Nachdem sie Ronny gefunden hatten, ging ich zurück in die Mühle, machte mir Kaffee, setzte mich in mein Büro und schaute aus dem Fenster. Meine Uhr zeigte 4 : 4 4. In weniger als zwölf Stunden sollte seine Hochzeit sein. An dem Morgen meiner eigenen Hochzeit hatte ich mir eine Warmsteinmassage, einen Caffè Latte mit sehr viel Zimt und ein richtig gutes Omelett gegönnt. Ich schüttelte den Kopf.
Seit dem Tag unserer Hochzeit hatte ich mir gewünscht, ich könnte noch mal von vorn anfangen, alles anders machen. Zunächst einmal hätten Felicia und ich über all das geredet, worüber wir schon längst hätten reden sollen, alles, was die ganze Zeit direkt unter der Oberfläche vor sich hin gebrodelt hatte. Kinder, Little Wing, die Mühle, Geld, alles eben. Und dann wünschte ich auch, ich hätte die Paparazzi nicht angerufen. Was hatte mir das gebracht? Klar, ich konnte ein paar Rechnungen bezahlen, aber in der Zwischenzeit hatte sich auch jeder Freund, den ich auf der Welt besaß, entschlossen, mein Unternehmen – mich – für die nächsten acht Monate zu boykottieren. Und das hatte mich wahrscheinlich genauso viel an Einnahmen gekostet, wie ich dafür bekommen hatte, meinen Freund an eine Horde von Klatschreportern zu verkaufen.
Ich stand von meinem Schreibtischstuhl auf und begann, durch die Mühle zu wandern. Es ist ein riesiges Gebäude, das mit Abstand größte in Little Wing. Hier würden wahrscheinlich drei oder vier Kleinstadtkirchen reinpassen, besonders wenn man noch den ganzen Platz in den Getreidesilos und im Keller mitzählt. Es war ein seltsames Gefühl, dort in der Mühle umherzulaufen, mitten in der Nacht, mutterseelenallein, durch diese endlosen Räume.
Das Gebäude hatte zunächst der Agrargenossenschaft von Little Wing gehört, die um das Jahr 1885 gegründet worden war. Mehr konnte ich in den wenigen alten Aufzeichnungen, die es in der Bibliothek noch gab, nicht finden. Es war wohl eine Gruppe von gleichgesinnten norwegischen Farmern gewesen, die darauf aus gewesen waren, ihre Kauf- und Verkaufskraft zu bündeln. Die Genossenschaft bestand bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit gingen die meisten kleinen Farmen bankrott. Die Genossenschaft löste sich auf und ein Typ namens Aintry kaufte das Gebäude, um eine Lagerhalle daraus zu machen. Seine Idee war nicht schlecht, zumindest in der Theorie: Er wollte den Raum in einzelne Speichereinheiten aufteilen, den Leuten etwa vierzig Dollar pro Monat berechnen und sich dann gemütlich zurücklehnen und den Profit einfahren. Das Problem war nur, dass das Gebäude bereits anfing, aus den Fugen zu gehen. Der Keller hatte sich mit Wasser gefüllt, überall waren Ratten und Fledermäuse und in einer kleinen Ortschaft, wo alle Farmer nur relativ kleine Flächen bewirtschaften, ist die Nachfrage nach Lagerraum begrenzt. Die Leute lagern ihre Sachen einfach in ihren eigenen Scheunen oder in den Geräteschuppen oder sogar in ihren Vorgärten. Danach stand die Mühle leer und wartete geduldig auf die Abrissbirne. Oder auf so einen Idioten wie mich.
Ich ging in die alte Lagerhalle, wo früher wohl einmal zahllose Paletten mit Milchpulver oder Getreidesäcken gestanden hatten. Alles war schon für Ronnys Hochzeit vorbereitet. Die Klappstühle waren in säuberlichen Reihen aufgestellt, die alle auf ein Podest in der Mitte ausgerichtet waren. Darauf stand eine kleine Bühne. Ich ging zu ihr hinüber, schaute zurück auf die Stuhlreihen und dachte an meine eigene Hochzeit und an Felicia.
Ich beschloss, zu dem alten Motel zwischen Little Wing und Eau Claire zu fahren, in dem sie untergekommen war. Ich ging nach draußen, stieg in meinen Escalade und wartete, bis der Motor warm wurde. Ich fuhr sehr langsam. Eine Dreiviertelstunde für ein paar Meilen.
Ich klopfte an die Tür, zuerst sehr leise, um sie nicht zu erschrecken, und dann ein bisschen lauter. Sie öffnete die Tür ein paar Zentimeter und ich konnte sehen, dass die Sicherheitskette bis zum Äußersten gespannt war. Sie sah müde aus.
»Hallo«, sagte ich.
Sie schloss die Tür, was mir für einen Augenblick einen Kloß in die Kehle steigen ließ, aber dann öffnete sie sie wieder und ließ mich eintreten.
»Zieh die nassen Sachen aus«, sagte sie.
Ich schlüpfte neben sie ins Bett und sie umschlang mich mit ihrem ganzen Körper. Ich schaute auf den Nachttisch. Öffnete die Schublade und tastete nach der Gideon-Bibel. Jemand musste sie gestohlen haben. Meine Finger berührten nur das kalte Glas eines Aschenbechers. Ich fuhr die glatten, rechteckigen Umrisse nach.
»Lass uns von hier weggehen«, sagte ich. »Von Little Wing.«
»Ich will ein Baby«, sagte sie. »Jemand hat mir den Rat gegeben, dich auszutricksen. Aber das will ich nicht. Mach mir einfach ein Kind und dann lass uns von hier abhauen.«
Ich schaute auf die zerschlissenen Vorhänge des Motelzimmers. Sie waren mit einer Jagdszene bedruckt: Enten, die vor drei Männern mit Gewehren davonflogen, während die leeren Patronenhülsen munter aus den noch rauchenden Kammern purzelten. Und unter dem Bogen, den die Enten in ihrem Flug über den Himmel zogen, Schilfgras und ein sehr friedlich aussehender Sumpf. Die Wände waren vom Zigarettenrauch geschwärzt und der Teppich sah uralt und abgenutzt aus. Über dem Bett hing ein Bild von einem Schiff, das sich durch ein sturmgepeitschtes Meer kämpfte. Ich seufzte und dachte: Eigentlich war’s in Chicago doch gar nicht so übel.
»Morgen früh«, sagte ich und schloss die Augen. »Morgen früh machen wir ein Baby.«
Aber Felicia wollte nicht so lange warten.