle.« Er schaute mich über die Sitzbank hinweg an. »Irgendwelche letzten Wünsche?«

Die ganze Landschaft war mit einer Schicht Neuschnee bedeckt. Die Sonne hatte sich schon schlafen gelegt. Lee schaltete die Scheinwerfer ein, obwohl es gerade mal vier Uhr nachmittags war. Er war ein guter Autofahrer, fuhr langsam und vorsichtig.

»Weißt du, was ich mir wünsche?«

»Nein.«

»Ich würde wahnsinnig gerne wissen, warum du und Henry, warum ihr nicht mehr miteinander redet.«

Lee nahm für einen Moment seinen Blick von der Straße und schaute in den Rückspiegel. Es war kein anderes Auto in Sicht und auch kein Schneepflug oder Streulaster. Das hatte ich schon gesehen. Wir waren ganz allein dort draußen auf der Landstraße.

»Weil es sich nämlich einfach nicht richtig anfühlt, Lee. Da ist doch was faul. Ihr zwei geht euch total aus dem Weg.«

Es stimmte. Ich wusste nicht, was es war, aber irgendwas hatte sich zwischen sie geschoben, wie ein Keil, und wenn wir uns alle trafen, dann sah es immer so aus, als würden sich die beiden so weit wie möglich voneinander entfernen, sich in die entgegengesetzten Ecken des Raumes zurückziehen. Sie rissen keine Witze mehr. Sie trafen sich nicht mehr, wie sie es früher immer getan hatten. Damals waren sie so eng befreundet wie zwei Pferde, die im Stall die Schultern aneinanderreiben. Sie unterhielten sich hinter vorgehaltener Hand und lachten auf eine Weise, dass man sich immer wünschte, man könnte mitlachen.

»Geht’s um Geld?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Lee streng. »Wir reden nie über Geld.« Er schaute mich an, damit ich sehen konnte, dass er wütend war, und das nicht nur auf Henry. »Das weißt du doch.«

»Ziehst du denn wieder weg von hier?«

»Nein. Ich bleibe. Ich gehe jetzt nirgendwo mehr hin«, sagte Lee.

Ich hatte noch nicht gewusst, wie ich es ihm sagen sollte, aber Lucy und ich, wir gingen weg. Im Frühling würden wir nach Chicago ziehen, in eine Gegend namens Bucktown. Das ist nicht weit von Wrigley Field, glaube ich. Lucy war mit Lees Exfrau Chloe in Kontakt geblieben. Chloe mochte Lucy, wie sich herausstellte. Sie hat ihr einen Job bei irgendeiner Tanzcompany da unten verschafft. Lucy würde im Büro arbeiten, Anrufe annehmen oder so was, aber das war immerhin schon mal ein Anfang. Ein Fuß in der Tür. Ich wollte nicht, dass sie weiter als Stripperin auftrat, und sie wollte das auch nicht mehr, weil ja bald das Baby da sein würde. Wir würden eine Familie sein, ganz normale Menschen, so wie alle anderen auch.

Lucy wusste, dass ich immer weggewollt hatte. Sie dachte, das hier sei vielleicht unsere Chance, es wirklich wahrzumachen und in unserem Leben etwas zu ändern. Mal etwas anderes zu versuchen. Sie hatte schon seit Jahren Geld gespart. Sie hat gesagt, ich könnte ja mit dem Baby zu Hause bleiben, während sie arbeitet. Sie hat gesagt, dass wenn wir erst einmal das Baby haben und nicht gleich versuchen wegzugehen, es uns ganz leicht passieren könnte, dass wir für immer hier hängenbleiben. Und sie wusste, dass ich mich hier so fühlte wie in einer Falle.

»Ich will ja nur, dass sich alle wieder vertragen.«

»Ronny, das ist nicht immer ganz so einfach.«

»Hast du was falsch gemacht oder er?«

Lee schaute geradeaus. »Ich denke, das war ich.«

»Dann entschuldige dich. Sag, dass es dir leidtut.«

»Na ja, wir reden grad nicht so besonders viel miteinander, Henry und ich.«

Ich dachte einen Moment lang nach.

»Ich weiß ja nicht, ob du mir schon ein Hochzeitsgeschenk besorgt hast oder so, aber wenn nicht, dann gibt’s da was, was du für mich tun könntest.«

Lee schwieg. Seine Knöchel waren weiß. Er schnürte seine Hände immer wieder ganz fest um das Lenkrad. Es sah aus, als würde er versuchen, es in Stücke zu brechen.

»Du könntest dich bei ihm entschuldigen. Das wäre dann dein Geschenk für mich.«

»Das ist alles, was du haben willst?«

»Na ja, ich meine, wenn du Lucy und mir noch zwei Flugtickets nach Hawaii spendieren willst oder so was, dann würde ich dir auch keine Vorwürfe machen.«

Er lachte. Ich liebte es, ihn zum Lachen zu bringen. Und ich hatte das Gefühl, er lachte nicht so sehr viel, wenn er nicht in Wisconsin war. Ich konnte mir nie so gut vorstellen, wie sein Leben wohl aussah, aber ich dachte mir, es müsse ziemlich hart und ziemlich einsam sein. Lee reist mehr durch die Gegend als irgendjemand sonst, den ich kenne, und ich weiß noch von meiner Rodeozeit, dass das Reisen wirklich nicht so toll ist, wie die Leute immer behaupten. Irgendwann hat man es einfach satt, immer weiterzuziehen. Immer dann, wenn du gerade ein Fleckchen Erde gefunden hast, das du interessant findest, oder ein Bett, das ziemlich bequem ist, oder ein Restaurant, in dem das Essen nicht so furchtbar fettig ist, dann musst du schon wieder weg.

»Tja«, sagte Lee, »ich nehme an, dann sollte ich diese Tickets nach Aruba wohl doch nicht wegwerfen.«

Ich lachte. »Wo zum Teufel ist Aruba?«

»Weißt du, ich könnte es dir nicht mal sagen. Irgendwo in der Karibik, glaube ich? Ich weiß es nicht. Ich bin Musiker, kein Erdkundelehrer.«

Wir schauten zu, wie der Schnee immer höher wurde. Es schneite jetzt heftiger als eben, aber ich konnte schon Kips Mühle sehen. Die gelben Türme vor dem grauen Himmel.

»Da hat Kip wirklich was geleistet, mit dieser ganzen Sache«, sagte ich und zeigte auf die Mühle.

Lee nickte. »Ja. Da könntest du wohl recht haben.«

»Möchtest du noch ein bisschen mit zu mir kommen?«, fragte ich. »Wir könnten Fernsehen gucken. Lucy ist bei ihrer Schwester und der Familie, glaube ich. Ich darf sie nämlich heute Abend nicht sehen. Oder ist es vielleicht nur ihr Kleid, das ich nicht sehen darf? Ich weiß das nie. Aber egal …« Was ich ihm damit eigentlich sagen wollte, war, dass ich nicht allein sein mochte und dass ich nicht mehr so besonders gern in meiner Wohnung war. Es roch dort nicht nach Lucy, nichts dort erinnerte mich an sie. Es war keine Wohnung für ein Baby, das stand schon mal fest, kein Ort, wo man eine Familie gründen sollte. Ich besaß genau eine Pfanne, zwei Töpfe, eine Mikrowelle, eine Herdplatte, drei Schüsseln, zwei Teller und eine Handvoll Besteck. Und ein paar von meinen Messern und Gabeln waren sogar aus Plastik, von McDonald’s. Immerhin war der Fernseher neu. Aber mein Bett war so ausgeleiert, dass es wie ein Taco aussah. Es war total verbogen und hing in der Mitte durch. Meine Kissen waren ganz gelb und die Bettwäsche war uralt. Sie war mit dem Logo der Green Bay Packers bedruckt. Ich fand das ja toll, aber Lucy sagte, die würden wir dann nicht mit nach Chicago nehmen. Ich denke, sie hat wohl recht. Manchmal, wenn ich mir die Bettwäsche anschaute, dann dachte ich: Verdammt noch mal, Ronny, du bist kein kleiner Junge mehr.

»Nee«, sagte Lee. »Lass uns lieber zum VFW fahren, okay? Läuft heute Abend nicht so’n Basketballspiel? Die Badgers gegen … Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, gegen wen sie spielen …«

»Klar«, sagte ich. »Das klingt gut.« Ich freute mich schon auf Schweineschwarten und Tiefkühlpizza, Kartoffelchips und warme Cashews.

Lee parkte den Wagen vor der Bar. Die Neonlampen waren nicht an. Das war ziemlich komisch, besonders wenn man bedenkt, wie dunkel es war. Normalerweise konnte man sicher sein, dass sie den Bürgersteig hell beleuchteten, und im Sommer zogen sie ganz viele Motten und Insekten an. Ich drückte mein Gesicht gegen die Scheibe: Die Bar sah geschlossen aus, keine Menschenseele saß am Tresen, alles war stockdunkel.

»Bist du sicher, dass die auf haben?«

Lee hielt mir die Tür auf und sagte: »Ziemlich sicher. Guck, die Tür ist nicht abgeschlossen.«

ÜBERRASCHUNG !!!

Von der Decke fielen lauter aufgeblasene Kondome und Ballons herunter. Jemand muss sie so lange in einem Laken festgehalten haben, bis wir kamen. Die Leute schossen mit Strandbällen durch die Gegend und die alte Jukebox schaltete sich plötzlich ein, als wäre sie eine Zeitmaschine, und spielte eines meiner Lieblingslieder von Garth Brooks aus der Zeit, als ich noch ein sexgeiler, verpickelter Teenager war.

Ich war so überrascht, man hätte mich einfach nur anpusten müssen und ich wäre umgefallen. Ich hatte nämlich geglaubt, dass niemand eine Party für mich organsiert hatte, und ich wusste auch nicht, wie ich irgendjemanden darum bitten konnte. Ich will damit nicht sagen, dass ich gerne nach Vegas gefahren wäre, um mich da wie irgend so’n Arsch aufzuführen, aber irgendwas hätte ich schon gerne gehabt, so ’ne Art Junggesellenabschied, und ich hatte schon geglaubt, dass niemand daran denken würde oder dass es allen egal war. Ich habe sogar zu Lucy gesagt: »Luce, wir können auch genauso gut von hier abhauen. Meine Freunde haben sowieso fast alle den Verstand verloren.«

Es sah so aus, als wäre ganz Little Wing in der Bar versammelt. Die Leute standen dicht an dicht bis draußen in die Gasse, wo die, die nicht mehr reinpassten, Schneebälle formten und dem lila Müllcontainer damit eine Breitseite verpassten. Der Schnee fiel jetzt ziemlich heftig. Viele von den Leuten hatten Kazoos im Mund oder anderes Zeugs, um ordentlich Krach zu machen. Ein paar hatten die Blockflöten und Tamburins von der Grundschule mitgebracht, und Kuhglocken und Triangeln. In der Bar war ein solcher Lärm, als würdest du ein Rodeo in deiner eigenen Heimatstadt reiten, und alle klopften mir auf den Rücken und umarmten mich und da war auch Lucy! Mein Mädchen! Und sie kam ganz nah an mich heran und schlang ihre wunderbaren Arme um meinen Hals und gab mir einen dicken sexy Kuss und als die Leute in der Bar das sahen, da hätte man meinen können, gleich würde das verdammte Dach wegfliegen vor lauter Begeisterung.

Dann kletterte Lee nach oben auf den Tresen und bat alle um Ruhe und dann nahm er ein Glas Bier und sagte: »Auf Lucy und Ronny und auf ihr kleines Baby! Wenn du uns da drinnen hören kannst, dann gib deiner Mama einen kleinen Tritt. Aber wart noch einen Moment.« Und dann kletterte er von der Bar wieder runter und bahnte sich einen Weg durch die Leute, die zwischen ihm und Lucy und mir standen und legte meine Hände auf ihren Bauch und dann sagte er: »Okay. Jetzt alle! Auf Lucy und Ronny! Ein lautes Hip-Hip-Hurrah!« Und die Bar geriet vollkommen aus dem Häuschen, alle machten einen Riesenkrach mit ihren Instrumenten und die Leute trommelten mit ihren Fäusten auf den Tresen und stampften mit den Füßen und sangen und tatsächlich, da, unter meiner Hand, war ein winziges Zucken, wie ein Kätzchen, das versucht, sich aus einer Papiertüte zu befreien.

Lee umarmte mich und sagte dann: »Ich hab dich lieb, Kumpel. Herzlichen Glückwunsch!«

Ich konnte es kaum fassen. Konnte kaum glauben, dass alle da waren, alle Menschen, die ich kannte und liebte. Sie kamen alle zu uns beiden und umarmten uns. Henry, Beth, ihre Kinder – Alex und Eleanore –, die mich beide auf die Lippen küssten, als wäre ich ihr Onkel, und mich genauso fest drückten, wie ich sie drückte. Kip und Felicia. Felicia sagte Lucy etwas ins Ohr, das ich nicht hören konnte, aber es muss etwas sehr Nettes gewesen sein, denn Lucy fing an zu heulen und die beiden umarmten sich so fest, dass man hätte schwören können, sie wären zwei lang verloren geglaubte Schwestern, die sich eben erst wiedergefunden hatten und sich gleich wieder für immer trennen mussten. Eddy und seine Familie waren auch da. Und die Giroux-Zwillinge – wie ein Paar großer dicker Bären. Ein paar frühere Lehrer von mir, von uns. Alte Klassenkameraden, Exfreundinnen, Cousins und Cousinen und auch die Cousins und Cousinen zweiten Grades und ein paar Jungs vom Rodeo, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Meine Hand war irgendwann ganz erschöpft von all dem Händeschütteln.

Und irgendwann an dem Abend drückte mir dann jemand – wahrscheinlich einer meiner Rodeokumpels, der nicht Bescheid wusste – einen Tequila in die Hand und ich schüttete ihn mir hinter die Binde, als wären es Hustentropfen, bevor mir überhaupt klarwurde, was ich da gerade getan hatte. Und es ist anscheinend auch keinem der anderen aufgefallen. Alle waren schon ziemlich beschwipst und hatten Spaß, keine Frage. Lucy stand an der Theke und so’n paar Frauen hatten sich um sie geschart und betatschten ihren dicken Bauch. Henry und Beth saßen in einer der Nischen mit ihren Kindern auf dem Schoß, Lee spielte Shuffleboard mit Eddy und alle beide schwitzten wie blöd und ihre Arme waren voller Sägemehl von dem Shuffleboardtisch. Und deshalb war auch keiner da, der mir das Glas aus der Hand hätte schlagen können, keiner, der verhindert hätte, dass mir das nächste Glas Tequila in die Hand gedrückt wurde und dann noch eins und noch eins. Und so ging es weiter, alles meine Kehle hinunter.

Bevor der Abend vorbei war, muss ich wohl noch drei oder vier weitere Gläser gekippt haben, glaube ich. Vielleicht auch fünf. Jedenfalls mehr Alkohol, als ich in fast einem Jahrzehnt getrunken hatte, und trotzdem nicht mal genug, um einen Kaffeebecher zu füllen. Davon, was nach diesem vierten oder fünften Glas passiert ist, weiß ich fast gar nichts mehr, außer dass ich schließlich nicht mehr in der Bar war und dass es wirklich schweinekalt war und ich mich total verirrt hatte. Ich erinnere mich nicht daran, dass Lucy gegangen wäre oder ich mich von ihr verabschiedet hätte, erinnere mich nicht daran, sie geküsst zu haben. Erinnere mich nicht, dass Lucy mir angeboten hätte, mich nach Hause zu begleiten, oder Henry und Beth mir vorschlugen, mich mit dem Auto heimzubringen. Kann mich nicht daran erinnern, ob Eddy mir einen Job anbot oder nicht. Ob Kip gesagt hat, er könne noch die ein oder andere Hand brauchen, die ihm in der Mühle hilft.

Um die Wahrheit zu sagen, ich hab einfach das Bewusstsein verloren. Hab mir selbst die Kerze ausgeblasen. Gute Nacht. Als ich schließlich wieder zu mir kam, musste ich mich schon ziemlich weit von der Bar entfernt haben, denn ich konnte die guten alten Neonlichter nicht mehr sehen. Konnte nicht mal mehr die Straßenlaternen sehen, die über der Hauptstraße leuchten. Alles war total still und weiß und kalt. Keine Scheinwerfer. Keine mitternächtlichen Ausflügler auf kreischenden Schneemobilen und auch nicht das tiefe dumpfe Getöse der Schneepflüge, die irgendwelche Straßen freiräumen. Nichts. Nur Schnee. Tiefer, schwerer Schnee. Ein bisschen Wind und die Schneeflocken, die auf meiner Haut zischten. Man muss nicht besonders klug sein – kein Raketenforscher, wie mein Dad immer gesagt hat –, um mitzukriegen, dass man sich verirrt hat. Und genau das wusste ich nun – dass ich mich verirrt hatte. Und betrunken war. Mir war schwindelig und oben und unten ergaben keinen Sinn mehr und ich hatte Angst. Aber ich glaube, ich habe sogar gelacht, während ich weiterlief, weil ich mich noch erinnere, wie ich gedacht habe: Wie zum Teufel kann man es nur schaffen, sich in Little Wing zu verirren? Ich weiß, dass ich die Hände ausgestreckt hatte, denn sie wurden verdammt kalt. Ich hatte ja keine Handschuhe. Ich tastete immer nur so vor mich hin, hoffte, dass ich gegen irgendwas stoßen würde: eine Wand, ein Auto, Scheiße, sogar ein Grabstein wär mir recht gewesen. Dann hätte ich wenigstens gewusst, dass ich nördlich von der Stadt war. Aber nein. Ich bin gegen gar nichts gestoßen. Also bin ich einfach weitergegangen. Hab immer wieder Lucys Namen gesagt, bei jedem Schritt, den ich gemacht habe, so als wollte ich sie zählen, die Schritte. Und ich dachte, das ist jetzt echt superdämlich. Morgen bist du ein Bräutigam, ein Ehemann, ein werdender Daddy. Du ziehst nach Chicago. Und dann … dann musst du ein Kinderbettchen zusammenbauen. Ein paar Wände streichen …

Ich dachte immer wieder, wenn ich doch nur ein Auto finden könnte, irgendein Haus – ein Fenster, das ich dann einschlagen oder eine Tür, die ich eintreten könnte – irgendwie reinkommen, in die Wärme, weg von diesem ganzen Schnee. Er häufte sich auf meinen Schultern, rutschte mir unter die Kleidung, schmolz auf meiner Haut. Und wo waren denn überhaupt alle anderen, verdammt noch mal? Wo war Lee? Wo war Henry? Eddy? Kip? Wo waren meine Freunde? Ich glaube, ich bin dann ein bisschen nüchterner geworden, weil es so scheißkalt war.

Zentimeter um Zentimeter, Meter um Meter. Es fühlte sich an wie Meilen. Lange, eisige Meilen. Meine Schenkel taten höllisch weh vor Kälte, die durch den Stoff meiner Jeans kroch. Meine Kniescheiben fühlten sich an wie Eiswürfel. Ich fing an, ein Lied zu singen, eins von Lees ganz frühen Liedern, das ich immer noch auswendig konnte. Ich dachte, vielleicht würde mich ja irgendwer hören, mich und meine schreckliche Singstimme, und mich suchen kommen. Und eine Weile hielt es mich auch warm. Wie so’n Kind im Sommerlager, das mit seinen Kumpels durch den Regen läuft, und alle singen irgend so ein Lied, damit sie vergessen, wie scheißnass und dreckig sie da gerade werden. Und die ganze Zeit hab ich versucht, die Hände auszustrecken, nach irgendwas zu tasten, aber nie, nicht ein einziges Mal bin ich gegen irgendwas gestoßen und dann, als ich sie schon gar nicht mehr spürte, meine Hände, da hab ich sie in meine Hosentaschen gesteckt und bin weitergelaufen.

Vielleicht solltest du dich ja einfach hinsetzen, dachte ich. An derselben Stelle bleiben. Nach Hilfe rufen. Also legte ich mich hin. Und der Schnee war tief und weich. Es fühlte sich ein bisschen wie ein Bett an. Und es war auf jeden Fall besser als meine alten Cowboystiefel, besser als weiter gegen diesen scheiß Wisconsin-Blizzard anzukämpfen. Aber schlaf bloß nicht ein. Du kannst ja vielleicht die Augen ein bisschen zumachen und deine Beine ausruhen, aber schlaf bloß nicht ein. Sing einfach weiter. Jeder hier kennt dieses Lied. Sing weiter. Das wird dich warm halten. Sing so laut du kannst. Du solltest niemals Angst haben zu singen. Sing einfach weiter. Das wird dich wach halten.

Danach weiß ich nichts mehr. Nur noch, dass mir schrecklich furchtbar kalt war und dass ich mich immer wieder gefragt habe, wo zum Teufel denn bloß alle anderen waren.