Die ganze Stadt war gekommen. Es gab längst nicht genug Stühle und nicht genug Platz für die Schaulustigen, die herbeigeströmt waren. Viele Leute standen draußen vor der Mühle in der Kälte und spähten durch die Fenster herein, die schon ganz beschlagen waren. Andere hatten sich im Keller der Mühle versammelt, den Kip in einen wahrhaft atemberaubenden Ballsaal von rustikaler Eleganz verwandelt hatte. Wo früher einmal tote Ratten und Mäuse durch zehn Zentimeter tiefes lauwarmes Wasser getrieben waren, erglühte nun der riesige Raum in goldgelbem Licht unter zahllosen Kerzen und Weihnachtsbeleuchtung. Man hätte meinen können, es würde irgendein Königspaar heiraten, als würden sich heute die beiden bedeutendsten aristokratischen Häuser des amerikanischen Mittleren Westens vereinigen. Kips Hochzeit war ja schon recht prachtvoll gewesen, aber das hier übertraf sie bei weitem. Und vielleicht lag das ja auch an der ganzen Aufregung des vorigen Abends. Denn trotz seiner halb abgefrorenen Finger und seiner leuchtend roten Nase bestand Ronny darauf, die Hochzeit ganz nach Plan stattfinden zu lassen.
Ich zählte zu denen, die ihn gedrängt hatten, im Bett zu bleiben und erst mal wieder gesund zu werden. »Ronny«, sagte ich, »Lucy wird das bestimmt verstehen. Du kannst doch nächste Woche heiraten. Oder nächsten Monat. Nächstes Jahr. Das ist doch verrückt. Du hast Glück, dass du überhaupt noch am Leben bist.«
Lucy saß so dicht neben seinem Krankenhausbett, dass sie genauso gut auf seinen Schoß hätte krabbeln können. Sie nickte bekräftigend. »Lee hat recht, Baby. Ich verlass dich nicht. Das würde ich nie tun. Nie, nie, nie.«
»Holt mich einfach so gegen Mittag hier raus«, sagte Ronny in vollem Ernst. »Ich bleib bis Mittag hier. So lang ruhe ich mich noch aus. Aber das war’s dann.« Er wies mit dem Finger auf mich, auf Henry, Eddy, Kip und die Girouxs. »Ich unterschreibe die scheiß Formulare selber, wenn es sein muss. Ich bin nicht krank.«
Mittags fuhren wir ihn im Rollstuhl zur Eingangshalle des Sacred-Heart-Krankenhauses. Lucys alter Dodge Neon stand im Leerlauf vor der Tür. Ronnys Hände und Füße waren dick verbunden und als er sich auf seine wackligen Beine stellen wollte, liefen wir hastig zu ihm, um ihn zu stützen.
»Jetzt lasst mich mal in Ruhe«, sagte er. »Schließlich bin ich nicht tot. Ich war schon mal viel schlimmer dran als jetzt. Fahrt mich einfach zu meiner Wohnung«, sagte er. »Und schaut, dass ihr mich irgendwie in diesen Smoking kriegt.«
Ich saß auf dem Rücksitz des Neon, während Lucy fuhr. Ihr großer runder Bauch stieß gegen das Lenkrad und sie schaute immer wieder nervös zu Ronny hinüber, hielt seine Hand in ihrer und fragte, ob die Heizung zu hoch gestellt war. Er winkte ab und tat so, als betrachtete er die Welt draußen vor seinem Fenster.
»Baby«, sagte sie leise. »Baby, was hast du denn bloß da draußen gemacht, letzte Nacht?«
»Ich weiß auch nicht«, begann er und verstummte wieder. Dann schaute er auf seine Hände und auf den Verlobungsring an seinem breiten Ringfinger. »Es war so schrecklich kalt da draußen, da ist mir der Ring runtergefallen. Er ist einfach irgendwann von meinem Finger gerutscht und ich bin runter in den Schnee und bin auf allen vieren da rumgekrabbelt und hab in der Dunkelheit nach ihm gesucht, keine Ahnung, wie lange. Aber dann habe ich ihn gefunden und in meine Tasche gesteckt.«
»Baby.«
Ich sah vom Rücksitz aus im Spiegel ihre Gesichter, sah auf ihre Finger in seinen Haaren, auf die vor uns liegende Straße.
»Ich hab mich halt einfach nur verirrt. Mehr nicht.«
»Aber was hast du überhaupt da draußen gemacht? Warum warst du nicht zu Hause?«
»Ich weiß auch nicht. Hab einfach nicht mehr gewusst, wie spät es war, glaube ich. Und dann bin ich raus, um mal zu pinkeln, und als ich mich umdrehte, war die Bar irgendwie weg oder so was.« Ronny lachte und drehte sich zu mir um. »Scheiße, vielleicht hat sich die Bar ja auch verirrt.«
Ich lächelte ihn an.
»Baby«, sagte Lucy. »Du wirst jetzt bald Papa. Das weißt du doch. Du wirst der Papa von jemandem. Da geht so was nicht mehr, sich einfach verirren, okay?« Sie fing an zu weinen und lenkte das Auto an den Straßenrand. »Du darfst mich jetzt nicht mehr verlassen, hörst du? Wir müssen jetzt zusammenhalten.«
Er sah sie an. »Ich wollte ja bei dir sein«, sagte er. »Aber ich dachte, das dürfen wir nicht, in der Nacht vor der Hochzeit. So ’ne Traditionssache oder so.«
Sie strich mit ihren Händen über sein Gesicht, seine Wangen. »Ab heute musst du dir um so einen Mist nie wieder Gedanken machen.«
Sie küssten sich, während sich ihre Sitzgurte bis zum Äußersten dehnten. »Hört mal, ich könnte doch den Rest des Weges fahren«, schlug ich vor. Und ohne ein Wort zu sagen, lösten sie beide ihren Gurt, stiegen aus dem Auto aus, warteten, bis ich mich vors Steuer gesetzt hatte, und krabbelten dann hastig auf den Rücksitz, wo sie den Rest der Fahrt damit zubrachten, sich so fest es nur ging zu umarmen. Ich schaute ihnen im Rückspiegel ein paar Sekunden zu, bevor ich meinen Blick schnell wieder abwandte.
Die Zeremonie selbst fand in der ehemaligen Lagerhalle der Mühle statt – ein riesiger Raum, der immer noch ganz leicht nach Malz roch. Es gab natürlich keine Orgel, aber Kip hatte keine Kosten gescheut und ein Soundsystem installiert und außerdem einen professionellen DJ angeheuert, der sich um die Musik kümmerte.
Ich stand vorne neben Ronny – wenn es bei dem Sitzarrangement überhaupt »vorne« gab – und hielt den Trauring bereit. Ronny hatte ihn von seiner Großmutter geerbt. Sie hatte während des Zweiten Weltkriegs bei der Granatenproduktion geholfen und sechs Kinder großgezogen, von denen zwei auch hier unter den Gästen waren. Ich rieb den Ring in meiner Hosentasche zwischen Daumen und Zeigefinger und spürte das weiche Gold, stellte mir vor, wo der Ring schon überall gewesen war, welche Finger und Gegenstände er im Lauf der Zeit berührt hatte. Ich konnte den winzigen Diamanten spüren. Ein Trauring, wie ihn die armen Leute trugen, die amerikanische Mittelklasse. Er war ein Versprechen für die Zukunft und nicht irgend so ein protziger monströser Designerring, wie ich ihn für Chloe gekauft hatte.
An meiner Seite wartete Lucys jüngere Schwester, die Trauzeugin. Sie war noch sehr jung, nicht mal einundzwanzig Jahre alt. Ihr Make-up war schon vollkommen ruiniert, weil sie so weinen musste, und sie hielt ihren Blumenstrauß so fest umklammert, dass ich sogar aus ein paar Metern Entfernung hören konnte, wie die Stengel brachen, und ich mir einbildete, das Chlorophyll riechen zu können – den Geruch von frisch gemähtem Gras. Ich stellte mir die grünen Flecken an ihren Händen vor und die kleinen Einstichstellen der Dornen.
Es war eine schöne, traditionelle evangelische Hochzeit. Dieselben altbekannten Bibelverse, die man im Mittleren Westen bei solchen Gelegenheiten immer zu hören bekommt. Der Pfarrer sprach von Zeit und Geduld und Vergebung. Seine Stimme klang warm und müde. Lucys Schwester riss sich lange genug zusammen, um mit etwas zittriger Stimme »I Will Always Love You« zu singen – eine Wahl, die sich nur sehr wenige meiner Freunde im Musikgeschäft, Leute, die die höchsten Weihen der amerikanischen Popmusik empfangen hatten, zugetraut hätten, und das auch nur an ihren besten Tagen. Gott sei Dank beschränkte sie sich auf eine etwas gedämpftere Version à la Dolly Parton und versuchte sich nicht an der stimmgewaltigen Whitney-Houston-Variante.
Ronny und Lucy lauschten den Worten des Pfarrers mit andächtiger Aufmerksamkeit. Sie sprachen ihre Eheversprechen mit leiser, ernster Stimme und mit genau der richtigen Dosis von Gefühl und Überlegtheit. Ronny nahm nur ein einziges Mal kurz den Blick von seiner Braut, als er sich zu mir umwandte, um den Ring in Empfang zu nehmen.
Nach ihrem Kuss jubelte die ganze Mühle frenetisch. Es war das lauteste Geräusch, das ich in Little Wing je gehört habe. Und dann läuteten die Glocken der kleinen evangelischen Kirche an der Hauptstraße. Ronny ließ es sich nicht nehmen, trotz seiner ganzen Verbände zusammen mit Lucy allen die Hand zu schütteln, aber auch wirklich allen. Und dann gab es die Horsd’œuvres und die übrigen Gänge des Festmahls und schließlich die Party.
Die meisten Frauen hatten in der Zwischenzeit ihre hochhackigen Schuhe ausgezogen. Die Männer schwitzten wie eine Horde Hockeyspieler, hatten sich die Schlipse um die Stirn gebunden und alle hielten Plastikbecher mit Wasser und Eiswürfeln in der Hand. Auf der Hochzeit war keinerlei Alkohol erlaubt – aber das schien allen egal zu sein. Es hatte den Anschein, als sei die ganze verdammte Stadt auf der Tanzfläche, und sie gaben alles, verausgabten sich vollkommen, ließen alles raus. Eddy war mittendrin und gab den Breakdance-Wurm und Henry machte sich zum Affen, indem er versuchte, besonders coole Grimassen zu ziehen und im Rhythmus der Musik zu klatschen – Musik, die er, wie ich ganz genau wusste, noch nie in seinem Leben gehört hatte. Aber es hat doch einen Beat! Man kann sich dazu bewegen! Und dann Ronny Taylor, der Bräutigam, der aussah wie ein wirklicher echter Disco-King und der eine derartige Biegsamkeit an den Tag legte, dass er John Travolta bei weitem in den Schatten stellte. Dort war er, mitten in der Menge, mit seinem Cowboyhut auf dem Kopf, die Hände in die Gürtelschnalle gehakt, und stolzierte und sprang mit seinen neuen Krokoleder-Cowboystiefeln, tanzte mit seiner schwangeren Braut – einer Frau, die ihre ganz eigenen Bewegungen mit auf die Tanzfläche brachte. Und sie schaffte es trotz ihres dicken Bauches, sich sehr gut zu bewegen. Sie gab zur Freude ihres Ehemanns die ein oder andere Körperverdrehung zum Besten, die vielversprechender war, als das in aller Öffentlichkeit angemessen sein mochte.
Und dann bildete die ganze Stadt einen riesigen Kreis um sie, und alle klatschten, alle jubelten ihnen zu. Jubelten diesen beiden so ungleichen Jungvermählten zu, derart entfesselt, wie man es nur in einer so kleinen Ortschaft erleben kann, einer Ortschaft, die das halbe Jahr unter Schnee vergraben liegt und von Thanksgiving bis Ostern größtenteils ohne Sonnenlicht auskommen muss. Auch zahllose Kinder waren noch auf der Tanzfläche, die eigentlich schon längst ins Bett gehörten, und bewegten sich perfekt im Takt, tanzten ausgelassen und ohne jede Hemmungen. Zwischendurch liefen sie immer wieder zu den Tischen, wo der gefrorene Blechkuchen stand und vor sich hin schmolz. Strichen mit ihren Fingern durch die dicke Glasur und zogen sie vollkommen cremebeschmiert wieder heraus. Tranken in großen Zügen ihre Limonade. Rieben sich ihre schläfrigen Augen und gingen dann wieder zurück auf die Tanzfläche, weil sie noch immer nicht genug hatten. Tanzten im Kreis, tanzten mit ihren Eltern. Und in den Ecken schmollten die Teenager, tippten in ihre Handys, schauten hoch, wünschten sich sehnlichst, an dem Spaß teilzuhaben, fanden aber alles viel zu peinlich, um es zu versuchen. Da waren ihre Eltern und tanzten, schmiegten sich manchmal sogar so eng aneinander, dass es den Teenagern die Schamröte ins Gesicht trieb und ihnen ein verzweifeltes Ach du Scheiße entlockte. Teenager, die sich davonstahlen, mit Zigaretten, die sie aus den Handtaschen ihrer Mütter oder den Jackentaschen ihrer Väter geklaut hatten, die auf den Toiletten rauchten oder draußen bei den Eisenbahnschienen. Die sich in den abgelegenen Winkeln der alten Mühle heimlich küssten, mit großen Augen, mit Augen voller Liebe und Staunen und neuen uralten Gefühlen. Und dann die alten Leute, die auf ihren Stühlen saßen, zuschauten, klatschten, manche von ihnen fast vollkommen bewegungslos, als wären sie katatonisch, während nur der winzigste Ansatz eines Lächelns über ihre Lippen zuckte. Manche der alten Frauen standen auf, um mitzutanzen, aber die alten Männer schüttelten die Köpfe, nein, nein, nein, verschränkten die Arme und schlugen die Beine übereinander und es wirkte so, als wollten sie am liebsten einen Sitzstreik auf der Erde abhalten und sich dabei solidarisch an den Händen fassen. Ich hab noch nie getanzt und werde zum Teufel auch jetzt nicht damit anfangen.
Und dort war auch Kip, stand gegen die Wand gelehnt, schüttelte das Eis in seinem Plastikbecher, als wären es Spielwürfel, und hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. Er sah irgendwie glücklich aus. Als hätte er gerade etwas Besonderes vollbracht. Er sah mich nicht, aber ich sah ihn, sah ihn von dort, wo ich gerade mit unseren Freunden tanzte. Ich verließ die Tanzfläche, den ganzen wilden Krawall, und ging zu ihm, während ich mir den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Was ich jetzt am meisten brauchte, war eine Rolle Küchentücher und eine kalte Dusche. Aber dazu hatte ich einfach zu viel Spaß – so wie auch alle anderen. Irgendwie hatte es dieser Teufelskerl da doch tatsächlich geschafft, alle zusammenzubringen.
Er sah mich kommen und stellte sich aufrecht hin, so als wäre ich ein Lehrer, der ihn wegen seiner schlechten Haltung rügen wollte. Ich sah, wie er mit den Zähnen einen Eiswürfel zerkaute. Er nickte und reichte mir die Hand, wobei er fast streng wirkte.
»Leland«, sagte er. Es fiel mir auf, dass er meinen vollständigen Namen benutzte. Nicht Lee, nicht Kumpel. So weit war es mit uns gekommen, mit ihm und mir.
»Komm mit nach draußen«, sagte ich. »Lass uns spazieren gehen. Ich geb dir ein Bier aus.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, ich sollte besser hier bleiben.«
»Ach, jetzt komm schon«, sagte ich. Ich legte eine Hand auf seine Schulter und spürte, wie sich sein ganzer Körper anspannte. »Scheiße, Mann, jetzt gib mir schon die Gelegenheit, mich zu entschuldigen. Okay?«
Er schaute mich eine Sekunde lang stumm an. Dann löste er sich von der Wand. Wir gingen zusammen hinaus in die Kälte und kamen uns vor wie zwei Männer, die gerade eine Sauna verlassen. Von unseren Köpfen stieg in langen Dunstsäulen der Dampf auf. Auch andere waren in die Winternacht hinausgegangen, standen draußen vor der Mühle, rauchten, schauten in die Sterne, kamen wieder zu Atem. Sie nickten uns zu, auch wenn ich sagen muss, dass sie eindeutig eher Kip zunickten als mir. Er hatte etwas ganz Besonderes geschafft, etwas sehr Seltenes. Etwas, das man so in Amerika eigentlich gar nicht mehr findet, denke ich. Eine ganze Stadt, eine ganze Ortschaft zusammenzubringen, um zusammen zu feiern und Spaß zu haben. Ohne jegliche politische oder geschäftliche Hintergedanken und ohne irgendwelche Regeln.
Einmal, vor sehr langer Zeit, als ich noch ganz am Anfang meiner Karriere stand, wurde ich eingeladen, auf einem Squaredance zu spielen, oben am Lake Superior, in einer dieser winzigen Ortschaften, die in ihrer Existenz keinen Sinn mehr zu sehen scheinen. Es gab kein Stadtzentrum, keine Geschäfte, keinen Hafen und keinen Bahnhof. Und doch kamen immer freitags um sieben Uhr abends Hunderte von Leuten von den umliegenden Hügeln und Wäldern hinunter zum alten Rathaus der Stadt. Ich war sozusagen die Vorgruppe. Nach mir sollten noch eine Bluegrass-Band auftreten und dann ein Contra Dance Caller. Es gab ein Buffet, zu dem alle beigetragen hatten, und Punschbowle und Kühlboxen mit Limonade. Man hatte das Licht heruntergedimmt und ich spielte ungefähr eine Stunde lang auf meiner Gitarre, spielte auch ein paar Springsteen-Covers, und alle waren sehr höflich und klatschten und es klingelten keine Handys und keiner war irgendwie abgelenkt oder unterhielt sich. In diesem Augenblick war ich in diesem Ort das Einzige, das existierte.
Nachdem ich fertig war, übernahm die Bluegrass-Band die Bühne. Die Fiddlespieler rieben ihre Bögen mit Kolophonium ein, der Pianist strich mit den Fingern leicht über die Tastatur und der Kontrabassist ließ seine dicken fetten Saiten sprechen, mit tiefer dunkler Stimme, und dann explodierten sie – und die Musik, die sie spielten, war wie ein gigantischer Kübel Wasser, den man über einem mächtigen Baum ausgoss, einem Baum in voller Blätterpracht. Die Töne verteilten sich vollkommen gleichmäßig und wurden auf dem Weg nach unten immer vielschichtiger, flossen freudesprühend in die Tiefe, sprangen, strömten nach unten, immer weiter nach unten, von Blatt zu Blatt, als liefen sie miteinander um die Wette. Eine kleine Tonfamilie, die sich plötzlich vieltausendmal vermehrte und jedes Rinnsal, jeder Tropfen, jede Träne war eine Perle voller Sonnenlicht und Entzücken. Und alle fingen an zu tanzen. Bald füllte sich der ganze Saal mit dem Geruch von Schweiß, mit ohrenbetäubendem Gelächter und dem Gestank nach nasser Wolle und Schweißfüßen. Die ganze Stadt umarmte mich – im wahrsten Sinne des Wortes –, zog mich in ihre Squaredances hinein und brachte mir die ganzen Promenaden und Schritte und das Klatschen und die Rufe bei. Und ich muss sagen, in diesem Moment verstand ich zum ersten Mal, was Amerika überhaupt bedeutete oder bedeuten konnte. Und das zweite Mal passierte mir das bei Ronny Taylors Hochzeit, in Kip Cunninghams liebevoll restaurierter alter Mühle.
Amerika, glaube ich, das ist, wenn arme Leute Musik machen und arme Leute sich Essen teilen und arme Leute tanzen, selbst wenn alles andere in ihrem Leben so verzweifelt und so trostlos ist, dass man meint, es gäbe eigentlich gar keinen Platz mehr für Musik und Essen, das man verschenkt, und als wäre zum Tanzen keine Kraft mehr übrig. Und man kann mir jetzt vorhalten, dass ich mich irre, dass wir ein puritanisches Volk sind, ein protestantisches Volk, ein selbstsüchtiges Volk – aber ich glaube das nicht. Ich will das nicht glauben.
Alle übrigen Einwohner der Stadt, die, die gerade nicht in der Mühle waren, hielten sich ganz offensichtlich im VFW auf. Die Bar war brechend voll. Kip und ich bahnten uns einen Weg zum Tresen und wir hatten kaum den Raum betreten, da hatte uns schon jemand zwei Gläser mit frisch gezapftem kaltem Bier in die Hand gedrückt. Wir standen eng aneinandergepresst. Durch die offenstehende Tür kam ein sehr kalter Windzug, der sich aber in diesem Augenblick ganz wunderbar anfühlte. Die alte Jukebox spielte ein Lied von Waylon Jennings.
»Das hast du echt gut gemacht heute Abend«, brüllte ich in Kips rechtes Ohr. »Das ist eine verdammt gute Party, die du da geschmissen hast.«
Kip nickte dankend mit dem Kopf, sagte jedoch nichts und schlürfte sein Bier. Er hatte sich verändert, das konnte ich sehen. Oder vielleicht hatte sich ja auch einfach nur meine Sichtweise geändert. Irgendetwas war anders. Der Kip, den ich früher gekannt hatte oder geglaubt hatte zu kennen, hätte jetzt eine selbstbeweihräuchernde Rede gehalten, hätte jedem das Gefühl gegeben, man wäre von nun an verpflichtet, sein Unternehmen zu unterstützen, hätte vielleicht sogar einen Hut herumgereicht. Aber er tat nichts dergleichen.
»He«, schrie ich. »Ich will, dass wir uns wieder vertragen. Verstehst du? Ich will, dass wir …« Ich hielt inne, starrte auf meine Hochzeitsschuhe hinunter. »Ich will, dass wir Freunde sind.«
Er beugte sich nah zu mir herüber. »Komm schon«, sagte er. »Trink dein Bier aus. Lass uns zurück zur Party gehen.« Er trank seins in einem Zug aus und stellte das Glas neben das eisverkrustete Fenster, dorthin, wo die Wärme der Neonlichter ein kleines Loch in die Eiskruste geschmolzen hatte. Ich folgte ihm hinaus in die Kälte.
Der Nachthimmel war von vollkommener Schönheit. Auf der Hauptstraße war entfernte Musik zu hören, hupende Autos, die in der Ferne verschwanden, vereinzeltes Gelächter.
»Ich glaube, ich kann die Mühle noch ungefähr ein Jahr über Wasser halten. Dann geht sie unter«, sagte Kip. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Er sah mich an, nicht traurig, sondern entschieden, und ich verstand.
»Wie sich herausgestellt hat, habe ich mich doch ein wenig überhoben.« Er blies seinen dampfenden Atem in die Luft und zuckte mit den Schultern. »Ich bitte dich nicht um deine Hilfe. Es ist nicht das erste Mal, dass diese verdammte Mühle vor die Hunde geht, und es wird auch nicht das letzte Mal sein.«
Ich ging neben ihm her, während mein verschwitzter Körper in der kalten Luft abkühlte. Die Musik auf der Party war langsam geworden, und ich stellte mir die Paare vor, wie sie eng aneinanderrückten, sich an den Händen hielten, wie die Frauen ihre Köpfe auf die Schultern ihrer Tanzpartner legten. Ich dachte an Beth und schüttelte den Gedanken dann sofort ab. Seltsam, dass ich in diesem Moment an Beth gedacht hatte und nicht an Chloe.
»Wie viel brauchst du?«, fragte ich.
Er zuckte wieder mit den Schultern. »Scheiße, Lee, ich stecke bis zum Hals drin. Selbst wenn der Umsatz steigen sollte, kann ich die Kreditraten nicht zahlen. Verstehst du? Das Ding zu renovieren war das eine, aber die Einnahmen sind eine ganz andere Sache.« Er trat gegen einen Eisbrocken und wischte mit der Hand durch die Luft. »Vergiss einfach, dass ich was gesagt habe. Du hast bestimmt schon genug Leute, die dich um Geld anhauen. Lass uns einfach zurückgehen und unseren Spaß haben.« Er beschleunigte den Schritt, überholte mich und schüttelte den Giroux-Brüdern die Hände, die draußen vor der Mühle standen und rauchten. Sie nickten mir zu.
Unten im Keller der Mühle drehte sich alles in einem langsamen Tanz. Dort waren Ronny und Lucy, die einander umkreisten wie zwei Planeten, während Lucys großer, fester Bauch sich gegen Ronnys schlanken Körper presste. Ich sah ihnen zu, sah Henry und Beth beim Tanzen zu, sah, wie Felicia zu Kip kam und ihn auf die Tanzfläche zog, sah, wie sich lauter Mauerblümchen von der Wand lösten und sich zum Rest von Little Wing gesellten, aber niemand kam zu mir und es gab keine Bar, zu der ich mich hätte flüchten können, und ich hatte auch kein teures Mobiltelefon, in das ich mein Gesicht hätte versenken können. Es gab nichts als die Lichter der Discokugel, die wunderbar knurrende Stimme von Louis Armstrong und den verzweifelten Wunsch, nicht allein zu sein.
»He«, sagte eine Stimme. »Willst du tanzen?«
Ich schaute auf und sah eine Frau neben mir stehen. Ihr Gesicht war von Sommersprossen übersät. Sie trug ein rosafarbenes Kleid, hatte lange rote Haare und die freien Schultern waren sehr blass.
»Hallo«, sagte ich. »Ich bin Lee.«
»Rachel«, antwortete sie und schüttelte mir die Hand. »Ich bin Lucys Cousine. Aus Milwaukee.«
Ich wies mit dem Finger auf die Braut. »Cousine?«
Sie biss sich auf die Lippen und nickte dann. »Also, willst du jetzt tanzen oder nicht?«
»Klar.«
Sie führte mich auf die Tanzfläche zu meinen Freunden und wir tanzten miteinander und für eine Weile war ich nicht mehr allein. Ich starrte auf Rachels Schultern. Ab und zu warf die Discokugel einen Konfettiregen aus Lichtern auf ihre Haut und das Einzige, was ich in diesem Moment tun wollte, war, diese Sommersprossen zu berühren, jede einzelne von ihnen, für den Rest meines Lebens.
Ich verbrachte die Nacht in ihrem Motel, aber als ich sie morgens auf einen Kaffee und ein paar Pfannkuchen zu mir einlud, lächelte sie nur in einer sehr liebreizenden Weise, küsste mich auf die Stirn und sagte: »Ich werde dann jetzt mal duschen.«
Und so fuhr ich allein nach Hause, durch Little Wing hindurch, durch die stillen sonntäglichen Straßen. Auf dem Parkplatz vor der evangelischen Kirche standen schon ein paar Autos und noch ein paar mehr vor dem Coffee Cup.
Als ich zu Hause ankam, bestellte ich übers Telefon zwei Flugtickets nach Hawaii. Dann schlief ich auf dem Sofa ein, während ich mir ein Kissen gegen die Brust gedrückt hielt. Als ich wieder aufwachte, war es draußen schon wieder dunkel. Und es würde noch sehr lange dauern, bis der Frühling kam.