B

Draußen herrschte ein grellweißes Licht, als wäre der Himmel auf die Erde gestürzt. Als ich die Bar betreten hatte, musste ich erst einen Moment stehen bleiben, um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es war keine Musik zu hören, aber in dem uralten Fernseher, der über dem Tresen an der Decke hing, lief eine Quizshow: Alex Trebek, der Quizmaster, machte gerade in Jeopardy drei Nerds in Rollkragenpullis fertig. Die Frau hinterm Tresen ignorierte mein Eintreten vollkommen und murmelte dem Fernseher Antworten zu, die als Fragen formuliert waren. Ich spähte in die dunklen Eingeweide des VFW und bildete mir ein, dort hinten eine Hand mit langen Fingern gesehen zu haben, die mir zuwinkte. Felicia. Ich ging an einer Reihe illegal aufgestellter Spielautomaten vorbei, an den abgewetzten alten Billardtischen und einer Sammlung von Queues, die in einer Ecke standen, und schließlich an der Jukebox, die so uralt war, dass man sie schon fast senil nennen konnte. Sie wiederholte immer wieder dieselben Lieder, wie ein alter Kriegsveteran die Berichte von seinen traumatischen Kampferlebnissen. Felicia saß allein in einer Nische. In der Mitte des Tisches vor ihr standen eine Kanne Bier und zwei Gläser.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Ich wusste wirklich nicht, wen ich sonst hätte anrufen können.« Sie goss Bier in die Gläser, prostete mir halbherzig zu und nahm dann einen kleinen Schluck. Und dann einen sehr viel größeren.

Ich stellte meine Handtasche auf die Sitzbank, zog meinen Mantel aus und setzte mich. Das Bier war eiskalt und der erste Schluck war ziemlich unangenehm; ich hätte viel lieber Kaffee oder Tee getrunken oder sogar einen heißen Kakao, alles, nur nicht dieses kalte, so stark nach Getreide schmeckende Bier. Aber wir waren schließlich im VFW. Und in dieser Bar bestellt niemand, aber auch wirklich niemand Tee. Auf der anderen Seite des Tisches nahm Felicia gerade einen weiteren tiefen Schluck aus ihrem Glas und in den feinen, unsichtbaren Härchen über ihrer Lippe sammelte sich ein wenig Schaum. Sie wischte ihn sofort mit dem Handrücken weg, wie ein kleines Mädchen, das sich seine Triefnase abwischt.

»Kip und ich werden uns trennen«, sagte sie. Die Feststellung hing eine Weile in der Luft, peinlich, hässlich, unfassbar. Sie zuckte mit den Schultern, fing dann an zu weinen und vergrub das Gesicht in den Händen.

Meine erste Reaktion darauf war, gegen die Wand zu meiner Rechten zu sinken, die Wand, auf der sich die Einwohner von Little Wing mit ihren Namen verewigt hatten. Lässt sich denn jetzt jeder scheiden?, dachte ich. Hat denn die ganze Welt ihren gottverdammten Verstand verloren? Aber dann stand ich auf, setzte mich neben Felicia, schob das Bier weg und gab ihr ein Taschentuch. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr tröstend über den Rücken streichen sollte oder nicht, aber dann tat ich es doch, rieb ihr über die Schulterblätter und den Nacken, so ähnlich, wie ich es auch bei meinen eigenen Kindern tat. Felicia schnäuzte sich laut die Nase. Es klang wie ein Nebelhorn auf dem Lake Michigan, an solchen Tagen, an denen man vor lauter Dunst kaum die Hand vor Augen sehen kann. Die Barkeeperin schaute für einen Augenblick hoch, als hätte sie ganz vergessen, dass sie Gäste hatte, und konzentrierte sich dann wieder auf die Show im Fernsehen.

»Er will keine Kinder«, sagte Felicia. »Will jetzt keine und hat auch nie welche gewollt. Ich habe keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Scheiße, ich weiß nicht, was ich mir bloß dabei gedacht habe. Ihn zu heiraten. In dieses Kaff zu ziehen.« Sie schaute auf und hob resignierend ihre Handflächen. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen, es ist nicht deine Schuld. Ich bin einfach nur – ich bin so wahnsinnig wütend. Seit ich hierhergezogen bin, ist mein Leben ein einziger Scheißhaufen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Sorge – ich nehm’s nicht persönlich.« Ich griff nach meinem Glas – das ohne Lippenstift – und nahm einen tiefen Schluck. Das Bier wurde allmählich wärmer; es schmeckte jetzt besser, etwas milder. Ich schaute zum Tresen. »Warte mal ’ne Sekunde, okay? Ich bin gleich wieder da.« Ich schlüpfte aus der Nische und ging zurück in Richtung der Fernsehstimmen.

Ich lehnte mich an den Tresen. Die Barkeeperin saß auf einem Hocker, hatte ihre dicken Arme verschränkt und sagte zum Fernseher: »Wer ist Bart Starr?«

»Entschuldigung«, sagte ich, »ich würde gerne was bestellen.«

Die Frau hinterm Tresen hob einen Finger in die Luft. »Wer ist Vince Lombardi?«

»Hallo?«, sagte ich.

»Immer langsam mit den jungen Pferden, Schätzchen. Heute ist endlich mal ’ne Kategorie dran, wo ich mich auskenne.« Sie tippte mit einem Finger gegen ihre Unterlippe und lächelte dann triumphierend. »Wer ist Brett Favre!«

»Entschuldigung!«

Sie drehte sich vom Fernseher weg und sagte: »Wenn ich mich überhaupt irgendwo auskenne, dann bei den Green Bay Packers. Also. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich hätte gern zwei Buttery Nipples.«

Die Barkeeperin, die aussah, als wäre sie auf dem Sattel einer Harley-Davidson Hunderttausende von Meilen über die abgelegensten Landstraßen gefahren, schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an und sagte: »Herzchen, habe ich Sie gerade richtig verstanden?« Sie lehnte sich gegen das Regal an der Rückwand. Die darin liegenden Chipstüten machten ein Geräusch, als wäre ihr Inhalt gerade zu feinstem Pulver zermahlen worden. Ebenfalls im Regal lagen Stapel von Tüten mit Cheez Doodles, frittierten Schweineschwarten und Erdnüssen. Und daneben standen zwei monströse Glasbehälter, einer mit eingelegten Eiern und der andere mit gepökelten Schweinefüßen. Die Gläser waren von einer dicken Staubschicht überzogen und sahen aus, als hätte man sie seit Jahrzehnten nicht angerührt. Es war auch nicht schwer zu verstehen, warum. Die Barkeeperin verschränkte wieder ihre Arme, spitzte die Lippen und legte den Kopf schief. »Würden Sie mir vielleicht auch verraten, wie zum Teufel ich so’n Ding machen soll?«

»Ein halbes Glas Karamellschnaps, dann einen Schuss Irish Cream und noch ein bisschen Midori-Likör, glaube ich.« Ich habe diesen Cocktail auf der Uni immer gern getrunken und auch später, in dieser Brathähnchenbar, in der ich gekellnert habe. Ich schaute nach draußen. Es war kurz nach zwölf an einem Montag. Die Kinder waren in der Schule und Henry zu Hause. Als ich das Haus verließ, lag er gerade auf dem Sofa und las ein Buch über die Lewis-und-Clark-Expedition. Henry kann sich um die Kinder kümmern, dachte ich. Draußen schien es bereits dunkler zu werden. Vor drei Wochen war Wintersonnenwende gewesen, so dass die Tage jetzt wieder länger wurden. Trotzdem fühlte es sich an wie in Sibirien, so als lebten wir in irgendeinem lappländischen Provinznest, wo sich alle Nase lang jemand erhängte. »Ach, was soll’s, machen Sie einfach drei. Sie sollten auch einen davon trinken. Ich lade Sie ein.« Ich streckte meine Hand über den Tresen. »Ich heiße Beth.«

Die Barkeeperin machte einen Schritt vor und schüttelte meine Hand. »Joyce.« Sie stellte drei Cocktailgläser auf den Tresen. »Ich weiß, wer Sie sind, Mrs Brown. Sie sind Henrys Frau, stimmt’s? Sie kommen zwar nicht oft hierher und ich komme nicht oft hier raus, aber das heißt nicht, dass ich nicht weiß, was da draußen in der Welt so vor sich geht. Ich kenne so ungefähr jeden hier – oder weiß jedenfalls, wer wer ist.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Joyce.« Ein wenig beschämt erinnerte ich mich plötzlich, dass Joyce früher in unserer Grundschule arbeitete. Sie kochte das Essen, das wir damals mittags bekamen, und tat es vielleicht heute immer noch für meine Kinder. Sie war alt geworden. Der Zigarettenrauch und Alkohol hatten ihre Haut grau und ihre Finger gelb werden lassen. Sie sah ziemlich heruntergekommen aus.

»Also, was, sagten Sie, ist jetzt in diesen –«, und hier hielt Joyce einen Moment inne und schaute mich mit einem halben Grinsen an, »Buttery Nipples?«

»Karamellschnaps, Irish Cream und Midori-Likör. Aber ich glaube, Sie können zur Not auch Zimtschnaps nehmen. Ich weiß es nicht mehr so genau.« Ich hatte schon seit Jahren keinen mehr davon getrunken. Aber plötzlich war es mir wieder eingefallen, das perfekte Heilmittel für einen zutiefst deprimierenden Nachmittag.

Joyce nickte, griff sich ein paar Flaschen und goss von jeder etwas in die Gläser. »Also, was ich bei so ’ner Gelegenheit immer vorschlage, ist, einen kleinen Geschmackstest zu machen. Wie wär’s? Sie schmeißen diese Runde und ich die nächste. Dabei verfeinern wir sozusagen das Rezept. Und wenn wir’s dann immer noch nicht ganz raushaben, tja, dann glaube ich, hätte Ihre Freundin da drüben auch nichts gegen eine dritte Runde.« Sie stellte die drei Cocktailgläser auf ein Tablett und kam hinter dem Tresen hervor. »Hier, ich bring Ihnen die mal zu Ihrem Tisch. Das wäre doch schrecklich, wenn wir so einen Buttery Nipple auf unseren schönen sauberen Boden hier fallen lassen würden.«

Ich schaute auf meine Winterstiefel. Sie standen auf einem Schutthaufen aus Erdnussschalen, abgebrannten Streichhölzern, Pennys und plattgetretenem Kaugummi. Ich folgte Joyce zu unserer Nische, wo sich Felicia gerade hastig die Tränen aus dem Gesicht wischte. Joyce stellte die Gläser liebevoll auf den Tisch. »Auf ein neues Jahr«, sagte sie. »Das letzte konnte man nämlich echt in die Tonne hauen, Scheiße noch mal.« Felicia gab überrascht ein bellendes Gelächter von sich. Das plötzliche Lächeln auf ihrem Gesicht war ermutigend. »Prost«, sagten wir gemeinsam, stießen mit den Gläsern an und leerten sie in einem Rutsch.

»Was war das denn?«, fragte Felicia.

Joyce nickte anerkennend. »Nicht schlecht«, sagte sie. »Wirklich nicht schlecht.«

»Buttery Nipples«, sagte ich mit breitem Grinsen. »Das waren Buttery Nipples.«

Einen Moment lang bereute ich es, die Cocktails bestellt zu haben. Felicia hatte mich schließlich hergebeten, um zu reden, und nicht, um sich zu betrinken. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich die Cocktails auch gar nicht für Felicia bestellt. Sie waren für mich. Felicia und ich waren auf dem besten Wege, Freundinnen zu werden. Oder vielmehr war sie längst meine Freundin geworden. Daran bestand kein Zweifel. Sie gehörte nicht wirklich zu uns – nicht im eigentlichen Sinne –, aber das war nicht ihre Schuld. Und es war mir klargeworden, dass ich diejenige war, der etwas entging, wenn ich sie weiterhin ignorierte. Sie hier im Ort zu haben, jemanden zu haben, den man anrufen konnte, mit dem man joggen gehen konnte – so etwas hatte ich nie gehabt, bevor sie und Kip in die Stadt gezogen waren. Und was auch nicht ganz unwichtig ist: Sie ist eine wirklich nette Frau. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie immer so unglaublich perfekt herausgeputzt ist und dass sie so intelligent und ehrgeizig und schön ist. In einer größeren Stadt hätte ich es mir vielleicht leisten können, sie zu hassen. Aber nicht hier. Nicht in Little Wing. Ich wäre auf jeden Fall wesentlich lieber mit Felicia befreundet als mit diesen Vampirinnen, die draußen am Rand der Stadt in ihren Wohnwagen hausen, Meth kochen oder Benzin schnüffeln oder was sie da sonst noch so alles abziehen. Felicia ist ein interessanter, freundlicher und großzügiger Mensch und sie ist immer absolut aufrichtig und ehrlich mit mir umgegangen.

Und jetzt das. Noch eine Scheidung. Bevor Henry und ich geheiratet haben, zwang uns unsere Kirche, zu einer vorehelichen Beratung zu gehen. Wir machten Kompatibilitätstests, sprachen über Geld und über Kinder. Die Eheberaterin war überrascht zu hören, dass wir uns schon kannten, seit wir Kinder waren.

»Das ist ziemlich ungewöhnlich«, sagte sie. »Heutzutage.«

Es lässt sich nicht leugnen: Die Hälfte aller Ehen wird wieder geschieden. Aber es ist doch nicht so, als ginge man durchs Kirchenschiff nach vorn und dort würde einen der Pastor oder Priester dann fragen: Und, was darf’s sein? Kopf oder Zahl? Lee und Chloe und jetzt Kip und Felicia. Und seit Lee den Verstand verloren hatte und unbedingt ausplappern musste, was vor fast zehn Jahren passiert ist, war Henry so wütend auf mich, wie er es noch nie zuvor gewesen war. Zusammengenommen war das alles fast mehr, als ich ertragen konnte. Und so saßen wir noch lange schweigend da, nachdem wir unsere Cocktails getrunken hatten, Felicia und ich, im Halbdunkel dieses alten Ziegelbaus, des VFW-Postens 66.

Ich konnte es Henry nicht verdenken. Es war ein ziemlich übles Geheimnis gewesen. An jenem Tag, als Lee zurück nach Little Wing gekommen war, hätte ihn Henry eigentlich zum Essen mit zu uns bringen sollen. Aber als ich durch die Haustür zu Henrys Pick-up schaute, saß er einfach nur da, hinterm Steuer, mit laufendem Motor, mit diesem Blick in den Augen, als wäre das ganze Licht, mit dem sie sonst erfüllt waren, plötzlich ausgegangen. Vielleicht hätte ich ahnen müssen, was los war, aber das tat ich nicht. Ich rief den Kindern zu, sie sollten den Tisch decken, und das taten sie auch sofort. Sie waren ganz aufgeregt, Lee wiederzusehen, wieder in seiner Nähe zu sein. Ich zog einen Pullover an und ging nach draußen, um zu schauen, was mit Henry los war. Er bemerkte mich erst, als ich direkt neben der Fahrertür stand. Ich musste sogar erst an die Scheibe klopfen. Dann endlich drehte er den Kopf und starrte mich an. Er hatte Tränen in den Augen.

»Was ist los?«, fragte ich.

Er drehte sich von mir weg.

»Jetzt kurbel doch mal das Fenster runter. Ist alles okay? Geht es Lee gut?«

Aber er kurbelte das Fenster nicht herunter. Er saß einfach nur da. Seine Hände lagen auf dem Lenkrad, wie bei einem kleinen Jungen, der so tut, als würde er einen Lastwagen fahren.

Ich ging um das Fahrzeug herum, stieg ein und rutschte auf der Sitzbank zu ihm heran. Er vermied es, mich anzusehen. Also griff ich mir sein Gesicht und drehte es zu mir.

»Lass deine Finger von mir«, bellte er. »Fass mich nicht an!«

Ich rückte von ihm ab. Noch nie hatte Henry so mit mir gesprochen. Er hatte noch nie ein lautes Wort zu mir gesagt. Noch nie.

Er schüttelte den Kopf, so wie er es manchmal tat, wenn eine Rechnung mit der Post kam, und ich wusste, dass er gerade dachte: Wo zum Teufel ist das denn jetzt hergekommen? Wie soll ich denn das jetzt noch bezahlen?

»Henry, komm schon. Komm ins Haus. Die Kinder.«

»Lass mich in Ruhe, okay? Scheiße. Könntest du bitte einfach verschwinden?«

»Baby, sag mir doch bitte, was los ist. Was kann ich tun? Was kann ich tun, um dir zu helfen?«

Er schaltete das Radio ein. Drehte die Lautstärke hoch. Traditionelle Countrymusik. Stimmen, die wie Hyänen klangen, wie Banshees, wie Sirenen. Ich ging ins Haus zurück.

Die Kinder fragten, wo denn Onkel Lee sei, und ich sagte ihnen, er sei krank geworden und dass wir ihn alle bald sehen würden. Und obwohl ich nicht wusste, was Lee zu Henry gesagt hatte, war mir doch klar, dass irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen war. Wir aßen schweigend – die Kinder und ich – und als es Schlafenszeit war, fragten sie mich: »Ist Daddy immer noch da draußen im Wagen? Können wir auch rausgehen?« Und ich sagte: »Nein, euer Daddy denkt nach.« »Hört er da draußen Musik?«, fragten sie. Und ich sagte: »Ja, ich glaube schon. Und jetzt geht nach oben und putzt euch die Zähne.«

Ich beobachtete ihn eine Stunde lang durch die Haustür, aber er bewegte sich kein einziges Mal, ließ den Wagen weiter im Leerlauf. Die Countrymusik war laut genug, dass ich Patsy Clines Stimme erkennen konnte und dann irgendwelchen neueren Kram. Um zehn ging ich die Treppe hoch und kroch ins Bett. Ich hatte das Geschirr zum Einweichen in die Spüle gestellt und für Henry einen Teller mit Lasagne auf dem Tisch stehen lassen, falls er noch was essen wollte.

Irgendwann nach Mitternacht hörte ich, wie sich die Haustür öffnete und wieder schloss und Henry sich die Stiefel auszog. Wie er ins Bad ging, pinkelte und sich die Hände wusch. Ich stellte mir vor, wie er sich im Spiegel betrachtete, sein Gesicht wusch, die Barthaare berührte, die im Lauf des Tages gewachsen waren. Aber er kam nicht ins Bett, obwohl ich wartete und wartete, bis die rote Digitaluhr neben unserem Bett 1 : 01 angab. Dann muss ich wohl eingeschlafen sein.

Um vier Uhr morgens wachte ich wieder auf und tastete in unserem Bett nach ihm, aber er war nicht da. Ich stand auf und ging leise nach unten, so leise, wie ich diese Treppen noch nie hinuntergegangen war. Und da war er. Er lag auf dem Sofa, hatte seine Kleider nicht ausgezogen, sich in eine Decke gewickelt und seinen Kopf auf ein viel zu kleines Sofakissen gebettet. Er schreckte hoch, als ich mich neben ihn setzte, und drehte sich zu mir, um mich anzuschauen. Seine Augen waren glasig und sahen müde aus. Ich berührte seine Stirn, strich über seine Haare. Ich war Zeuge gewesen, wie dieser Mann, mein Ehemann, in Zeitlupe alterte, wie die Jahre seine Schläfen ergrauen und seinen Haaransatz zurückweichen ließen und wie seine Knochen anfingen zu ächzen.

»Komm ins Bett«, sagte ich sanft. »Nun komm schon.«

Er sah mich an, als sei ich eine Fremde. »Diese ganzen Jahre«, sagte er, »hattet ihr beide dieses Geheimnis. All diese Abende, wenn er uns besuchen kam. Mein Freund. Mit den Kindern gespielt hat, mein Essen gegessen hat.« Und dann schaute er von mir weg und wandte den Kopf ab.

Ich fing an zu weinen. Es fühlte sich an, als hätte er mich in den Magen geboxt. Ich bekam keine Luft mehr. Mir brach nicht um meinetwillen das Herz. Sondern wegen Henry. Dieser unendlich anständige, gute Mann – mein Ehemann.

»Henry, Henry, es tut mir so leid, Baby.«

»Du hast ihn gevögelt«, sagte er. »Mehr gibt es nicht zu sagen.« Er machte sich nicht die Mühe zu flüstern. Er sagte diese Worte laut, als wäre es ihm egal, wenn die Kinder sie hörten, als wollte er unwiderruflich klarstellen, dass ich es war, die unsere Ehre beschmutzt hatte.

»Henry –.«

»Was gibt es denn noch zu sagen? Hmm? Und jetzt ist dieser Wichser auch noch davon überzeugt, dass er in dich verliebt ist. Das hat er mir selbst gesagt. Gerade noch sind wir im Begriff hierherzufahren, um zusammen zu Abend zu essen, und im nächsten Augenblick sagt er zu mir: Ich glaube, ich bin in Beth verliebt. Scheiße. Wir wohnen in einem Ort mit tausend Menschen, Beth. Wie lange wird es wohl dauern, bis die Leute anfangen zu reden, he? Bis die Leute im Flüsterton über uns tratschen, wenn ich nur durch den Ort laufe? Scheiße!«

Er schob seine Beine vom Sofa und sie stießen grob gegen meine. Es war nicht gerade ein Tritt, aber es wurde deutlich, dass Henry in diesem Augenblick meinen Körper nicht mit derselben Rücksicht behandelte wie sonst. Er setzte die Füße auf den Boden, senkte den Kopf zwischen die Knie und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Ich kann nicht schlafen«, sagte er. »Jedes Mal, wenn ich die Augen zumache, jedes Mal stelle ich mir von neuem vor, wie du und …« Er stand auf und atmete so laut aus, dass ich dachte, die Kinder würden davon aufwachen. Dann sagte er: »Ich fahr mal was durch die Gegend.«

»Es ist vier Uhr morgens«, protestierte ich. »Komm ins Bett. Bitte. Bitte komm einfach nach oben ins Bett.«

Ich sah ihm zu, wie er seine Stiefel zuschnürte, seine Arme durch die Jackenärmel steckte. Die Schlüssel in seiner Hand klirrten laut.

»Fahr zur Hölle«, sagte er. »Hörst du? Ich liebe dich, aber fahr zur Hölle

Dann knallte er die Tür hinter sich zu und ließ den Motor des Pick-ups an. Die Scheinwerfer leuchteten plötzlich so hell in unser Wohnzimmer hinein, dass ich mich abwenden und mir die Hand vors Gesicht halten musste. Und dann fuhr er die Auffahrt hinunter, bog auf die Landstraße und war weg.

...

»Ich habe ihn bestimmt tausend Mal gefragt, warum er unbedingt hierher zurückkommen wollte«, sagte Felicia. »Er konnte es mir nie wirklich erklären. Er fing dann immer an, über die Mühle zu reden oder über seine Freunde, und ich habe ja versucht, es zu verstehen. Ich habe geglaubt, ich würde es verstehen. Dass er nach Hause zurückkommen und von Menschen umgeben sein wollte, die er kannte. Ich verstehe es ja auch. Aber andererseits frage ich mich – obwohl er es mir nie explizit so gesagt hat –, ob Kip jemals wirklich hier reingepasst hat. Ich meine, damals schon, als ihr alle noch Kinder wart. Und ich bitte dich ja gar nicht, es mir zu erzählen. Ich glaube, ich weiß die Antwort sowieso schon.«

Ich trank noch einen Cocktail und dann einen Schluck Bier. Draußen war das Tageslicht fast vollständig einem nächtlichen Blau gewichen. Vor zwei Stunden hatte ich Henry angerufen und ihn gebeten, die Kinder abzuholen. Es war zwischen uns ein wenig einfacher geworden. Wenn er mit mir sprach, war ein bisschen von dem Eis in seiner Stimme weggetaut. Er hatte sogar angefangen, mich wieder zu berühren und es zuzulassen, dass ich ihn berührte. Wir schliefen wieder miteinander, auch wenn ich in manchen Augenblicken merkte, dass die Art, wie er mich vögelte, nicht mehr nur mit Liebe zu tun hatte. Es war auch Wut darin. Ich konnte das verstehen. Dass es da wahrscheinlich einen Teil von ihm gab, der mich gerne geschlagen und geschüttelt hätte. Aber das würde er nie tun. Das konnte er gar nicht. Henry war ein sanfter, gütiger Mann. So zärtlich zu unseren Kindern. Es gab Zeiten, da wollte ich, dass er explodierte – mich beschimpfte, einen Teller nach mir warf, ein Fenster zerbrach. Aber das konnte er nicht. Niemals. Auch wenn ich glaubte, dass, wenn er es tun würde, wenn er mich mal ein bisschen schubsen würde, die Dinge zwischen uns wieder ein wenig ausgeglichener wären. Stattdessen köchelte es in ihm während der meisten Nächte nur still auf kleiner Flamme vor sich hin und er drehte sich im Bett von mir weg. Ich wusste natürlich, dass seine Augen dann immer weit geöffnet waren, dass er durch die von Eisblumen überzogenen Fenster unseres Schlafzimmers schaute und dem Schnee zusah, der dort draußen fiel. Ich wusste, dass er an den Frühling dachte, daran, wieder zurück auf den Feldern zu sein, an seine Traktoren, an seine Arbeit, daran, nicht in meiner Nähe sein zu müssen. Er verbrachte mehr und mehr Zeit im Melkstand und die Kinder erzählten, sie würden ihn dort manchmal dabei erwischen, wie er sich mit den Kühen unterhielt. Vielleicht hilft ja der Frühling, dachte ich.

»Ich habe immer schon Kinder gewollt«, fuhr Felicia fort. »Ich wollte ein ganzes Haus voller Kinder.« Sie lächelte mich fast herablassend an. »Das hättest du wohl nicht gedacht, was?«

Ich schaute auf meine Hände, auf die zerkratzte Tischplatte, auf die Bläschen in meinem Bier, die langsam aufstiegen und dann verendeten. Ich wusste, dass ich Felicia nicht in die Augen sehen konnte, ohne dass sie ihre Vermutung darin bestätigt gefunden hätte. Ich hob den Kopf. »Nein. Na ja, vielleicht ein bisschen.«

»Dieser Job, den ich da habe, da bin ich einfach so reingerutscht. Ich kam von der Uni, trug bei meinem ersten Bewerbungsgespräch einen Minirock, bekam den Job und hab ihn seitdem nicht wieder gewechselt. Ich musste nie wirklich darüber nachdenken, was ich eigentlich tun wollte. Was mich glücklich machen würde. Ich bin gut in meinem Job. Wirklich verdammt gut. Darum lassen sie mich auch von zu Hause aus arbeiten. Und darum konnte ich auch hier rausziehen, weg von dem Büro in Chicago. Darum telefoniere ich die ganze Zeit und fliege so viel durch die Gegend. Weil die mich nicht verlieren wollen. Und früher mochte ich meinen Job auch, sehr sogar. Aber weißt du was? Ich habe angefangen zu denken: Das hier lenkt mich nur ab. Es ist eine Falle. Denn wenn ich ehrlich zu mir bin, dann ist das, was ich wirklich will, was ich immer schon gewollt habe, Mutter zu sein. Und dann, wenn ich die Hauptstraße entlangging, sah ich immer diese jungen Tussis.« Sie zeigte durch die Tür, ohne hinzuschauen. »Diese halben Kinder, die ihre Kinderwagen vor sich herschieben. Oder im Supermarkt, wie sie hinter ihren Einkaufswagen herschlurfen, in denen ihre Babys sitzen. Und dann bin ich immer ausgerastet. Verstehst du? Warum zum Teufel dürfen die eine Familie haben und ich nicht? Was mache ich hier überhaupt? Wann fängt denn endlich mein Leben an?«

»Es tut mir so leid«, sagte ich. »Ich – das wusste ich nicht.«

Sie atmete tief aus. »Ach, Süße, es ist doch nicht deine Schuld. Er ist schuld daran. Es tut mir leid, dass ich dich mit all dem Scheiß belaste.«

Ich streckte meine Hand aus und sie ergriff sie.

»Es tut mir so leid«, sagte ich noch einmal.

»Es ist nur – mir läuft die Zeit davon, verstehst du?«

»Ich verstehe.«

Sie nahm einen weiteren tiefen Schluck aus ihrem Bierglas. »Herrje. Und jetzt haben wir nur über mich geredet. Ich lade dich in die Bar ein und du musst dir den ganzen Nachmittag mein Gejammere anhören. Pfui. Was ist mit dir? Wie geht es euch so? Wie geht’s den Kindern?«

Ich schaute wieder auf meine Hände.

»Wunderbar«, sagte ich, schaute hoch und nickte. »Allen geht’s wunderbar. Du weißt schon, immer die alte Leier.«

...

Unsere Kinder schienen nichts von der ganzen Sache zu bemerken. Das muss man wohl Henry zugutehalten. Er mag mich zwar gehasst haben, jetzt immer noch hassen, aber er konnte es gut verbergen. Er ging sogar besser mit den Kindern um als jemals zuvor. An den Wochenenden stand er früh auf, buk Pfannkuchen oder Waffeln und sorgte dafür, dass die Kinder sich fertig machten. Und fast noch bevor ich wusste, was geschah, hatte er sie zur Tür hinausgescheucht. Wenn ich mir dann, noch im Schlafanzug und ungewaschen, den Schlaf aus den Augen rieb und fragte: »Wo fahrt ihr denn alle hin?«, antwortete er: »Nach Eau Claire. Ich dachte, wir könnten vielleicht ins Holzfällermuseum gehen. Das haben wir schon lange nicht mehr getan. Vielleicht bei Chicken Unlimited Mittag essen. Uns einen Film anschauen.«

»Äh, kann ich mitkommen?«, fragte ich dann.

»Ach nee«, antwortete er. »Entspann dich. Bleib hier. Schlaf dich aus. Lies was. Wir sind nachmittags wieder zurück.« Und dann schloss er die Tür hinter sich und sie waren weg. Ohne ein Winken, ohne einen Abschiedskuss, nichts. Plötzlich waren da nur noch ein großes leeres Haus und ein Stapel Geschirr in der Spüle.

Das passierte nur zwei, drei Mal, aber es wurde mir klar, dass ich ihn immer mehr verlor, dass ich allmählich die Kontrolle über meine Familie verlor. Also schritt ich zur Tat, als ich eines Morgens in der Woche vor Weihnachten aufwachte und spürte, dass er im Begriff war, unser Bett zu verlassen. »He«, sagte ich, »komm zurück.«

»Nein«, sagte er. »Ich bin wach. Ich wollte gerade runtergehen. Kaffee kochen. Vielleicht mach ich auch ein paar Omeletts.«

Ich stand auf, ging zu ihm, küsste ihn, drückte ihn zurück aufs Bett, küsste seine Schultern, seine Ohren, fuhr mit meinen Fingern durch die Haare auf seiner Brust, an seinem Bauchnabel entlang bis hinunter zu seinem Schwanz. Schlief mit ihm, flüsterte ihm Dinge ins Ohr, die ich nicht erzählen kann, nicht erzählen will, befahl ihm, was er mit mir machen sollte, und dann, als wir fertig waren und keuchend im Bett lagen, während das bleiche Morgenlicht langsam das Zimmer erhellte, da sagte ich es einfach, ergriff meine Chance und sagte es:

»Baby, es tut mir leid. Es tut mir wirklich unendlich leid. Ich hätte es dir erzählen müssen. Ich hätte es dir vor zehn Jahren erzählen müssen. Vor fünf Jahren.«

»Da hast du verdammt recht«, sagte er und stützte sich auf einem Ellbogen ab. »Wie denkst du –«

»Halt den Mund«, sagte ich. »Okay? Halt den Mund. Du läufst hier seit Wochen durch die Gegend und schmollst und das verstehe ich ja auch, aber ich versuche hier, mich zu entschuldigen. Okay? Also halt den Mund, verdammt noch mal, und gib mir die Gelegenheit, mich zu entschuldigen.« Ich holte tief Atem, setzte mich auf und schaute ihn an. »Wir waren damals nicht mal verheiratet. Es ist ein einziges Mal passiert. Ein einziges Mal.«

»Das muss ja eine ziemlich tolle Nacht gewesen sein.«

»Ich liebe ihn nicht. Ich liebe dich. Du bist mein Mann und ich liebe dich.«

Er schüttelte den Kopf. »Der einzige Grund, warum ich nicht die Scheidung eingereicht habe und das auch nicht tun werde, Beth, ist der, dass es tatsächlich passiert ist, bevor wir geheiratet haben. Das ist mir schon klar.« Er sog den Atem ein. »Aber es ist ein ziemlich monströses, hässliches Geheimnis, das du da mit dir rumgeschleppt hast. Verdammt! Er ist mein bester Freund. War mein bester Freund. Okay? Ausgerechnet er. Verdammte Scheiße.«

»Ich habe einen Fehler gemacht. Verstehst du?«

Um ehrlich zu sein, vor dem Moment, als ich Henry allein in seinem Wagen sitzen sah, draußen im Dunkeln auf unserer Auffahrt, war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich diese Nacht mit Leland tatsächlich für einen Fehler hielt. Aber jetzt tat ich es. Und wie könnte ich auch nicht? Würde ich Henry für ihn aufgeben, meine Kinder aufgeben, das, was sie in mir sahen, was sie in Zukunft in mir sehen würden? Mein Haus, mein Leben? Alles nur, weil ich einsam gewesen bin. Und neugierig.

»Wenn ich jetzt zurückblicke, bereue ich zutiefst, was ich getan habe«, sagte ich. »Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich es getan habe – dass ich es vor dir geheim gehalten habe.«

»Ich meine, liebst du ihn denn? Willst du mit ihm zusammen sein? Denn offen gesagt möchte ich nicht eine Sekunde länger mit dir verheiratet sein, wenn du mich nicht mehr liebst. Und ich meine, wirklich liebst, mit allem Drum und Dran. Verstehst du, was ich sagen will?«

Ich versetzte ihm einen Fausthieb. Keinen leichten Schlag, nein, einen richtigen Hieb, mitten auf seinen Oberarm. Und dann lächelte ich. Ich weiß auch nicht warum – ich konnte nicht anders. Erst lächelte ich nur mit den Lippen und dann auch mit den Zähnen. Und dann sagte ich: »Ich liebe dich.« Ich schlug ihn wieder auf den Arm, nur dieses Mal noch fester. »Ich habe dich immer geliebt, Henry Brown.« Ich drehte mich und versuchte, ihn noch einmal zu schlagen, aber dieses Mal fing er meine Faust auf und rollte sich auf mich. Sein Körper lag schwer auf mir, zwischen meinen sich windenden Beinen, die sich jetzt eng um ihn schlangen. Ich biss ihn in die Unterlippe.

»Ich liebe dich so sehr«, sagte er. »Verstehst du das denn nicht?«

Und dann vögelte er mich und es fühlte sich an, als würden wir versuchen, noch ein Kind zu machen.

...

Felicia war von der Toilette zurückgekehrt und setzte sich wieder neben mich in unsere Nische.

»Es wäre schon schön, wenn es in diesem Ort so etwas wie ein ganz normales Café gäbe, wo ganz normale Leute hingehen könnten, wenn sie sich darüber unterhalten wollen, wie absolut im Arsch ihr Leben ist«, sagte sie. »Ist das denn zu viel verlangt?«

»Du brauchst einen Unfall. Lass es einfach aus Versehen passieren«, sagte ich.

»Was?«

»Schau, dass euch ein Unfall passiert. Nimmst du die Pille?«

»Seit kurzem nicht mehr. Aber das weiß er nicht.«

»Gut. Versöhn dich mit ihm. Fahr mit ihm in Urlaub. Irgendwohin, wo’s warm ist. Wo es einen Strand gibt. Und dann trinkt ihr zu viel und habt Spaß. Entspannt euch und denkt nicht weiter drüber nach. Ihr wärt nicht das erste Paar, dem ganz aus Versehen der Puck zwischen den Füßen des Torwarts hindurchrutscht.«

»Aber du schlägst da mehr oder minder vor, dass ich den Torwart austrickse, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck Bier.

»Ist das dein Ernst?« Ihre Augen wurden ganz groß. Sie trank ihr Bier aus.

»Liebst du ihn denn noch?«

Felicia zuckte mit den Schultern. »Ja. Sicher. Natürlich liebe ich ihn noch.«

»Hat er dich jemals betrogen, Drogen genommen, ein Vermögen verspielt, dich geschlagen?«

»Nein.«

»Also sind Kinder das Einzige, was du willst und nicht haben kannst?«

»Aber ich will ihn doch nicht austricksen und ein Kind mit ihm haben, nur damit er dann durchdreht und uns im Stich lässt. Das ist nicht gerade eine gute Basis für die Gründung einer Familie. Betrug. Ich weiß nicht, Beth. Im Ernst? Einfach ein Kind machen und dann darüber reden, wenn’s zu spät ist? Als würde ich mir ohne seine Erlaubnis einen neuen Lexus kaufen? Ich meine, ich bin Feministin. Ich habe einen Bachelor in Frauenforschung.«

»Und was ist dein Alternativplan?«

Felicia sah mich an und verschränkte die Arme.

»Jetzt mal im Ernst. Was hast du vor? Ins Internet gehen und dir da eine Bekanntschaft suchen? Zurück nach Chicago ziehen und ein paar Typen aus dem Büro ausprobieren? Ich weiß ja nicht, wie das so funktioniert. Und wer ist heutzutage überhaupt noch übrig? Wir haben schon mehr als dreißig Jahre auf dem Buckel. Denkst du denn, ein neuer Kerl wäre sofort bereit, sich Hals über Kopf in diese Sache reinzustürzen? Mal eben so spontan eine Familie zu gründen? Vielleicht. Oder du gibst dir noch ein wenig mehr Mühe bei dem, was du hast. Ihr könntet hier wegziehen. Zurück nach Chicago. Ein Kind haben. Vergessen, dass diese ganze Sache hier je passiert ist. Vielleicht war es ja einfach nur so eine Art … misslungener Urlaub. Verstehst du? Ihr wolltet eigentlich nur ’ne Woche bleiben und irgendwie sind dann ein paar Jahre draus geworden. Mach dir keine Sorgen wegen der Mühle. Sieh’s mal so: Vielleicht ist es sogar am besten, die ganze Sache vor die Hunde gehen zu lassen. Ganz von vorne anzufangen.«

Meine Stimme bebte und auch meine Hände zitterten leicht. Ich nippte an meinem Bier und trank es dann in großen Zügen aus. Ich hatte gerade meiner einzigen Freundin den Rat gegeben, hier wegzuziehen, und es klang fast so, als hätte ich mir diesen Rat damit selbst gegeben.

»Ich weiß nicht«, sagte Felicia. »Ich muss darüber nachdenken.« Sie senkte den Blick.

Wir saßen da und schwiegen. Die ersten alten Männer betraten die Bar. Es war Montag Abend, sie kamen, um sich das Footballspiel anzuschauen. Die Packers gegen die Vikings. Es würde hoch hergehen in der Bar, ein wilder Rausch aus Grün und Gold.

»Lass uns hier verschwinden«, sagte ich.

Felicia rutschte von der Bank, stand auf und schwankte. »Ich glaube nicht, dass ich noch fahren kann«, sagte sie.

»Ich rufe Henry an«, sagte ich.

»Wie spät ist es?«

Meine Uhr ließ sich in dem Dämmerlicht nur schwer erkennen, aber es schien vier oder fünf zu sein.

»Es kommt mir so vor, als würden wir jedes Mal, wenn wir uns treffen, viel zu viel trinken«, sagte Felicia.