Von hier oben kann man fast die Krümmung der Weltkugel erkennen. Es ist wunderschön. Die Welt erstreckt sich vor dir bis in die Unendlichkeit. Als ich noch in Chicago wohnte, stieg ich samstags morgens manchmal in meinen Mustang und fuhr durch die Gegend. Ich stand auf, bevor die Stadt erwachte, und fuhr einfach Richtung Westen, fuhr und fuhr, während in meinem Rückspiegel die Sonne aufging. Als wollte ich dem Tag entkommen und wieder in die Nacht eintauchen. Ich ließ diesem gewaltigen Motor freien Lauf und rauschte durch Illinois, über das flache Land mit seinen Feldern aus schwarzer Erde, seinen seltsamen vergessenen Kanälen und trägen Flüssen. Vorbei an schmierigen Fernfahrerlokalen und Müllhalden, an Städten, die es zu nichts gebracht hatten. Ich hielt an, um zu tanken, und klappte das Verdeck herunter, mit dem riesigen blauen Himmel über mir.
Einmal, an einer Tankstelle im westlichen Illinois, nicht weit vom Mississippi, kam ein alter Farmer auf mich zu und gratulierte mir zu meinem Auto.
»Wo soll’s denn noch hingehen?«, fragte er.
Ich erinnere mich, dass ich mit den Schultern zuckte und ganz lässig sagte: »Ach, ich versuche einfach, bis Montag Morgen so weit zu kommen, wie ich kann.« Bevor ich wieder zurück sein musste. Ich war damals Junggeselle – so wie ich es jetzt ja vielleicht auch wieder bin. Mein Apartment im Hancock-Gebäude war sehr spartanisch eingerichtet und strahlte eine gewisse Kühle aus, wie eine Wabe in einem Bienenkorb aus Zement und Stahl.
»Wo sind Sie her?«, fragte er.
»Chicago«, antwortete ich und wies mit dem Daumen hinter mich. Auch wenn ich nicht wirklich aus Chicago stammte. Sondern aus Little Wing, Wisconsin. Eine vollkommen unbedeutende Kleinstadt, so wie die, in der ich gerade stand, ein kleiner Fleck auf der Landkarte, der zu jener Zeit noch nicht als Corvus’ Heimatstadt bekannt geworden war – die Heimatstadt von Amerikas berühmtestem flanellhemdentragendem Indie-Troubadour. Damals war es einfach nur ein Dorf im Mittleren Westen, das harte Zeiten durchmachte, mit einer verfallenden Mühle neben ein paar rostigen Bahnschienen.
»Das ist bestimmt schön«, sagte der Farmer, »so frei zu sein, keine Verpflichtungen zu haben. Fahren zu können, wohin man will. Und wann man will.«
Der Wind wehte eine Plastiktüte zwischen uns hindurch auf einen Stacheldrahtzaun zu, in dem sie sich unweigerlich verfangen würde. Ich nickte und wäre jetzt eigentlich gerne weitergefahren. Aber die Zapfsäule pumpte das Benzin unendlich langsam, als wäre der tief unter unseren Füßen im Boden vergrabene Tank bereits leer. »Sie sind Farmer?«, fragte ich.
Er nickte: »Soja.« Dann rückte er seine Mütze zurecht und spuckte auf den kiesbestreuten Asphalt zwischen seinen Stiefeln.
Ich gab ihm meine Visitenkarte. Das hatte ich mir so angewöhnt. In meinem Handschuhfach war ein ganzer Karton voll Karten und auf dem Rücksitz lag ein zweiter. Ich verteilte meine Karten auf Cocktailpartys, bei Baseballspielen und Bar-Mizwas. Ich habe Kollegen – andere Broker – sagen hören, sie würden ihre Karten niemals einfach so jemandem geben. Sie behaupten, das Geheimnis bestünde darin, im anderen ein so großes Interesse an dir und deinem Tun zu wecken, dass er sich irgendwann nichts sehnlicher wünschen würde als deine Visitenkarte. Aber eine solche Strategie war nie mein Ding. Ich war stolz darauf, wer ich war, stolz darauf, was ich tat; stolz, dass ich es in meinem Leben an einen Punkt gebracht hatte, wo ich tatsächlich Visitenkarten verteilen konnte.
Er schielte auf die Karte, die da so sauber und weiß in seiner rissigen, schmutzigen Hand lag. »Ein Broker«, sagte er. Er schnipste mit seinem dicken Zeigefinger gegen das Papier. Es klang, als hätte sich eine Baseballkappe in einer Radspeiche verfangen.
»Ja, das stimmt.« Die Zahlen an der Zapfsäule bewegten sich kaum, liefen langsamer als der Zeiger an einer Armbanduhr.
»Warum tun Sie nicht mal was dafür, dass ich bessere Preise bekomme?«, fragte er. »War nur’n Scherz«, sagte er dann sofort.
Er starrte mich mit seinen blauen Augen an, die so bleich waren, dass es schien, als könnten sie jeden Moment aus seinem Gesicht auf den trockenen Boden unter seinen Füßen tropfen.
»Na, kommen Sie mich mal besuchen«, sagte ich und schaute auf seine linke Hand, an der nur noch vier Finger waren. Am noch vorhandenen Ringfinger steckte ein goldener Ehering, der so dreckig war, dass man meinen konnte, er stamme aus einem uralten Schatz, den er eben erst ausgegraben hatte. »Bringen Sie Ihre Frau mit«, sagte ich, einfach voraussetzend, dass er kein Witwer war.
Dann schwiegen wir eine Weile. Man konnte das Geräusch der Zapfsäule hören, wie sie meinen Tank füllte, und den Wind, der an einer losen Plastikverkleidung rüttelte und ein Blechschild an einer rostigen Kette hin- und herbaumeln ließ. Auf dem Highway neben uns rauschten die riesigen Lastwagen vorbei wie Hochgeschwindigkeitszüge, und zwei Krähen hackten ihre Schnäbel in einen Rehkadaver, während der Fahrtwind des unablässigen Verkehrs ihre Federn wild zerzauste. Doch die Vögel schienen das kaum zu bemerken.
»Nun«, sagte der Farmer und hielt meine Karte in die Luft. »Vielleicht tun wir das ja wirklich einmal. Ja, wir sollten Sie mal anrufen.«
»Wie heißen Sie denn?«, fragte ich. »Ich habe Ihnen meine Karte gegeben, aber Ihren Namen haben Sie mir nicht gesagt.«
»Harvey« sagte er. »Harvey Bunyan.« Er durchwühlte seine Taschen und holte dann einen Stift und ein kleines Notizbuch mit Spiralbindung hervor. Er schrieb seinen Namen und seine Telefonnummer in säuberlichen Buchstaben auf eines der Blätter.
»Da. Jetzt haben Sie auch meine Visitenkarte.«
Er wischte sich die Handflächen an seinem Overall ab, steckte sich meine Karte nach ein paar Fehlversuchen in seine Brusttasche und dann schüttelten wir uns die Hände.
»Ich wünsche Ihnen eine sichere Reise«, sagte er.
»Ihnen auch«, sagte ich, auch wenn ich es sofort bereute. Der Mann war ganz offensichtlich noch nie in seinem Leben irgendwohin gereist. Zu Hause, in Little Wing, hatte ich diese Art von Gesicht Hunderte Male an Männern gesehen, die so alt waren wie mein Vater oder auch älter. Ihre Augen waren so daran gewöhnt, die Sonne wegzublinzeln, dass man hätte schwören können, sie seien kurzsichtig wie Wühlmäuse. Ihre Welt befand sich immer genau dort, direkt vor ihren Füßen. In ihren Schlafzimmern, ihren Küchen, ihren Fernsehern. Draußen auf den Feldern, im Freien, unmittelbar vor ihnen, oder, was noch wichtiger war, hinter den Schlusslichtern ihrer Traktoren.
Über den Mississippi hinweg und rüber nach Iowa. Achtzig, neunzig, hundert Meilen pro Stunde. Vom Highway runter auf Schotterwege, im Wettrennen mit den Wolken, mit den Pferden auf ihren Weiden. Während ich immer weiter nach Westen fuhr, hatte ich das Gefühl, ich könnte die Sonne besiegen, könnte ewig gegen die Umdrehung des Planeten anfahren, die Zeit selbst verlangsamen. Ich hatte Harveys »Visitenkarte« wohl schon verloren, bevor ich überhaupt Nevada erreichte. Wahrscheinlich in irgendeinem Fastfoodladen in Iowa City oder Des Moines, wo ich angehalten hatte und seinen Namen und seine Telefonnummer zusammen mit dem anderen Zeugs, das sich in meinen Taschen befand, in den Müll geworfen hatte; zusammen mit dem Kaugummipapier, den klebrigen Münzen und den Tankquittungen.
Ich schaffte es bis nach Nebraska. Fuhr vom Highway ab, bevor der Sturm die Straßengräben mit Wasser füllte. Schaute dem Nachthimmel zu, während er sich selbst aufriss wie ein gesprungenes Fenster. Im Motelzimmer aß ich irgendwelche Snacks, die ich an den Tankstellen gekauft hatte, trank lauwarmes Bier und lauschte den Fernsehgeräten in den Nachbarzimmern, den Liebenden, ihren Streitigkeiten, Versöhnungen.
Am nächsten Morgen begann ich meine Fahrt zurück nach Osten, sieben Stunden geradewegs in die aufgehende Sonne hinein. Mein Gesicht war so verbrannt, dass man hätte meinen können, ich hätte in Las Cruces einer Atombombenexplosion zugesehen.
Aber dieser Morgen, dieser Morgen in Nebraska, das war wohl der glücklichste Moment in meinem Leben. Ich hatte den mir bekannten Horizont überschritten, hatte all dieses flache Land hinter mir gelassen, dessen Anblick mir so vertraut war, sei es nun von irgendeiner Martini-Lounge im obersten Stockwerk eines Chicagoer Wolkenkratzers aus oder aus den Fenstern der Flugzeuge, mit denen ich in die Stadt flog. In diesem Mustang war ich mein eigener, ganz persönlicher Entdeckungsreisender. Und es machte nichts, dass Millionen und Abermillionen von Menschen längst über jeden einzelnen Zentimeter von Amerika getrampelt waren, seit Hunderten, nein, Zehntausenden von Jahren. Ich hatte es noch nicht getan. Tat es ganz allein. Hörte keine Musik, sprach mit keiner Menschenseele, hatte keine Landkarte dabei und nichts zu erledigen.
...
Wenn ich alles noch einmal tun könnte, dann würde ich nicht hierher zurückkehren. Ich hätte Felicia nicht hierhergebracht. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann war es wahrscheinlich auch ein Fehler zu heiraten. Das soll auf keinen Fall heißen, dass mit Felicia etwas nicht stimmt. Es liegt an mir.
Ich glaube, ich bin kein guter Mensch. Ich behandle die Menschen nicht gut. Das weiß ich. Was ich gut kann, was ich verstehe und intuitiv weiß, ist, wie man Geld verdient. Oder zumindest war ich mal gut darin. Wie soll ich es erklären? Alles, was ich brauchte, waren zwei Dinge: den Weltwetterbericht und die Abendnachrichten. Dann konnte ich Ihnen genau sagen, wo Sie am nächsten Tag Ihr Geld anlegen mussten. Und ich irrte mich fast nie. Ich habe Millionen verdient, Millionen. Ich habe Geld, das die meisten Leute in Rentenfonds oder Anleihen oder Coca-Cola-Aktien stecken würden, in Termingeschäfte mit Mais, Kaffee und Schweinebäuchen gesteckt.
Aber wenn man mich auf eine Abendgesellschaft loslässt oder mich zu einem Kindergeburtstag einlädt, dann bin ich plötzlich vollkommen hilflos. Schlimmer als hilflos, denn es kommt mir so vor, als könnte ich nie das Richtige sagen, das Richtige tun. Statt also nur irgendwie unbeholfen zu wirken, sieht es so aus, als wäre ich grausam. Weil ich eigentlich klug genug sein müsste, um all die Klippen zu umschiffen. Aber ich kann es nicht. An manchen Abenden wies Felicia mich einfach an, von vorneherein den Mund zu halten, um sie gar nicht erst in Verlegenheit zu bringen.
Ich dachte, diese Mühle, dieses Gebäude würde der Katalysator sein, der alles für mich verändert. Ich dachte, wenn ich hierher zurückkehrte und die Dinge wieder auferstehen ließe, würde mich die ganze Stadt an ihre Brust ziehen, mich umarmen, und ich könnte vielleicht sogar als Bürgermeister kandidieren oder gar für den Senat. Durch den Regierungsbezirk reisen, Farmern überschwenglich die Hände schütteln, Babys küssen, mit Felicia an meiner Seite, die ihre Rolle perfekt ausfüllen, die mich elegant mit wohldosierten geflüsterten Bemerkungen lotsen würde. Ich weiß, dass sie klüger ist als ich. Ich habe kein Problem damit, das zuzugeben. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich mich in sie verliebt habe.
Und jetzt ist die Mühle fertig. Der Keller ist trocken, das erste Mal seit Jahrzehnten. Der Gemischtwarenladen läuft gut. Auf dem Parkplatz stehen zahllose Pick-up-Trucks. Die Züge fahren nicht nur durch, sie halten tatsächlich auch. Ich habe einen Interessenten an der Hand, der eine der umgebauten Flächen neben dem Laden mieten will, um dort ein mexikanisches Restaurant zu eröffnen. Dieser Ort braucht so etwas, braucht ein wenig mehr Würze und Aroma. Die Türme sind alle frisch gestrichen. All die zerbrochenen Fenster aus unserer Teenagerzeit und als wir Anfang zwanzig waren – ich habe sie alle ersetzen lassen. Als die Maler mich fragten, ob ich wollte, dass sie irgendetwas an die Spitze der Türme malten, einen Namen oder ein Logo, da dachte ich eine Weile nach und sagte ihnen dann, sie sollten in schöner, altmodischer, geschnörkelter, kursiver Schrift und in roter Farbe Willkommen in Little Wing schreiben. Ich hätte sie anweisen können, meinen Namen dort oben hinzumalen, aber ich gebe mir Mühe. Ich bemühe mich redlich, das Richtige zu tun.
Manchmal komme ich hier hoch und weiß nicht einmal, warum. Um Abstand zu gewinnen, nehme ich an. Um auf die Welt hinauszuschauen. Um zu sehen, was als Nächstes kommt. Um eine Zigarette zu rauchen.
Felicia hat mich verlassen. Sie wollte Kinder. Und ich, ich konnte das einfach nicht. Ich habe es nie geschafft, den Reiz daran zu verstehen, oder die nötige Liebe aufzubringen. Ich habe sie geliebt, das habe ich wirklich. Ich liebe sie immer noch. Aber ich konnte mich einfach nicht als Vater sehen, als diese Art von aufrechtem, anständigem Mann. Ich schaue so jemanden wie Henry an – wie leicht das bei ihm alles aussieht, wie seine Kinder ihn vergöttern, wie Beth ihn vergöttert – wie diese ganze Stadt ihn vergöttert – und dann denke ich, da kann ich nicht mithalten. Ich kann es einfach nicht. Ich weiß, wer ich bin. Und ich bin nicht Henry Brown.
Gestern ist sie gegangen. Sie ist in ein Motel gezogen; in das, das zwischen hier und Eau Claire liegt. Ich sagte ihr, sie solle doch ganz nach Eau Claire gehen, in ein schickes Hotel, ein richtiges Hotel. Oder sogar nach Minneapolis oder St. Paul. Aber am Samstag ist die Hochzeit und sie wollte so viel helfen, wie sie nur konnte, wollte für Lucy und Ronny da sein, Luftschlangen aufhängen und was nicht sonst noch alles. Hochzeitskuchen verteilen. Gäste zu ihren Plätzen weisen. Was weiß ich, hilfreich sein, fürsorglich sein.
»Ich hoffe, dass du deine Meinung ändern kannst«, sagte sie. »Weil ich dich liebe. Aber ich kann nicht länger warten. Wir werden beide nicht jünger.«
»Du solltest gehen«, sagte ich. »Geh, bevor du noch mehr Zeit verlierst. Es tut mir leid.«
Wir waren sieben Jahre zusammen. Sie wollte direkt heiraten, aber ich wollte das nicht. Ich wollte, dass alles perfekt war. Ich wollte das Geld, das Haus, den Job – alles fein säuberlich in der richtigen Reihenfolge. Unser Leben so arrangieren wie einen Strauß Blumen in einer Vase. Schön und kontrolliert. Ihr war das alles nicht wichtig. Sie hat sofort gesagt, sie wolle Kinder haben, aber ich – ich weiß auch nicht –, ich nehme an, ich habe das nie ernst genommen. Ich habe sie nie ernst genommen. In der ersten Zeit, als wir uns gerade erst verliebt hatten und in meinem Apartment im sechzigsten Stock des John-Hancock-Gebäudes im Bett lagen, spürten, wie der Turm in dem Wind schwankte, der stetig vom Lake Michigan her wehte, da sagte sie zu mir: »Ich möchte unbedingt Kinder haben, bevor ich dreißig bin. So viel weiß ich auf jeden Fall. Ich möchte ein ganzes Haus voller Kinder. Ich will ein wildes, lautes, volles Haus.«
Ich liebte sie, also küsste ich sie auf den Scheitel und hörte ihren Träumen zu. Aber das Leben, das sie da beschrieb, kam mir so vor, als wäre man mitten in einen Bürgerkrieg geraten. Die Unordnung und der Krach und die ganzen Krümel und Windeln und die verschüttete Milch und das Kindergeheul. Wo blieb da unser Leben? Wo blieben die gemeinsamen Reisen? Die schönen Kleider und teuren Hotels, die private Kunstsammlung und der exquisite eigene Weinkeller?
Aber mit Kindern, mit Babys, darf man nicht zu lange warten. Mein Vater sagte immer: Wer zögert, ist schon verloren. Bei Männern ist es egal. Du kannst mit achtzig noch König eines Landes sein, sabbernd auf deinem Thron sitzen, kaum noch in der Lage, die Krone auf dem wackligen Kopf zu halten, und trotzdem kannst du noch mit einer wunderschönen Frau ein Kind zeugen. Aber bei Frauen ist das anders. All dieser Kram mit der biologischen Uhr – das stimmt einfach. Denken Sie mal drüber nach. Einmal im Monat segelt von oben ein Ei herab, wie ein kleiner Fallschirm, und landet in einem Tal von reichhaltigem Blut. Aber du musst wissen, wann das Ei dort ankommen wird, du musst hoffen, dass die Bedingungen perfekt sind, dass das Ei überhaupt heruntergefallen ist, dass da überhaupt Eier sind. Und dass sich der Fallschirm in genau dem richtigen Augenblick geöffnet hat. All das klingt in meinen Ohren sehr nach einem Uhrwerk, wie die Maschinerie eines sehr komplexen und empfindlichen Systems. Und während ich nachts neben Felicia im Bett lag, konnte auch ich dieses Ticktack-Ticktack hören. Und es hat mir eine Riesenangst eingejagt.
So ist das. Und jetzt ist sie weg.
Und ich habe keine Ahnung, was ich nun tun soll. Die Mühle ist endlich fertig. Wir stecken, nein – ich stecke bis über beide Ohren in Schulden. Das Einzige, was uns noch über Wasser gehalten hat, war Felicias Job. Wenn ich also jetzt ordentlich in der Scheiße lande, dann kann ich sie kaum dafür verantwortlich machen. Der einzige Grund, warum sie sich bereiterklärt hat, hierher nach Little Wing zu ziehen, war der, dass sie mich geliebt hat. Und, was noch wichtiger war, dass sie zugeben musste, es sei ein guter Ort, um Kinder großzuziehen. Danach ist mir die Zeit einfach entglitten. Ich glaubte immer, wir hätten noch Zeit. Noch mehr Zeit.
Ich könnte springen. Ich habe darüber nachgedacht. In meiner Branche – im Börsenhandel – ist der Sprung in die Tiefe unser Harakiri. Ich kenne einige Typen, die das für die einzig ehrenhafte Konsequenz halten. Oder wenn es ein Sprung nicht tut, dann ein vermessingter Revolver. Ich bin tatsächlich bei drei verschiedenen Gelegenheiten mit der Absicht hierhochgekommen, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Aber ich konnte es nicht tun. Ich konnte es einfach nicht. Und heute Abend kann ich es wieder nicht. Am Samstag ist Ronnys Hochzeit. Das ist kaum ein guter Zeitpunkt, um eine Riesensauerei auf dem Bürgersteig zu veranstalten. Am Samstag ist auch die große feierliche Wiedereröffnung dieser Mühle und die ganze Stadt ist zu einem Rundgang durch das Gebäude eingeladen. Am Samstag werde ich einen schicken Anzug anziehen (wenn auch ohne Schlips), eine kurze Rede halten, Plastikbecher mit Freibier verteilen und ein paar von den Besichtigungstouren leiten. Und am Abend werden dann in einer der noch nicht vermieteten Räumlichkeiten, einer wunderschönen Fläche mit großartigem natürlichem Sonnenlicht, Fußbodenheizung und sauberen, großzügigen Toilettenräumen, Ronny und Lucy heiraten. Ich habe ihnen keinen einzigen Penny berechnet. Die ganze Stadt ist eingeladen. Den Gästen wurde nahegelegt, ein Geschenk und irgendwelche nicht verderblichen Speisen mitzubringen. Ich dachte, wenn man schon mal bankrottgeht, dann kann man auch genauso gut zur Feier des Tages eine Party veranstalten.
Wie schon gesagt, ich gebe mir Mühe.
Lucy ist im sechsten Monat schwanger, aber da würde man nie drauf kommen. Sie sieht großartig aus. Felicia hat vor ein paar Wochen in unserem Haus eine Babyparty für sie veranstaltet. Es war sehr nett. Henry und Beth waren da. Die Girouxs – ohne Begleitung. Eddy Moffitt und seine Frau und ihre Kinder. Lee war auch da, aber natürlich ohne Chloe. Man weiß in der Stadt überhaupt nicht, was man davon halten soll. In den Boulevardblättern, die es unten im Supermarkt zu kaufen gibt, kann man Fotos von Chloe sehen, unscharfe, schlechte Bilder, auf denen sie mit irgendwelchen Rappern, Gitarrengöttern oder coolen Drummern abgebildet ist. Und dabei sind sie wohl noch nicht mal geschieden.
Die Frauen bildeten in unserem Wohnzimmer einen Kreis und bauten vor Lucy einen anderthalb Meter hohen Stapel mit Geschenken auf. Wir hatten einen Partyservice bestellt, und in der Küche standen lauter kalte Platten, frisches Obst, Nudelsalate, Wein und Bier. Es war kalt draußen, aber die Männer hatten sich trotzdem um ein Lagerfeuer versammelt und vor dem ganzen Brimborium aus Geschenkpapier, Schleifen, dezenten Manieren und Fingerfood die Flucht ergriffen. Es war seltsam still um das Feuer. Ich glaube nicht, dass Lee und Henry auch nur ein einziges Wort gewechselt haben. Normalerweise kleben die beiden zusammen wie Pech und Schwefel. Wir bildeten Teams und warfen mit Hufeisen, spielten Boccia und rauchten Zigarren.
»Was ist denn mit Lee los?«, fragte ich Eddy. »Er macht einen ziemlich mürrischen Eindruck.«
»Wenn meine Frau mit allen bumsen würde, die es bis auf die Titelseite eines Klatschblattes geschafft haben, dann wäre ich bestimmt auch ziemlich mürrisch.«
Also beließ ich es dabei. Auch damit gebe ich mir Mühe: die Dinge einfach öfter zu belassen, wie sie sind.
Nachdem alle gegangen waren und der Partyservice die Reste wieder mitgenommen hatte, war es sehr still im Haus. Felicia kroch an diesem Abend sehr früh ins Bett und als ich ihr ein wenig später folgte, weinte sie.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Geh weg«, sagte sie. »Okay? Lass mich einfach in Ruhe.«
Ich setzte mich auf die Bettkante, schaute zum Fenster hinaus auf unseren riesigen dunklen Rasen und die dahinterliegenden Felder, auf die Sterne, die über ihnen funkelten, und auf ein Paar Autoscheinwerfer, das durch die Landschaft kroch. Ich seufzte.
»Sie sind schwanger und wir sind es nicht«, sagte ich.
»Ronny Taylor wird Vater und du nicht! Klingt das in deinen Ohren irgendwie richtig? Ronny hat einer Stripperin ein Kind gemacht und du weigerst dich, dasselbe für mich zu tun. Verdammt noch mal, Kip. Es ist wie dieses Brettspiel, das ich als kleines Mädchen immer gespielt habe. Weißt du, welches ich meine? Das mit den kleinen Autos und den bunten Kärtchen und du drehst auf dem Spielfeld deine Runden und entweder gehst du in die Schule oder nicht. Du wirst entweder Arzt oder nicht. Du packst dein Auto mit Kindern voll.«
»Das Leben«, sagte ich. »Das Spiel des Lebens.«
»Ich habe mir immer ein volles Auto gewünscht, Kip, und das habe ich von Anfang an sehr klar und deutlich gesagt. Scheiß auf dich, du Arsch. Du musst dich entscheiden, Kumpel. Du musst dich entscheiden, ob du ein Mann sein willst oder nicht. Jetzt und hier. Du musst endlich erwachsen werden. So wie es jetzt ist, da komme ich nach Hause und krieche ins Bett und alles, was ich sehe, ist ein Feigling. So’n Typ mit einem vollkommen durchgeknallten Hirngespinst über eine alte Mühle am Arsch der Welt. Also sage ich das jetzt noch mal ganz deutlich, für den Fall, dass du mir vorher nicht zugehört hast: Entweder, wir machen zusammen ein Kind, oder ich haue ab.«
Wochen vergingen. Nichts änderte sich. Wenn wir miteinander schliefen, zog ich einen Gummi über. Ihre Pillen lagen im Badezimmerschrank neben einer Schachtel Tampons. Gute Nacht und guten Morgen. Dutzende von Mahlzeiten, garniert mit höflicher Konversation. Hier und da eine Flasche Wein, aber nicht oft genug, um die Einrichtung eines Weinkellers zu rechtfertigen.
Und so verließ sie mich schließlich. Eines Abends kam ich von der Mühle zurück und sie saß zusammengesunken an der Granitarbeitsplatte in der Küche und hatte den Kopf auf die Arme gelegt. Sie schaute zu mir hoch und ihre Augen waren müde und traurig, aber die Müdigkeit überwog. Sie hatte die Schlüssel schon in der Hand. Sie stand auf, kam zu mir, küsste mich fest auf den Mund und sagte: »Ich zieh ins Motel. Freitag Abend komme ich zurück, um alles für die Hochzeit vorzubereiten.«
...
Eines Tages, in meinem Büro in Chicago, klopfte meine Sekretärin an die Tür und kam mit einem verwunderten Gesichtsausdruck ins Zimmer. Sie war eine nette Frau. Denise. Sie erinnerte mich an meine Tante Carol. Denise ruft mich heute noch an, so ungefähr einmal im Monat, um zu hören, wie es mir geht. Dann fragt sie mich immer, ob ich es mir nicht noch mal anders überlegen und nicht doch zurück nach Chicago kommen will.
»Da ist ein Mann am Telefon«, sagte sie an jenem Tag. »Er behauptet, Sie zu kennen. Sagt, es wäre nichts Geschäftliches, aber dass Sie sich an ihn erinnern würden. Harvey Bunyan?« Sie hob verwirrt die Hände.
Im ersten Moment sagte mir der Name nichts. »Harvey? Bunyan? Und es ist keiner meiner Kunden?«
Denise schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm schon gesagt, er müsse sich verwählt haben, aber er hat direkt noch einmal angerufen. Behauptet, er hätte Ihre Visitenkarte vor sich liegen. Er sei mit seiner Frau zusammen für eine Hochzeit in die Stadt gekommen und dachte, er würde Sie mal anrufen, weil Sie ihn eingeladen hätten?«
»Hören Sie«, sagte ich scharf, »Denise, ich kann wirklich nicht …« Harvey Bunyan. Der Farmer. Du liebe Güte, wie lange war das her … »Stellen Sie ihn durch«, sagte ich entschieden. »Vielen Dank, Denise.«
Ich sammelte mich und nahm den Hörer auf.
»Hallo«, sagte ich, »Mr Bunyan? Was kann ich für Sie tun, Sir?« Ich hatte die Absicht, ihn einfach abzuwimmeln. Meinen imaginären Terminkalender durchzublättern und alle möglichen Termine vorzuschieben. Alles, was mir nur einfiel, von Warren Buffet bis zum Landwirtschaftsminister. Von Meister Proper bis zum Duracell-Hasen. Ein Mann, den ich ein einziges Mal getroffen hatte? An einer Tankstelle? In einem Ort, an dessen Namen ich mich nicht einmal mehr erinnern konnte? Ich konnte den Wind an seinem Ende der Leitung hören und eine Frauenstimme, ganz leise, die ihn höflich zu irgendetwas drängte.
»Ja«, sagte er schließlich und seine Stimme klang schroff und erleichtert, »Harvey Bunyan hier. Äh. Wir sind uns mal vor ungefähr einem Jahr oder zwei begegnet. Haben uns da an der Tankstelle unterhalten und Sie hatten dieses schicke Auto. Den roten Mustang.«
»Völlig richtig. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mr Bunyan?« Ich versuchte, sehr offiziell und beschäftigt zu klingen. Raschelte laut mit dem Papier auf meinem Schreibtisch und tippte irgendwelchen Unsinn auf meiner Tastatur.
»Nun, die Sache ist die, Edith und ich sind grade in der Stadt, wegen der Hochzeit meiner Nichte oben in Evanston. Ich habe ihr von Ihnen erzählt und, ja, wissen Sie, ich hatte Ihre Visitenkarte in meiner Brieftasche. Na ja.« Er hielt inne und hustete. »Wir sind jetzt unten in der Stadt und da habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht Zeit hätten, mit uns zu Mittag zu essen.«
Ich schaute aus dem Fenster. Der Blick war unendlich.
»Mr Bunyan«, begann ich, »ich –«
Ich konnte hören, wie trockene Hände über den Telefonhörer rieben, oder vielleicht war es ja auch Kleidung, dann ein Murmeln, eine höfliche Auseinandersetzung.
»Mr Bunyan?«
»Hallo«, sagte eine andere Stimme plötzlich. »Hier spricht Edith Bunyan. Ist dort Mr Cunningham?«
»Ah, ja. Hallo, Mrs Bunyan. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Nun, es mag ja nicht besonders klug sein, aber ich lege einfach mal Harveys Karten alle auf den Tisch, sozusagen. Sie sind wahrscheinlich ein wenig irritiert und ich glaube, ich kann Ihnen da ein bisschen Zeit sparen. Also. Harvey schwört, Sie würden unserem Sohn sehr ähnlich sehen, unserem Thomas. Er schwört es. Er sagt, Sie beide könnten Brüder sein.«
»Entschuldigung?«
»Thomas ist im Irak umgekommen. In Falludscha. Eine Sprengbombe am Straßenrand. Das ist unserem Jungen passiert. Thomas. Dem, dem Sie so ähnlich sehen.«
»Entschuldigen Sie, aber ich habe eine ganze Reihe von Anrufen in der Leitung, die auf mich warten, und Sie wissen ja, wie das so ist, die Börse macht keine Pause. Ich kann nicht, ich kann mir nicht einfach so den Nachmittag freinehmen, es tut mir leid, aber ich kenne Ihren Mann ja eigentlich gar nicht …«
»Harvey.«
»Ja, Harvey. Natürlich bedaure ich Ihren Verlust zutiefst, aber, nun ja, wir sind uns nur dieses eine Mal begegnet und er schien ja auch ein sehr netter Mann zu sein, und so …«
»Harvey Bunyan. Sie haben ihm Ihre Visitenkarte gegeben.«
»Ja, das stimmt, aber …«
»Hören Sie«, sagte sie und senkte ihre Stimme. »Thomas war unser einziges Kind. Er hatte einen Job in Chicago. An der Rohstoffbörse. Genau wie Sie. Ist an die Northwestern University gegangen. Er war ein sehr intelligenter Junge. Hat sein Studium damit finanziert, dass er in die Armee eintrat. Und eines Tages wird er einberufen und dann ist er plötzlich einfach weg. Und Harvey, nun ja, er will es einfach nicht akzeptieren.« Sie hielt inne. »Ich bitte Sie, könnten Sie uns nicht wenigstens kurz zum Mittagessen treffen? Eine Dreiviertelstunde. Wir laden Sie ein. Ich glaube, er ist einfach nur einsam. Wie schon gesagt, Sie erinnern ihn an Thomas. Sie müssen ein sehr netter Mann sein.«
Denise stand auf der Türschwelle meines Büros und warf mir einen besorgten Blick zu.
»Wo genau sind Sie beide denn gerade?«
Wir trafen uns im Giordano’s, einer Pizzeria im Chicago-Stil, in der sich die Touristen stapelten. Sie standen an der Tür, Harvey und Edith. Zwei Leute, die älter waren als meine eigenen Eltern und sehr steif wirkten, mit ihren Rockport-Wanderschuhen, gebügelten Hosen und Windjacken. Harvey sah älter und gebrechlicher aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er strich sich andauernd mit seinen dicken Fingern durch das schüttere Haar und seine feuchten Augen huschten die ganze Zeit an mir auf und ab und dann über die wild dekorierten Wände des Restaurants, die Schar der Gäste und die jungen Kellner. Edith war mollig, hatte dicke, schwabbelige Arme, dünne Lippen und eine riesige Handtasche, die an ihrem fleischigen Ellbogen hing. Ich beschloss, mich einfach zu entspannen, mir die Stunde irgendwie zu vertreiben, ihnen den Gefallen zu tun – zwei alte Leute und ich, das gespenstische Echo ihres armen toten Sohnes.
Wir aßen Pizza und nippten an unseren Cola-Gläsern. Sie stellten mir Fragen zu meiner Arbeit, wollten wissen, wo mein Büro war, und nickten anerkennend. Harvey blinzelte zu mir hoch und schaute sich dann im Raum um, in dem ein einziges Stimmengewirr herrschte. »Hier ist wirklich viel los«, sagte er. Edith erzählte von ihrer kleinen Farm, davon, dass sie darüber nachdachten, sie zu verkaufen und sich dann einen Wohnwagen anzuschaffen, mit dem sie über die Landstraßen im Südwesten des Landes fahren würden. Ich stellte mir vor, wie ihre Arme vom Sonnenbrand ganz rot wurden, wie sie sich Zinksalbe auf ihren Nasenrücken schmierte und ihre Augen hinter einer riesigen Sonnenbrille aus dem Drugstore versteckte. Und Harvey, der die ganze Zeit nur an die verkaufte Farm denken, sich über die Benzinpreise beschweren und an allen Reisezielen zunächst einmal die Stirn runzeln und die Arme über der Brust verschränken würde.
»Sie sehen Thomas wirklich sehr ähnlich«, sagte Edith. »Zuerst habe ich es nicht gesehen. Aber jetzt schon. Wenn Sie ungeduldig werden, wissen Sie, dann reiben Sie Ihre Hände genauso zusammen, wie er es tat. Und Ihre Ohren, die sind auch die gleichen.« Sie tätschelte Harveys Arm. »So was, so was.«
»Tja, also«, sagte ich, »ich würde Sie gerne einladen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Es war mir eine Freude. Wirklich. Und Sie sind eingeladen, keine Widerrede.« Ich hatte sie schließlich tatsächlich eingeladen.
»Oh«, sagte Edith und wühlte in den Tiefen ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie. »Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Nein, nein, nein«, sagte ich und steckte einer vorbeikommenden Kellnerin schnell meine Kreditkarte zu. Sie nahm sie entgegen, als handelte es sich um einen Stab im Staffellauf. Die Stunde war schneller vorübergegangen, als ich erwartet hatte. »Ehrlich. Das war eine nette Überraschung. Eine sehr angenehme Pause von der Arbeit.«
Als wir draußen vor dem Restaurant standen, im Begriff, uns zu verabschieden, überraschte mich Edith damit, dass sie mich lange umarmte. Sie drückte ihren Körper fest gegen meinen und der süßliche Geruch ihres Parfüms war fast mehr, als ich ertragen konnte. Und dann hielt mir Harvey, der mir nie direkt in die Augen sah, seine trockene alte Hand hin, schüttelte die meine und sagte: »Ich bin mir sicher, wenn Sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten, dann wären Sie und mein Junge bestimmt gute Freunde geworden. Er war genau wie Sie. Stark. Klug. Höflich.« Er legte eine Hand auf meinen linken Oberarm und drückte ihn kurz. Er konnte mich nicht ansehen und ich hörte, wie ihm die Stimme brach. Der Lärm des Verkehrs war plötzlich viel zu laut, viel zu wild. Die beiden sahen ganz verloren aus in dieser Stadt. Sie schienen sich fast zu ducken, standen dort mit hängenden Schultern und hatten doch ein stolzes, feierliches Lächeln im Gesicht. Ich schaute hinunter auf mein Mobiltelefon, selbst unsicher, wohin ich meinen Blick wenden sollte.
»Also, wann ist die Hochzeit?«, fragte ich.
»Heute Abend«, sagte Harvey. »Die Tochter meiner Schwester.«
»Und wann fahren Sie beide wieder nach Hause?«
Fußgänger drängten sich an uns vorbei. Leute mit Koffern und Rolltaschen, Leute, die laut in ihre Handys schrien, Leute, die joggten.
»Morgen«, sagten sie gleichzeitig. Und dann sagte Harvey: »Morgen früh. Wir werden versuchen, ganz früh loszufahren.«
Ich nickte.
»Also, hören Sie«, sagte ich und dachte nicht darüber nach, was ich im Begriff war auszusprechen, anzubieten. »Vielleicht möchten Sie ja morgen früh bei mir vorbeischauen, bevor Sie losfahren. Ich mache Ihnen was zum Frühstück. Dann müssen Sie nicht so viel Geld für einen teuren Brunch in der Großstadt ausgeben. Ich wohne im John-Hancock-Gebäude. Kommen Sie doch einfach vorbei. Ich habe da oben eine tolle Aussicht. Und Sie können mir dann noch mehr über Ihren Thomas erzählen.« Es fühlte sich irgendwie gut an, gut und richtig. Diese armen alten Leutchen. Ich hatte so etwas noch nie getan und auch seitdem nicht wieder, bis jetzt vielleicht.
Das Lächeln auf ihren Gesichtern verwandelte sich in ein Strahlen. Ich schrieb meine Adresse auf einen Zettel und winkte ihnen schnell zum Abschied, bevor Edith meine Wange mit noch mehr Lippenstift beschmieren oder meine Kleider mit ihrem Parfüm tränken konnte.
Sie kamen am nächsten Morgen tatsächlich zum Frühstück und blieben bis kurz nach Mittag. Wir tranken zwei Kannen Kaffee und Harvey lief durch mein Apartment, immer in sicherer Distanz zu den großen Fenstern, die von der Decke bis zum Boden reichten. Edith saß an meinem Esstisch und zeigte mir Fotos von Thomas, in einem kleinen Fotoalbum, das sie in ihrer Handtasche mit sich trug. Er sah mir wirklich ähnlich. Das war irgendwie verstörend. Die gleichen Haare, die gleichen Augen, das Gesicht, der Körperbau. Auf den Bildern sah es so aus, als würde er sogar dieselben Kleidermarken bevorzugen wie ich und auch das gleiche Bier in der Hand halten, das ich immer trank. Auf vielen der Fotos war er in denselben Bars und Restaurants in Chicago zu sehen, die auch ich regelmäßig besuchte.
»Haben Sie noch weitere Kinder?«, fragte ich und schaute Edith dabei nicht an. Ich wusste schon im Voraus, wie die Antwort lauten würde.
»Nein«, sagte Harvey vom anderen Ende des Raumes.
Sie schloss das Album und steckte es sorgfältig wieder zurück in ihre Tasche. Dann schien sie sich tief in ihrem Stuhl verkriechen zu wollen und schloss für ungefähr drei Sekunden fest die Augen, spitzte die Lippen und atmete tief aus.
Du schüttest deine ganze Liebe in ein Kind, all deine Hinwendung, deine Hoffnungen, all die Versprechen und Träume, die deine Vorfahren an dich vererbt haben, und du weißt es einfach nicht. Es ist anders als alles, was es sonst auf der Welt gibt. Außer vielleicht der Glaube. Aber ich bin kein religiöser Mensch. Wenn du in Aktien oder Rohstoffgüter investierst, dann kannst du deine Wette absichern, du kannst dein Geld in Dutzenden von unterschiedlichen Sachen anlegen, oder auch in Tausenden. Du kannst deine Hoffnungen und Ängste verteilen, diversifizieren, und sicher, es ist eine Lotterie, ein Glücksspiel, aber ich wusste immer, dass ich am Ende wieder etwas dabei herausbekommen würde. Dass ich irgendetwas zurückbekommen würde.
Zweimal im Jahr bekam ich Grußkarten von Harvey und Edith mit der Post. Einmal zu Weihnachten und das zweite Mal an Thomas’ Geburtstag, der zufälligerweise nur fünf Tage nach meinem war. Die Karten waren immer mit Harveys kräftiger, ordentlicher Schrift geschrieben. Und es stand nie viel drin. Dasselbe Farmergejammere, das ich oft von Henry oder den Giroux-Zwillingen zu hören bekam – nicht genug Regen, zu viel Regen, Verlust der Ernte, zu hohe Dieselpreise, eine teure Hüftprothese und so weiter. Manchmal schickte mir Harvey auch Fotos von der Farm, die ganz offensichtlich mit einer Wegwerfkamera aufgenommen worden waren, mit schlechter Bildqualität und vollkommen überbelichtet. Es waren Felder mit Setzlingen darauf zu sehen, endlose Reihen von zartem jungem Grün, oder ein purpurner Sonnenuntergang über einem Feld aus bleichen, vertrockneten Maispflanzen. Schnee, der bis zu den Fensterbänken ihres Hauses reichte, oder ein Kardinalsvogel, der sich aus ihrem Futterspender bediente. Es gab nie irgendwelche Erklärungen zu den Bildern, die er mir schickte, kein Muster, kein sich durchziehendes Thema. Einfach nur sein Leben. Ganz ähnliche Bilder, wie er sie vielleicht Thomas geschickt hatte, als er im Irak stationiert war, oder sogar, als er noch in den Staaten war, in irgendeinem Fort im feuchtwarmen Süden des Landes.
»Sag mir doch noch mal, wer diese Leute eigentlich sind?«, fragte Felicia mich manchmal, während sie die Adresse auf dem Umschlag der Karte betrachtete. »Woher kennst du sie noch mal?«
Wie sollte ich auch nur versuchen, das zu erklären? Dass ich einmal einen alten Mann getroffen hatte, an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo, dass ich ihm meine Karte gegeben hatte und er mich dann Monate, Jahre später zusammen mit seiner Frau in Chicago besucht hatte? Dass ich ihrem toten Sohn ähnlich sah?
»Ach«, sagte ich dann. »Das sind nur alte Freunde der Familie.«
»Sollten wir sie denn dann nicht vielleicht zur Hochzeit einladen?«, fragte sie mich bei mehr als einer Gelegenheit.
»Nein. Sie wohnen weit weg, draußen in Illinois, an der Grenze zu Iowa. Harvey ist ein Farmer und reist nicht gerne. Ich möchte sie nicht damit belästigen. Und wir stehen uns eigentlich auch nicht besonders nahe.«
»Bist du sicher? Es sieht so aus, als würde ihnen wirklich etwas an dir liegen. Ich meine – sie schreiben dir öfter als deine eigenen Eltern.«
»Nein, glaub mir. Das ist schon okay so.«
Und dann, ein paar Monate später, kam ein Brief. Aber es war nicht Harveys Schrift auf dem Kuvert. Diese hier war weicher, eleganter, mit mehr Kurven und Schnörkeln und nicht so tief ins Papier eingedrückt. Und während ich vom Briefkasten zurück ins Haus ging, las ich, dass Harvey gestorben war. Dass er einen schlimmen Unfall mit einer der Farmmaschinen gehabt hatte. Dass Edith ihn dort draußen gefunden hatte, in einem seiner Felder, und es nichts mehr gab, was sie für ihn tun konnte, dass es keine Zeit mehr gab. Dass sie ihn jetzt auch verloren hatte.
Und ich dachte damals – wie ich es auch heute noch denke –, warum bloß hatte ich sie nicht zu unserer Hochzeit eingeladen? Von all den vielen Menschen – warum nicht diese beiden? Wer wäre stolzer auf mich gewesen? Wer hatte mir sonst so unerschütterlich seine Zeit geschenkt, so an mich geglaubt? Wer hatte mich sonst so wie einen Sohn geliebt? Und was hatte ich getan? Sie angerufen? Kein einziges Mal. Ihnen geschrieben? Vielleicht einmal im Jahr. Sie besucht? Nie.
Wie stolz wären sie auf mich gewesen? Auf Felicia?
Wie kann ich denn ein Vater werden? Wie kann man sich überhaupt auf mich verlassen? Was habe ich je anderes getan, als zu versagen? Ich habe bei Felicia versagt, bei Leland, beim armen alten Harvey. Und jetzt auch noch bei der Mühle. Um Gottes willen. Wer bin ich nur?
Die Sonne geht auf. Bald werden die ersten Kunden in die Mühle kommen. Lee konnte früher Musik in den Sonnenuntergängen hören. Jazz. Das hab ich nie verstanden. Und die Sonnenaufgänge? Ich glaube nicht, dass ein Sonnenaufgang einen musikalischen Klang hat. In meinen Augen ist er wie eine wunderschöne Frau, die beim Aufwachen gähnt. Oder vielleicht – ich weiß auch nicht – wie ein Baby. Ein Baby, das seine Augen öffnet. Vielleicht ja auch beides. Was auch immer es sein mag, ich habe mehr und mehr das Gefühl, als verdiente ich keinen weiteren Tag, keine weitere Morgendämmerung wie diese hier.