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Damals, als wir Teenager waren, nahm Henry mich einmal mit auf die Spitze der Futtermühle. Es war ein lauer Sommerabend und nicht einmal der leiseste Lufthauch war zu spüren. Kurz nachdem meine Eltern eingeschlafen waren, stahl ich mich aus dem Haus. Henry und ich gingen zusammen in die Stadt und hielten uns dabei an den Händen. Wir hätten von jedem gesehen werden können, aber außer uns war keine Menschenseele unterwegs, keiner schaute uns zu. Nur ein alter Witwer, der auf der Veranda vor seinem Haus in einer Hollywoodschaukel saß, sich vor- und zurückschwang und uns in der Dunkelheit zuwinkte.

Oben auf der Spitze des Silos wehte aber eine leichte Brise und weit in der Ferne tobte ein Gewitter, in dem Himmel und Erde miteinander verschmolzen. Wir zogen unsere Schuhe aus und ließen unsere Füße über dem Abgrund baumeln. Dann küssten wir uns, und ich merkte, dass meine Oberlippe ganz nassgeschwitzt war, aber Henry schien das nichts auszumachen. Er berührte meine Ohren, meinen Hals. Er sagte mir, dass er mich liebe. Henry. Mit achtzehn Jahren.

Das alles war es wert, jeder einzelne Moment. Jeder Streit, all die Jahre kindischen Herumexperimentierens, der gelegentliche Schmerz und Kummer, das immer leere Konto, all die gebrauchten, uralten Wagen, mit denen wir durch die Gegend fuhren. So lange mit einem anderen Menschen gelebt zu haben, mit einer anderen Person, mit diesem Mann, und gesehen zu haben, wie er sich verändert, wie er innerlich wächst. Zu sehen, wie er ein noch anständigerer und geduldigerer, ein noch stärkerer und fähigerer Mensch wird – zu sehen, wie sehr er unsere Kinder liebt, wie er sich mit ihnen begeistert auf der Erde wälzt oder sie in aller Öffentlichkeit küsst, ohne dass es ihm irgendwie peinlich wäre. Abends seine Stimme zu hören, wie er ihnen vorliest oder ihnen von seinem eigenen Vater erzählt, wie er war, als er noch lebte, oder wie ich als Mädchen war oder als Teenager oder als junge Frau. Zu hören, wie er ihnen erklärt, warum diese Gegend, in der wir leben, etwas ganz Besonderes ist. Wie er für die Bäume betet und den Schlamm und den Regen und für die Menschen auf dieser Erde, die nicht so viel Glück haben wie wir. Seiner Stimme in der Kirche zu lauschen, wie er ein Kirchenlied singt. Zu hören, wie er unsere Kinder auffordert, diejenigen unter ihren Schulkameraden in Schutz zu nehmen, die von anderen tyrannisiert werden. Zu sehen, wie er mitten auf der Straße den Wagen anhält, um eine Schnappschildkröte vom Asphalt zu retten und zu einem nahegelegenen Teich zu tragen. Ihn auf einem unserer Traktoren sitzen zu sehen, im letzten orangeroten Licht des Tages.

...

Während Eleanores Geburt hatte ich eine Uterusruptur. Es blutete fürchterlich, aber der Arzt sagte, es sei alles ganz normal, es wäre nur ein kleiner Riss. Doch Henry beharrte darauf, dass etwas nicht stimmte, und sagte dem Arzt, er werde ihm das Gesicht zu Brei schlagen, wenn er nicht jetzt sofort, genau in dieser verdammten Sekunde etwas dagegen unternahm. Sie mussten zwei Krankenpfleger rufen, um ihn zu bändigen. Und sogar ich sagte zu ihm: »Henry, es ist okay, wenn nur das Baby gesund ist, ist doch alles gut, mach dir doch bitte keine Sorgen. Geh in den Flur und hol dir ein Glas Wasser.«

Ich erinnere mich noch genau daran, wie der Arzt sagte: »Hören Sie auf Ihre Frau, Mister. Hören Sie auf sie, bevor ich noch die Polizei rufen muss.«

Die meisten Männer – die meisten Menschen – hätten in einer solchen Situation einen Rückzieher gemacht, hätten sich der Autorität des Arztes gebeugt, wären den zwei Krankenpflegern gefolgt, die ihn an den Armen gepackt hielten, oder hätten zumindest auf meine ruhige, gefasste Stimme gehört. Aber nicht Henry.

Ich weiß noch, wie seine Stimme klang, als er sagte: »Hören Sie, Herr Doktor, da stimmt was nicht mit meiner Frau, und wenn Sie das jetzt nicht sofort in Ordnung bringen, dann werde ich Sie nicht nur verklagen, sondern Ihnen jeden Knochen einzeln brechen.«

Schließlich nahm eine der Krankenschwestern, eine ältere Frau, die Sache genauer unter die Lupe und da bemerkte sie, wie heftig die Blutung war und wie bleich mein Gesicht wurde. Sie übernahm das Kommando und rief den Arzt zurück. Zusammen stoppten sie die Blutung und vielleicht hätten sie das Problem auch ohne Henry entdeckt, aber ich hätte bestimmt sehr viel mehr Blut verloren, wenn er sich nicht beschwert hätte, und es wäre alles sehr viel komplizierter geworden. Er hatte von Anfang an recht gehabt.

Ein paar Tage später, als wir wieder zu Hause waren und ich im Bett lag und gerade Eleanore stillte, da fragte ich ihn: »Woher wusstest du eigentlich, dass da was nicht stimmte? Ich habe es doch nicht einmal selbst gemerkt. Ich dachte, ich hätte nur eine Bauchmuskelzerrung oder sonst irgendeine Verletzung da unten. Woher hast du’s gewusst?«

Er saß da, direkt neben uns, und sagte: »Ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich habe es eben einfach gewusst. Es kam mir irgendwie so vor, als würde etwas nicht stimmen.«

Was er auch hätte sagen können: Ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst.

Ich glaube, das ist es, was eine Ehe ausmacht.