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In dem Traum bin ich ein Golden Retriever und die Sonne scheint und es herrscht dieses seltsame weiße Licht, mit diesen überbelichteten Farben, die man sonst nur von Fotos und Filmen aus den Siebzigern kennt. Ich laufe durch das hohe Gras auf meinen Feldern und jemand wirft mir einen alten Baseball zu. Ich kann ihn zwischen meinen Zähnen spüren. Ich weiß nicht, wer der Jemand ist, aber ich nehme an, es ist mein Herrchen. Wir gehen spazieren. Ich bin unendlich glücklich. Ich bin begeistert, dass ich so viele Haare habe, so dickes, wunderschönes Fell. Meine Zunge fühlt sich wie ein heißes, halbgegartes Stück Schinken an. Wir laufen meine Auffahrt hinunter und der Kies ist ganz kühl unter meinen Pfoten. Ich lecke das Wasser aus den Pfützen, scheuche einen Fasan aus seinem Versteck auf. Mein Herrchen bleibt am Briefkasten stehen, aber der ist leer. Nur eine Zeitung ist drin, die er wie ein Spielzeug die Auffahrt hinaufwirft. Ich jage hinterher. Mir wird plötzlich bewusst, dass ich träume, dass ich kein Hund bin, dass sich meine Beine bewegen und dass es in meinem Schlafzimmer irgendein Geräusch gibt. Dass ich in Wahrheit ein Mensch bin, ein Mann namens Leland Sutton.

Das Telefon neben meinem Bett klingelte. Der Radiowecker, der danebenstand, zeigte 3 : 01. Chloe will, dass wir es noch mal mit uns versuchen, dachte ich einen Moment lang. Das muss Chloe sein. Aber sie war es nicht. Es war Lucy und ich merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Es geht um Ronny. Ich rufe andauernd bei ihm an, aber er geht nicht ans Telefon. Ich habe es bestimmt hundert Mal versucht, aber es läutet einfach nur weiter. Ich hab Eddy angerufen und er ist zu Ronnys Wohnung gegangen und hat an die Tür gehämmert und Ronny hat nicht aufgemacht, und da hat Eddy die Tür eingeschlagen und er war nicht da. Er war gar nicht da! Was ist los, Lee? Wo ist Ronny?«

»Ruf die Polizei«, sagte ich so ruhig ich konnte. »Und auch die Highwaypolizei. Ruf jeden an, den du kennst. Sag ihnen, sie sollen zur Mühle kommen. Ich fahre sofort hin.«

Der Schnee reichte fast bis zu den Trittbrettern meines Pick-up-Trucks, aber ich schaltete den Vierradantrieb ein und blieb immer auf der Mitte der Straße. Ich hatte einen ziemlich großen Stapel Holz auf der Ladefläche meines Trucks, um den Rädern Halt zu geben, und das half, auch wenn ich mindestens ein Dutzend Mal ins Schleudern geriet. Endlich sah ich das schwache Leuchten anderer Scheinwerfer und dann die hochaufragenden Türme von Kips Mühle. Auf dem Parkplatz waren schon ungefähr zehn andere Autos und Trucks versammelt und gerade kamen auch noch ein paar Schneemobile dazu.

Kip war schon da und nahm die Sache in die Hand, teilte die Leute in Paare auf und gab ihnen neue Seile, neue Taschenlampen, in denen schon neue Batterien waren, und Leuchtraketen – lauter Sachen, die er wohl gerade aus dem Lager seines Ladens requiriert hatte.

Ich ging zusammen mit Eddy los. Wir liefen zu Fuß in die Nacht hinaus, verbunden mit einem Seil, das wir an unseren Gürteln festgeknotet hatten. Wir riefen immer wieder Ronnys Namen, traten den Schnee auseinander, stachen mit Skistöcken und Wanderstöcken in Schneewehen. Der Nordwind fühlte sich an wie die Zähne einer rostigen alten Säge und immer noch fiel der Schnee, fiel und fiel, während wir uns immer weiter von der Mühle wegbewegten und von dem wenigen Licht, das das Gebäude und die herumstehenden Fahrzeuge spendeten. Ich dachte an Ronny, daran, dass ich meinen Freund verlieren könnte, und diese Möglichkeit schien plötzlich sehr real. Wir liefen weiter, schrien seinen Namen.

...

Nicht lange nachdem Chloe und ich geheiratet hatten, rief Ronny mich an. Er erwischte uns gerade beim Abendessen im Restaurant. Zuerst wollte ich seinen Anruf gar nicht entgegennehmen. Chloe und ich waren damals gerade mal einen Monat verheiratet, aber es fing schon an zu kriseln. An diesem Abend hatten wir jedoch Spaß – redeten, hielten uns an den Händen, tranken Wein. Es war einer von den Abenden, die mir wieder Hoffnung machten. Weshalb ich, als mein Telefon klingelte und ich die vertraute 715er-Vorwahl erkannte, es zunächst fünf Mal klingeln ließ, bevor ich schließlich doch aufstand und meine Serviette auf meinen Stuhl warf. Ich hob einen Finger hoch, sah Chloe an und formte mit dem Mund die Worte Bin gleich wieder da. Dann trat ich auf die Straße hinaus.

»He, Lee, hier ist Ronny. Wie geht’s dir, Kumpel? Wie geht’s Chloe?«

Eine Bar in der Nähe überschwemmte den Bürgersteig mit laut dröhnender Tanzmusik, so dass ich seine Stimme kaum hören konnte. Ich steckte mir einen Finger ins Ohr. »Uns geht’s gut, Kumpel, echt gut. Hör zu, ich kann nicht lang reden, wir essen nämlich gerade. Kann ich dich zurückrufen?«

Es gab eine Pause am anderen Ende und ich wusste, dass ich ihm den Wind aus den Segeln genommen hatte.

Ronny ist wie ich, scheiße noch mal – er hat es immer schon gehasst zu telefonieren, hat es immer vorgezogen, mit den Leuten von Angesicht zu Angesicht zu reden, ihnen dabei in die Augen zu schauen. Er sagt, er kann die Leute dann besser einschätzen.

»Na ja, ich hab gute Neuigkeiten«, fing er dann wieder an. »Hast du ’ne Sekunde, um dir so richtig gute Neuigkeiten anzuhören?«

Ich atmete aus. »Klar hab ich das, Ronny. Gute Neuigkeiten höre ich doch immer gerne. Leg schon los.«

»Ich werde heiraten. Ich werde heiraten, Kumpel. Ist das zu fassen, verdammt noch mal? Dass ich heiraten werde?«

Er lachte und ich konnte Lucys Stimme im Hintergrund hören und ich dachte daran, wie ich meine eigene Verlobung bekanntgegeben hatte, Ronny gegenüber und Henry gegenüber – den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Chloes persönliche Assistentin hatte ihnen die Einladungen mit der Post geschickt. Ich habe sie nie angerufen, wir waren zu beschäftigt, oder so was in der Art, ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber verdammt noch mal, so wie Ronny, so musste man das machen. Ich konnte ihn mir in seiner Wohnung vorstellen, mit Lucy neben sich. Vielleicht hatten sie ja ihre Arme und Beine ineinander verschlungen und trugen beide ein Lächeln im Gesicht, das so breit war wie ein Regenbogen in der Prärie. Ich lehnte mich gegen das Gebäude hinter mir, aber es war ein Fenster und der Gast auf der anderen Seite klopfte ärgerlich gegen die Scheibe. Ich ging ein paar Schritte vor, auf die nächstgelegene Parkuhr zu, und lehnte mich dagegen.

»Ronny«, sagte ich und musste stottern, nicht halb so glücklich, wie ich es hätte sein sollen, weil ich einfach nur fassungslos war, dass er überhaupt jemanden gefunden hatte. »Das ist fantastisch, Mann. Das ist – du lieber Gott, das ist das Allerbeste, was du mir erzählen konntest!« Und erst in diesem Moment wurde mir klar, wie großartig das war. Ich richtete mich auf, spürte, wie ich immer aufgeregter wurde, wie meine Stimme immer lauter wurde. Plötzlich wollte ich meinen Freund einfach nur noch umarmen, richtig fest umarmen, ihn in die Luft heben. »Scheiße, Ronny! Das sind die besten gottverdammten Neuigkeiten, die ich je gehört habe. Ich freue mich wahnsinnig für dich, Kumpel. Echt wahnsinnig.« Ich nickte mir selbst zu.

»Du erinnerst dich doch an Lucy, oder?«, fragte er. »Von deiner Hochzeit? Das erste Mal getroffen hab ich sie auf Kips Junggesellenparty. Weißt du noch?«

»Klar weiß ich das noch, Kumpel. Klar doch. Natürlich. Die wunderschöne Lucy.«

Ich hörte, wie sich die beiden küssten, und dann ihre Stimme im Hintergrund: »Hallo, Lee.«

Und dann war wieder Ronny in der Leitung: »Na ja, ich hätte gern noch was gequatscht, aber ich weiß, dass du nicht so viel Zeit hast. Ich wollte nur sagen«, und hier hielt er inne. Ich konnte hören, wie er nachdachte, nach den richtigen Worten suchte, als wären sie lauter Kleingeld, das ihm auf dem Bürgersteig in alle Richtungen davonrollte – sein gesamtes Vermögen. »Ich wollte dich fragen, ob du wohl mein Trauzeuge sein möchtest. Würdest du das machen? Magst du mein Trauzeuge sein?«

Ein Auto hupte wütend – ein langer, tiefer Ton, der meine ganze Welt auszufüllen schien.

»Lee?«

»Ich bin noch da, Ronny. Natürlich. Aber natürlich werde ich dein Trauzeuge sein. Es wäre mir eine Ehre.«

»Alles klar! Alles klar, Mann. Ich lass dich mal weitermachen. Ich wollt’s dir nur als Erstem sagen. Du bist der Erste, der’s weiß. Scheiße, ich bin wahnsinnig aufgeregt! Ich kann’s kaum erwarten! Mach’s gut, Lee. Und danke. Mach’s gut.«

Er hatte aufgehängt, bevor ich die Gelegenheit bekam, ihm zu sagen, dass ich ihn liebhatte. Er muss aufgehängt haben, weil er dachte, er fiele mir zur Last, mir, seinem sogenannten besten Freund.

Ich ging zurück ins Restaurant. Chloe starrte konzentriert auf ihr iPhone und hatte schon die Rechnung bezahlt. Ich setzte mich und trank mein Weinglas in einem Zug aus. Füllte es nach und trank es wieder aus.

»Ich würde gerne gehen«, sagte sie.

»Ronny wird heiraten.«

»Wer?«

»Ronny. Ronny wird heiraten. Ronny wird verdammt noch mal heiraten.« Ich lachte, trank, schluckte.

»Tatsächlich?«, sagte sie, während sie immer noch auf ihr Telefon starrte. »Das ist ja fantastisch. Wie wundervoll.«

»Lass uns noch etwas Wein bestellen«, sagte ich.

»Okay. Aber Schatz, macht es dir was aus, wenn ich schon mal heimfahre? Ich habe morgen einen wichtigen Brunch. Mit diesem tschechischen Regisseur.«

»Chloe, mein Freund wird heiraten.«

»Weißt du was? Ich bin einfach nur wahnsinnig müde. Okay?« Sie beugte sich zu mir herunter und küsste mich auf die Stirn. Ihre Lippen fühlten sich sehr kalt an. »Ich nehme mir ein Taxi.«

...

Und alles, woran ich denken konnte, während wir uns wie zwei Blinde durch diesen Blizzard kämpften, in der Hoffnung, meinen Freund zu finden, war dieser Abend in New York und wie ich seinen Anruf eigentlich gar nicht entgegennehmen wollte. Wie ich es hatte vermeiden wollen, seine Stimme zu hören.

»Lass uns umkehren«, brüllte Eddy über den Wind hinweg. »Wir sind schon fast eine Stunde unterwegs. Wir sollten mal die anderen kontaktieren. Sie werden ihn doch sicher schon gefunden haben.«

»Verdammt, Eddy. Die werden schon kräftig hupen oder so was, wenn sie ihn finden. Wir müssen unbedingt weiter.«

Er lehnte sich dicht an mein Ohr, so dass ich ihn hören konnte, auch wenn ich sein Gesicht nicht sah. »Hier ist einfach zu viel Schnee, Lee. Wie sollen wir ihn da überhaupt sehen?« Er legte eine Hand auf meine Schulter. Ich schüttelte sie ab. »Hör zu, Lee, irgendwann muss man eben akzeptieren …«, fing er an.

»Nein, Scheiße noch mal, Eddy – wir suchen weiter. Wir trennen uns auf keinen Fall und wir geben nicht auf. Wir gehen jetzt weiter. Wir müssen unbedingt weitersuchen.«

An manchen Stellen reichte uns der Schnee bis zur Hüfte und wenn wir durch Schneewehen wateten, ging er mir sogar bis zum Bauchnabel. Wenn er unter so einer Schneewehe vergraben lag, würden wir ihn niemals finden. Wir riefen seinen Namen, leuchteten mit unseren Taschenlampen durch die Dunkelheit. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, was er angehabt hatte. Das Einzige, was ich noch wusste, war, dass er sich, nachdem er den Smoking anprobiert hatte, wieder diese alten Cowboystiefel angezogen hatte. Und ich dachte an die vielen Gelegenheiten, wo mir aufgefallen war, wie abgetragen die Absätze schon waren und wie affektiert sein Gang aussah, wenn er die Hauptstraße entlanglief, die Füße und Knie immer nach innen gedreht. Daran, wie oft ich ihm schon angeboten hatte, ihm neue Stiefel zu kaufen – egal welche, was auch immer er wollte –, aber er hatte immer abgelehnt und diese alten Stiefel in Schutz genommen. Und dann dachte ich an Lucy – Lucy, die schwanger war und höllische Angst hatte, ihn zu verlieren.

»Er kann unmöglich weit gelaufen sein«, sagte ich. »Wir werden ihn schon finden. Irgendjemand muss ihn finden.«

»Aber klar werden wir das«, sagte Eddy einlenkend und keuchte vor Erschöpfung. »Wir finden ihn. He, Ronny! Ron-ny!«

Wir traten mit den Stiefeln den Schnee auseinander, tasteten uns mit den Händen durch die Nacht und schrien seinen Namen, leuchteten vergeblich mit unseren Taschenlampen umher. Ich konnte mich nicht erinnern, je einen so hartnäckigen Sturm erlebt zu haben.

Wir fanden ihn nicht weit von der Hauptstraße. Er lag auf dem Spielplatz der Schule, nahe genug, dass wir die Schaukeln hören konnten, die im heftigen Wind hin- und herschwangen. Er sang vor sich hin. Deswegen habe ich ihn überhaupt gehört. Eddy und ich folgten dem Klang seiner Stimme. Wir konnten es kaum fassen. Wir hockten uns neben ihm nieder.

»Ihr habt mich gefunden«, murmelte er. »Scheiße, ich glaube, ich bin betrunken.«

»Alles klar, Kumpel. Komm mit, wir werden dich tragen.«

»Habt ihr mich singen gehört? Das war eins von deinen Liedern. Dieses Lied hab ich immer schon gemocht.«

Ich wischte ihm den Schnee aus dem Gesicht. Dann hoben wir ihn hoch. Eddy nahm den einen Arm und ich den anderen und Ronny hing mit gesenktem Kopf zwischen uns.

»Ich kann meine Füße nicht bewegen«, sagte er.

»Tja«, sagte Eddy. »Dann sing uns mal wenigstens was.«

»Alle haben mich allein gelassen«, nuschelte er. »Warum haben mich alle allein gelassen?«

»Wir sind ja jetzt da, Ronny«, sagte ich. »Wir halten dich fest.«

Wir trugen ihn hundert Meter oder weiter, bis endlich die Giroux-Zwillinge unser Rufen hörten und angerannt kamen. Cameron Giroux, mit seinen ein Meter neunzig Körpergröße und seinem ganzen Gewicht von hundertzwanzig Kilo, hob Ronny hoch wie eine Feder und legte ihn sich über die Schultern, als würde er ein krankes Lamm tragen. Dann verschwand er in Richtung der Scheinwerfer unserer geparkten Fahrzeuge und der Lichter des Krankenwagens, der in der Zwischenzeit von Polizeisirenen begleitet eingetroffen war. Wenig später konnten wir das Hupen der Autos und Trucks hören und die Nacht war nicht mehr so unheimlich still.

Wir gingen zurück, immer in Camerons riesige Fußstapfen tretend.