Wir alle luden ihn zu unseren Hochzeiten ein. Er war berühmt. Die Einladungen schickten wir an das Hochhaus seiner Plattenfirma in New York, damit man dort die festlichen, mit Goldrand versehenen Umschläge an ihn weiterleiten konnte, während er irgendwo auf Tour war – in Beirut, Helsinki, Tokio. Orte, die über unseren Horizont oder unsere begrenzten finanziellen Mittel weit hinausgingen. Er schickte Geschenke in verbeulten Pappkartons, die mit ausländischen Briefmarken übersät waren; feine Schals oder Parfüm als Geburtstagspräsente für unsere Frauen, kleine zierliche Spielsachen oder Schmuckanhänger zur Geburt unserer Kinder: Rasseln aus Johannesburg, hölzerne Matrjoschkas aus Moskau, winzige Seidenpantoffeln aus Taipeh. Manchmal rief er uns an. Dann rauschte es in der Leitung oder es gab ein Echo, und im Hintergrund konnte man das Kichern junger Frauen hören. Seine Stimme klang nie so glücklich, wie wir erwartet hatten.
Monate vergingen, bevor wir ihn wieder zu Gesicht bekamen. Dann kam er heim, bärtig, abgehärmt und mit müden Augen, aber irgendwie auch glücklich und erleichtert. Wir konnten erkennen, dass er froh war, uns zu sehen und wieder zurück in unserer Mitte zu sein. Wir gaben ihm immer Zeit, sich ein wenig zu erholen, bevor wir unser gemeinsames Leben wieder aufnahmen. Wir wussten, dass er erst einmal runterkommen und seine Balance wiederfinden musste. Wir ließen ihn schlafen und schlafen. Unsere Frauen brachten ihm Auflauf oder Lasagne, Schüsseln mit Salat oder frisch gebackene Pasteten.
Er liebte es, mit dem Traktor auf seinem weitläufigen Anwesen herumzufahren. Er genoss es wohl, das heiße Tageslicht, die Sonne und die frische Luft auf seinem bleichen Gesicht zu spüren. Das schleppend langsame Tempo des alten John-Deere-Traktors, der so zuverlässig und geduldig war. Die Erde, wie sie sich unter ihm abspulte. Es wurde natürlich nichts angebaut auf seinem Land. Aber er fuhr mit dem Traktor durch die brachliegenden Felder voller Präriegras und wilder Blumen, mit einer Zigarette oder einem Joint zwischen den Lippen. Er lächelte immer, wenn er auf diesem Traktor saß, mit seinen fliegenden hellblonden Haaren, die im Sonnenlicht so aussahen wie der Flaum einer Pusteblume.
Für seine Bühnenauftritte hatte er sich einen Künstlernamen zugelegt, aber den benutzten wir nie. Wir nannten ihn Leland, oder einfach nur Lee, denn so hieß er eigentlich. Er wohnte in einem alten Schulhaus, abseits von allem, abseits unseres kleinen Ortes Little Wing, ungefähr fünf Meilen weit draußen auf dem Land. Auf seinem Briefkasten stand L. SUTTON. In der kleinen uralten Turnhalle hatte er sich ein Aufnahmestudio eingerichtet. Er hatte die Wände mit Schaumstoff verkleidet und den Boden mit dicken Teppichen ausgelegt. An den Wänden hingen Platinschallplatten und Fotos, die ihn mit berühmten Schauspielerinnen und Schauspielern, Politikern, Chefköchen und Schriftstellern zeigten. Die Kiesauffahrt zu seinem Haus war lang und voller Schlaglöcher, aber auch das schreckte einige der jungen Frauen nicht ab, die ihn dort ausfindig machten. Sie kamen von überall auf der Welt. Und sie waren immer wunderschön.
Lees Erfolg hatte uns nicht überrascht. Er war seiner Musik immer treu geblieben. Während wir anderen auf der Universität oder in der Army waren oder auf unseren Familienfarmen hängenblieben, hatte er sich in einem verfallenen Hühnerstall verschanzt und in der allumfassenden Stille des tiefsten Winters auf seiner ramponierten Gitarre gespielt. Er sang mit einer gespenstischen Falsettstimme, die einen manchmal, am Lagerfeuer, im unsicheren Schatten der rötlich gelben Flammen und des weiß-schwarzen Rauchs zum Weinen brachte. Er war der Beste von uns allen.
Er schrieb Lieder über unseren Flecken Erde: die allgegenwärtigen Maisfelder, die bewirtschafteten Wälder, die buckeligen Hügel und die eingekerbten Täler. Die schneidende Kälte, die viel zu kurzen Tage, den Schnee, den Schnee, den Schnee. Seine Lieder waren unsere Hymnen – sie waren unsere Sprachrohre, unsere Mikrofone, unsere Jukebox-Gedichte. Wir vergötterten ihn; unsere Frauen vergötterten ihn. Wir kannten jedes Wort von jedem seiner Lieder und manchmal kamen wir sogar selbst darin vor.
...
Kip würde im Oktober heiraten, in einer Scheune, die er extra zu diesem Zweck renoviert hatte. Die Scheune gehörte zu einer Pferdefarm; die Konturen des Landes waren von Stacheldrahtzäunen bestimmt. Direkt neben der Scheune lag ein kleiner ländlicher Friedhof, auf dem man mühelos die flechtenverkrusteten Grabsteine zählen konnte, um in Erfahrung zu bringen, wie viele Verstorbene unter dem schweren grünen Rasen ruhten. Wie bei einer Art Volkszählung. Alle waren zu der Hochzeit eingeladen. Lee hatte sogar eine Etappe seiner Australientournee verkürzt, um da sein zu können, und das obwohl sich Kip und Lee – wie wir alle fanden – unter unseren Freunden am wenigsten nahestanden. Soweit ich wusste, hatte Kip sich nicht ein einziges von Lees Alben gekauft. Man sah ihn nie durch den Ort fahren, ohne dass er nicht ein Bluetooth-Gerät in seinem Ohr klemmen hatte und seinen Mund hektisch bewegte – so als befände er sich immer noch auf dem Handelsparkett der Börse.
Kip war gerade erst nach Wisconsin zurückgekehrt, nachdem er in Chicago neun Jahre mit Rohstoffen gehandelt hatte. Jahrelang, jahrzehntelang – im Grunde genommen unser ganzes Leben – hatten wir in den Mittelwellenradios unserer Pick-up-Trucks den Landwirtschaftsberichten gelauscht. Manchmal konnte man während dieser Sendungen sogar Kip selbst hören, wie er aus seinem Büro unten in Chicago mit wohlvertrauter, selbstsicherer Stimme die Schwankungen in den Zahlenreihen herunterbetete, von denen abhing, ob wir uns Zahnspangen für unsere Kinder, Reisen in den Winterferien oder neue Stiefel leisten konnten. Er teilte uns Dinge mit, die wir nicht genau verstanden, aber dennoch bereits wussten. Unser Leben war in diese Meldungen von Milch-, Mais-, Weizen- und Sojapreisen hineingewoben. Schweinebäuche und Vieh. Weit entfernt von unseren Farmen und Mühlen hatte Kip es zu etwas gebracht, indem er mit den Früchten unserer Arbeit den Markt manipulierte. Wir respektierten ihn trotzdem. Nicht zuletzt deshalb, weil er eine äußerst scharfe Intelligenz besaß. Seine Augen brannten in ihren Höhlen, während er zuhörte, wie wir uns über Saatguthändler, Pestizide, die Düngerpreise, unsere Maschinen und das launische Wetter beschwerten. Er hatte immer einen Farmer-Almanach in der Hosentasche und konnte verstehen, dass wir vom Wetter besessen waren. Wäre er nicht fortgegangen, wäre er vielleicht selbst ein erfolgreicher Farmer geworden. Der Almanach war, wie er mir einmal erzählte, im Prinzip völlig überholt, aber er trug ihn dennoch gerne mit sich herum. »Nostalgie«, erklärte er mir.
Nach seiner Rückkehr kaufte Kip die stillgelegte Futtermühle im Zentrum der Stadt. Sie war das höchste Gebäude im Ort. Ihre sechsstöckigen Getreidesilos hatten sich schon immer über uns aufgetürmt, hatten ihre langen Schatten auf unser Leben geworfen, gleich einer Sonnenuhr, nach der sich unsere Tage richteten. Früher, als wir noch klein waren, hatte in der Anlage viel Betrieb geherrscht. Die Farmer lieferten Mais, um ihn dort zu lagern, bis die durchfahrenden Züge ihn mitnehmen konnten, oder sie kamen, um in großen Mengen Brennstoff, Saatgut oder andere Vorräte zu kaufen. Aber gegen Ende der achtziger Jahre begann es mit der Mühle bergab zu gehen. Der Besitzer hatte versucht, sie zu verkaufen, in einer Zeit, in der niemand kaufen wollte. Nur wenige Monate später fingen die Highschoolschüler an, Steine in die Fenster zu werfen und Graffiti an die Wände der Getreidesilos zu sprühen. Für den Großteil unseres Lebens war die Anlage einfach nur eine düstere Festung neben ein paar rostigen Schienensträngen gewesen, die von Unkraut überwuchert waren: Schwalbenwurz, Geiskraut und Weidenröschen. Der Boden war überall dick verkrustet mit Taubenkot und Fledermausguano und in dem alten Steinfundament stand ein See mit trübem Wasser. In den Silos wimmelte es von Ratten und Mäusen, die das übriggebliebene Korn fraßen. Manchmal brachen wir dort ein und schossen auf sie, mit Kaliber-.22-Gewehren, wobei die kleinen Kugeln nicht selten zu Querschlägern wurden, wenn sie von den mächtigen Wänden abprallten. Wir benutzten Taschenlampen, um die winzigen Knopfaugen der Tiere aufzuspüren. Einmal stahl Ronny eine Leuchtfackel aus dem Kofferraum des Wagens seiner Mutter und ließ sie in die Tiefe des Silos fallen, wo sie in scharf glühendem Rosa die schwefelige Dunkelheit durchschnitt, während wir wild drauflosknallten.
Nach nur zehn Monaten hatte Kip den Großteil der Anlage wiederhergestellt. Er beschäftigte Handwerker aus dem Ort und beaufsichtigte jedes kleinste Detail; er war jeden Morgen der Erste auf der Baustelle und war sich auch nicht zu schade, hier und da selbst einen Hammer zu schwingen oder sich niederzuknien, um den Mörtel glattzustreichen oder was sonst auch immer anfiel. Wir gaben Schätzungen ab, wie viel Geld er in das Gebäude gesteckt hatte: Hunderttausende, zweifellos; vielleicht sogar Millionen.
Im Postamt oder im IGA-Supermarkt redete er ganz aufgeregt über seine Pläne. »So viel Platz«, sagte er dann. »Überlegt euch nur mal, wie viel Platz es da gibt. Wir könnten alles Mögliche damit anfangen. Büros. Leichtindustrie. Restaurants, Pubs, Cafés. Ich möchte auf jeden Fall ein Kaffeehaus. So viel weiß ich schon mal.« Wir bemühten uns, so gut es ging mit ihm mitzuträumen. In unserer Kindheit war die Mühle eine kurze Zeit ein Ort für uns gewesen, an dem unsere Mütter Overalls, dicke Socken und Gummischuhe für uns kauften. Ein Ort, an dem es nach Hundefutter und Maisstaub und neuem Leder und schlechtem Atem und dem billigen Aftershave alter Männer roch. Aber diese Erinnerungen lagen weit zurück.
»Meinst du, die Leute werden in der alten Mühle essen wollen?«, fragten wir ihn.
»Brecht mal aus euren Konventionen aus, Leute«, säuselte er. »Das ist genau die Haltung, die diese Stadt vor die Hunde gebracht hat. Denkt mal in anderen Dimensionen!«
Neben der neuen elektronischen Kasse stand noch die alte Ladenkasse. Auch die hatte Kip gerettet. Er stand mit Vorliebe dort, gegen das alte Gerät gelehnt, und stützte sich mit den Ellbogen auf dessen glänzender Oberfläche ab, während einer seiner Angestellten die neue Kasse bediente. In der Nähe der Kassen hatte er vier Flachbildschirme an die Wand montiert. So konnte er die fernen Börsengeschäfte, die Wetterberichte und politischen Vorgänge in Echtzeit verfolgen, während er sich aus den Mundwinkeln mit seinen Kunden unterhielt, die Augen dabei immer fest auf die Nachrichten gerichtet. Manchmal schaute er nicht einmal in ihre Gesichter. Aber er hatte dafür gesorgt, dass die Mühle wiederauferstand. Alte Männer kamen, parkten ihre rostigen Pick-ups auf der Kiesfläche des Parkplatzes und tranken dünnen Kaffee. Sie lehnten sich gegen ihre Fahrzeuge, deren Motoren immer noch warm waren und mit leisem Knacken abkühlten, unterhielten sich und spuckten braunen Tabaksaft in den Staub und auf die Schottersteine. Sie mochten die neue Geschäftigkeit, die um die Mühle herum entstanden war. Die Lieferwagen, Handelsvertreter, Bauarbeiterteams. Sie mochten es, sich mit uns jungen Farmern zu unterhalten; mit mir und den Giroux-Zwillingen. Wir kamen oft, um uns über Kip lustig zu machen, wie er auf diese brandneuen Plasmabildschirme starrte und sein Bestes gab, um uns zu ignorieren.
Lee hatte sogar einen Song über die alte Mühle geschrieben – vor ihrer Wiederbelebung. Es war diese Version der Mühle, die uns in Erinnerung blieb, diese Version, die uns real erschien.
...
Unser Freund Ronny Taylor war Alkoholiker gewesen. Das Trinken hatte einen üblen Umweg aus seinem Leben gemacht. Einmal war er betrunken auf den Bürgersteig gestürzt, auf der Hauptstraße, draußen vor dem VFW-Posten 66. Er war heftig auf den Kopf gefallen und hatte sich ein paar Zähne ausgeschlagen. In dieser Nacht war er sehr laut und streitlustig gewesen, hatte sich an die Freundinnen und Ehefrauen anderer Männer herangemacht, seine Drinks verschüttet und war zweimal dabei beobachtet worden, wie er in die Gasse hinter der Bar pinkelte, seinen Schwanz fröhlich im Wind baumeln ließ und »Raindrops Keep Fallin’ On My Head« vor sich hin pfiff. Sheriff Bartman hatte keine andere Wahl gehabt, als ihn wegen öffentlicher Trunkenheit festzunehmen, auch wenn er eigentlich gar nichts gegen Ronny hatte und nur erreichen wollte, dass sich der junge Mann an einem sicheren Ort ausnüchterte, statt sich hinters Steuer seines Pick-up-Trucks zu klemmen, um dann später am Abend mit siebzig Meilen pro Stunde gegen irgendeine Eiche zu donnern. Aber der Schaden war natürlich schon angerichtet. Während der Zeit, die Ronny wegen öffentlicher Trunkenheit im Gefängnis lag – die ganze Nacht und auch noch den nächsten Morgen –, blutete es in seinem Gehirn. Als der Sheriff ihn endlich in das Krankenhaus von Eau Claire brachte, wo man ihn einer Notoperation unterzog, war es schon zu spät. Niemand sprach es je laut aus, aber wir fragten uns, ob nicht der ganze Alkohol sein Blut verdünnt und die Blutung dadurch verschlimmert hatte. Danach war Ronny nicht mehr derselbe, nur noch eine verlangsamte Version seiner selbst. Er war vielleicht glücklicher als vorher, aber auch weniger bewusst. Ein Fremder, der ihm das erste Mal begegnete, würde vielleicht denken, Ronny wäre einfach nur ein wenig begriffsstutzig, möglicherweise würde er ihn auch für ganz normal halten. Aber was auch immer er dachte, er würde nie im Leben darauf kommen, wer der junge Mann gewesen war, der vorher diesen Körper bewohnt hatte. Er konnte seine Sätze nicht mehr so schnell formulieren und oft wiederholte er sich auch. Aber das hieß nicht, dass er dumm gewesen wäre, oder behindert, obwohl ich mich manchmal frage, ob wir ihn nicht genau so behandelten.
Während seines Entzugs verbrachte Ronny mehrere Monate im Krankenhaus und oft musste er im Bett fixiert werden. Wir kamen ihn besuchen, um seine Hand zu halten. Sein Händedruck war wild und heftig und seine Adern schienen am ganzen Körper aus dem verschwitzten Fleisch hervorplatzen zu wollen. Seine Augen waren voller Furcht, eine Furcht, wie ich sie vorher nur bei Pferden gesehen hatte. Wir wischten ihm die Stirn ab und taten unser Möglichstes, um ihn am Boden zu verankern.
Auch unsere Frauen und Kinder kamen ihn besuchen. Das tat ihm gut. Es zwang ihn, ein wenig sanfter zu werden. Unsere Kinder brachten Buntstifte und Papier mit ins Krankenhaus und malten unbeholfene Porträts von ihm. Dazu nahmen sie immer fröhliche Farben und pinselten eine leuchtende Sonne oder einen grünbeblätterten Baum neben seinen Kopf. Wenn die Kinder wieder gegangen waren, fanden wir ihn manchmal, wie er ihre Gemälde umklammerte und heftig weinte. Oder er hielt sie zärtlich in der Hand und betrachtete sie ehrfürchtig, als seien es geheiligte Artefakte. Er hob die Bilder alle auf und hängte sie später in seiner Wohnung an die Wand.
Nach einiger Zeit entkam er dem Tunnel, und wir kümmerten uns so gut es ging um ihn, denn er gehörte zu uns und hatte keine andere Familie. Seine Eltern waren beide gestorben, als wir Mitte zwanzig waren – an einer Kohlenmonoxidvergiftung in ihrer Hütte oben am Spider Lake, in der Nähe von Birchwood. Ronny war das Waisenkind von Little Wing.
Er war professioneller Rodeoreiter gewesen, sanft zu Pferden, brutal zu den Rindern. Er kannte sich mit Lassos aus und hatte seinem Körper auch schon vor dem Unfall etliche böse Verletzungen zugemutet. Manchmal, wenn er abends zu uns zum Essen kam, baten meine Kinder ihn, alle seine gebrochenen Knochen aufzuzählen. Die Bestandsaufnahme dauerte eine Weile.
»Lasst mich mal nachdenken«, sagte er dann, während er sich die müden Cowboystiefel von den Füßen streifte. »Nun. Ich habe mir alle zehn Zehen gebrochen, so viel weiß ich schon mal.« Als Nächstes zog er die löchrigen Socken aus. Die wenigen Zehennägel, die er noch hatte, waren gelb angelaufen und hatten die dreckig-milchige Farbe von Quarz; es schien, als wüchsen sie seinem versehrten Fleisch zum Trotz. »Ein paar von diesen Zehen habe ich mir auch zweimal gebrochen, glaube ich. Ein wütender Stier kommt halt da auf den Boden runter, wo er gerade will, wisst ihr, und manchmal ist das dann genau die Stelle, wo du selbst stehst.« Dann nahm er sich unseren Sohn Alex, setzte ihn auf den Boden im Wohnzimmer und tat so, als sei er der Stier, der sanft auf den Körper des kleinen Jungen niederstürzte, während er ihn zugleich an Rippen, Achselhöhlen und Zehen kitzelte. »In Kalispell wollten sie mir beide kleinen Zehen abnehmen, aber ich bin aus dem Krankenhaus geflüchtet, bevor sie mich betäuben konnten. Ich kannte ein Mädel da im Ort und sie wartete draußen vor der Tür mit laufendem Motor …«
»Diese Narbe hier«, sagte er und zeigte auf seinen bleichen rechten Knöchel, »da ist ein Stier namens Ticonderoga draufgedonnert und hat mein Bein in zwei Stücke gebrochen.«
Für meine Kinder war es das beste Spiel der Welt – herauszufinden, wie viele Kleidungsstücke Ronny Taylor durch ihre Überredungskünste ausziehen würde, an wie viele gebrochene Knochen er sich wohl erinnerte und wie viele hässliche Narben sie mit ihren kleinen Fingern würden nachzeichnen können.
Aber der besoffene Sturz hatte sein Rodeoleben beendet und das machte uns traurig. Ronny hatte die Schule abgebrochen, um Rodeo zu reiten, er verfügte über keine Ausbildung und keine anderen Fähigkeiten.
Lee bezahlte seine Behandlungskosten, seine Wohnung, sein Essen und seine Kleider. Wir hatten das eigentlich gar nicht erfahren sollen, aber Rhonda Blake, die mit uns zusammen aufgewachsen war und nun im Krankenhaus von Eau Claire in der Verwaltung arbeitete, erzählte es Eddy Moffitt eines Abends im VFW. Sie hatte ihren Kopf geschüttelt und auf eine irgendwie nette Art vor sich hingelächelt und Eddy war zu ihr hinübergegangen, hatte ihr einen Drink spendiert und sie gefragt, warum sie sich so freue.
»Weißt du, die könnten mich feuern, weil ich geplaudert habe«, sagte Rhonda, »aber so ’ne Sache wie die, das sollten die Leute einfach wissen. Ich hab vorher noch nie von so einer guten Tat gehört. Verdammt, ich könnte meinen Job verlieren, aber ehrlich gesagt wäre es mir das wert.«
Und dann erzählte sie Eddy, dass Ronny nicht versichert gewesen war. Dass die Rechnungen sich auf eine Summe von weit über hunderttausend Dollar belaufen hatten.
»Und eines Tages dann«, erzählte sie, »kriegen wir Post aus New York City. Einen Umschlag von irgendeiner Plattenfirma, der an Ronny adressiert ist. Und da ist dann doch tatsächlich ein verdammter Scheck über hundertdreiundzwanzigtausend Dollar drin.«
Sie trank ihr Bier in schnellen Zügen, ihre Augen waren feucht.
»Das war einfach wahnsinnig süß«, sagte sie. »Ich kann das unmöglich für mich behalten.«
Eddy erzählte uns die Geschichte eines Abends während eines Highschool-Footballspiels (wir gegen Osseo). Keiner von uns hatte Kinder, die schon alt genug gewesen wären, um auf die Highschool zu gehen, aber wenn man in einer so kleinen Stadt wie Little Wing, Wisconsin, wohnt, dann geht man auch so zu den Football- und Basketballspielen der Highschool. Schließlich kann man auf diese Weise etwas unternehmen – preisgünstige Unterhaltung für die ganze Familie. Wir standen alle unter dem Tribünenaufbau. Einige von uns teilten sich einen Beutel Red-Man-Kautabak, andere reichten eine Tüte mit Sonnenblumenkernen herum, und wir hörten Eddy zu, während die Menge über unseren Köpfen ihr jeweiliges Team anfeuerte. Von den hölzernen Sitzreihen regnete es Aluminiumdosen und zusammengeknüllte Hotdogverpackungen auf uns herab und hier und da auch etwas Rost, den die trampelnden Füße in ihren schweren Schuhen aus dem klapprigen Metallgerüst lösten. Wir verschränkten unsere Arme, spuckten auf den Boden und versuchten uns vorzustellen, wie ein Scheck über hunderttausend Dollar überhaupt aussehen mochte.
Lee war ohnehin schon unser Held gewesen, aber diese Geschichte vertiefte unsere Liebe zu ihm noch, ließ die Legende um seine Person noch größer werden. Wir gingen am nächsten Tag alle hin und kauften zehn weitere Exemplare seiner Plattenalben, jeder einzelne von uns, obwohl wir sie zu Hause längst doppelt hatten. Und es war kostbares Geld, das wir da ausgaben, denn viele von uns hielten sich nur so gerade eben über Wasser. Wir hätten diese Summe sparen oder Lebensmittel davon kaufen können. Dennoch. Wir schickten die Alben an Verwandte oder entfernte Freunde, schenkten sie Bibliotheken oder Pflegeheimen.
Ronny bekam nie eine Rechnung zu Gesicht; Lees Anwälte kümmerten sich um den ganzen organisatorischen Kram. Für Ronny würde auf immer und ewig gesorgt sein. Er selbst schien nicht zu wissen, dass er einen Gönner hatte, oder vielleicht wusste er es ja doch, ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Lee nie darüber sprach und Ronny auch nicht. Aber eigentlich war das ja auch nur richtig und gut so. Ronny hatte in seiner Wohnung zahllose Poster von Lee hängen, und das schon lange vor dem Unfall und der Operation. Die meisten waren vom Sonnenlicht bereits ein wenig ausgeblichen und von den Küchendämpfen ganz fettig geworden. Sie hatten diese schäbigen Wände geschmückt, lange bevor Lee berühmt geworden war. Ronny hatte ihn von uns immer schon am meisten geliebt.
Die Einladungskarten zu Kips Hochzeit wogen ganz schwer vor lauter Papier und Schleifen und Glitzerzeug. Wir trugen sie sehr vorsichtig, fast andächtig von unseren Briefkästen und Autos in unsere Häuser, als enthielten sie unbezahlbare, erlesene Neuigkeiten. Die Frau, die er heiraten würde, kannten wir nur flüchtig. Felicia war aus Chicago und arbeitete jetzt als Beraterin von zu Hause aus, in dem Anwesen, das sie gemeinsam ein wenig außerhalb der Stadt bewohnten. Wen genau oder worüber sie beriet, war uns nicht ganz klar, aber Eddy behauptete, es habe irgendetwas mit Arzneimitteln zu tun. Sie hatte Kip ein paar Mal ins VFW begleitet. Bei solchen Gelegenheiten sah sie immer wunderschön aus, und ihre Frisur, ihr Make-up und ihre Maniküre waren jedes Mal perfekt. Am eindringlichsten blieben uns ihre Stöckelschuhe in Erinnerung, die sie auch den ganzen Winter hindurch trug, immer mit leuchtend rot lackierten Fußnägeln. Sie war sehr nett, keine Frage, aber sie hatte irgendetwas an sich, das uns sagen zu wollen schien, dass unsere Stadt für sie nur ein vorübergehender Aufenthaltsort war, eine Art Zwischenlandung, und dass auch wir lediglich Zwischenlandungen waren. Zwischenlandungen, über die man später nur noch hinwegfliegen und denen man dabei kurz zuwinken würde. Überflugsfreunde.
Wir warfen einen Blick auf die Einladungskarten und stellten überrascht fest, dass Lee während der Zeremonie einen Song spielen würde. Er hatte auf keiner der Hochzeiten von uns anderen gespielt, und obwohl wir uns das alle gewünscht hätten, hätte niemand von uns gewagt, ihn um einen solchen Gefallen zu bitten. Es war uns gar nicht in den Sinn gekommen, er könne in seiner Eigenschaft als Künstler anwesend sein. Wir wollten ihn einfach nur als Freund dabeihaben.
Nicht lange nachdem die Einladungen bei uns eingetroffen waren, kam Lee aus Australien zurück, abgekämpfter und ausgelaugter als jemals zuvor. Wir ließen ihn ein paar Tage in Ruhe, wie wir es immer taten, und dann lud ihn Beth, meine Frau, zu uns auf die Farm zum Essen und zu einem Lagerfeuer ein. Er schien es immer zu genießen, mit unseren Kindern zu spielen, genauso wie den Umstand, dass wir kein Kabelfernsehen hatten. Genauer gesagt war der einzige Fernseher, den wir besaßen, ein uralter Kasten, den wir von meinen Eltern geerbt hatten und der eher einem riesigen Möbelstück glich als einem Gerät, das tatsächlich eine Verbindung zur Außenwelt schuf. Wir hatten jedoch einen relativ neuen Plattenspieler – ich sammele alte Vinyl-Schallplatten – und Lee wurde immer ein bisschen rot, wenn er daran vorbeiging und eine seiner eigenen LPs unter der Nadel liegen sah. Auch unsere Kinder konnten die Texte aller seiner Songs auswendig.
Als sie an diesem Abend die Scheinwerfer von Lees altem Pick-up die Auffahrt zum Haus hinaufkommen sahen, kreischten sie begeistert. Sie rannten im Kreis, galoppierten durch die Gegend und sangen voller Begeisterung all seine berühmtesten Refrains.
»Okay okay okay!«, rief Beth lachend. »Es reicht. Jetzt rückt Onkel Lee mal nicht zu dicht auf die Pelle. Er ist müde, okay? Er ist gerade erst aus Australien zurückgekommen. Also nervt ihn nicht zu sehr.« Während sie die Kinder von der Eingangstür wegscheuchte, prüfte sie im Spiegel ihr Aussehen, spitzte die Lippen und strich sich mit den Fingern kurz durchs Haar.
Er kam mit einem Strauß Nelken in der Hand an die Tür, den er ganz offensichtlich hastig im Supermarkt gekauft hatte. Beth nahm ihm die Blumen ab und sie umarmten sich. Mit den Jahren war er selbst immer dünner und sein Haar immer spärlicher geworden, auch wenn er es lang wachsen ließ. Er trug einen Bart und seine Unterarme waren mit Tattoos übersät.
»Hey, Kumpel«, sagte er und grinste mich an. »Ich bin verdammt froh, wieder zu Hause zu sein. Hab euch schrecklich vermisst.«
Lee war immer schon gut im Umarmen gewesen. Ich spürte seinen Brustkorb an meinem, seine langen Arme um mich. Den Geruch von Tabak in seinem Bart und in seinen Haaren.
»Wir haben dich auch vermisst«, sagte ich. Dann stürzten sich die Kinder auf ihn und er tat so, als sei er zu schwach, sich zu wehren, und ließ sich von ihnen zu Boden ringen. Beth und ich gingen in die Küche und trugen die Schüsseln mit dem Essen zu unserem alten Esstisch, auf dem die Kerzen schon brannten. Dann ging Beth zum Plattenspieler, drehte seine Platte um und setzte die Nadel auf die breite schwarze Rille am Rand.
Wir hörten, wie Lee von der Tür her aufstöhnte, während er auf uns zustolperte, Eleanore und Alex mit sich ziehend, die er mit den Armen unter den Achseln gefasst hatte. Er schüttelte den Kopf. »Lasst uns was anderes hören, okay?«, sagte er. »Ich hänge mir selbst echt zum Hals raus.«
Wir schauten ihm zu, wie er das Essen herunterschlang; es machte uns glücklich, ihn aufpäppeln zu können. Wir tranken Wein und hörten Jazz, und draußen vor den Fenstern raschelten die trockenen Herbstblätter laut an ihren Ästen. Es lag Schnee in der Luft.
»Ich habe gehört, dass du auf Kips Hochzeit einen Song spielst«, sagte ich nach einer Weile.
Lee lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stieß die Luft aus. »Ja«, sagte er, »sieht ganz danach aus. Ich hab irgendwann aus heiterem Himmel ’ne SMS von ihm bekommen. Und da war ich so überrascht, dass ich über meine Antwort nicht groß nachgedacht habe. Hätte ich vielleicht tun sollen.«
»Ist das denn okay für dich?«, fragte Beth. »Da zu singen? Und dann auch noch ausgerechnet für Kip?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wisst ihr, ich mag Kip schon, aber sehr nahe stehen wir uns nicht. Inzwischen ist er eher ein Bekannter als ein Freund. Aber ich bin zurückgekommen, um euch alle mal wiederzusehen und – ach, ich weiß auch nicht – ihn irgendwie zu unterstützen. Um der alten Zeiten willen und so. Er hat ein paar gute Dinge getan. Die Mühle zum Beispiel. Ich finde, er ist gut für diese Stadt. Und ich bin sowieso lieber hier als im Outback.«
»Oh«, sagte Beth, stützte ihr Kinn in ihre Hand und lächelte. »Dein Leben ist doch gar nicht so übel.«
»Nein«, sagte er. »Mein Leben ist gut. Sehr gut. Aber manchmal bin ich auch einsam. Manchmal fehlen mir Leute, denen ich vertrauen kann. Leute, die nichts von mir wollen. Das alles, es verändert einen mit der Zeit, wisst ihr? Und ich will nicht, dass es mich verändert. Ich möchte hierher zurückkommen und hier leben und einfach nur ich selbst sein können. Mit euch.« Er atmete tief aus und nahm einen großen Schluck Wein.
Wir taten es ihm nach und stießen mit ihm an, wobei die Weingläser wie ein paar stumpfe Glocken zusammenklangen. Dann herrschte eine Weile Stille. Man hörte nur, wie die Kinder unter dem Tisch mit den Beinen baumelten und wie draußen der Wind in den trockenen Maisstengeln und Baumästen raschelte. Lee lächelte wieder und goss sich ein weiteres Glas Wein ein und wir konnten sehen, dass seine Zähne schon ganz violett verfärbt waren. Und dass er glücklich war.
»Ich wünschte, ich hätte euer Leben«, sagte er schließlich. »Wisst ihr, was ich meine?«
Ich küsste Beths Hand, nahm sie dann in meine und sah ihr in die Augen. Sie lächelte mich an, wurde rot und senkte schließlich den Blick.
Daraufhin stand Lee vom Tisch auf, drückte sich die Fäuste ins Kreuz, streckte sich wie eine Katze und sammelte dann unsere Teller ein, um sie zur Spüle in der Küche zu tragen. Beth folgte ihm mit mehreren Weingläsern zwischen ihren langen Fingern, und ich blieb noch einen Moment sitzen, während sie eng nebeneinander an der Spüle standen und er ihr das nasse Geschirr reichte, damit sie es abtrocknen konnte. Erst waren nur seine Hände voller Seifenschaum und dann auch ihre, und beide wiegten sich fast unmerklich im Takt der Jazzmusik hin und her. Es machte mich glücklich, alle wieder beisammenzuhaben, glücklich, dass er wieder da war. Ich nahm mir einen Stapel Zeitungen und ein paar Streichhölzer und ging hinaus in die Dunkelheit, um ein Lagerfeuer anzuzünden.
Der Wind brachte Kälte mit und alle Sterne waren hervorgekommen; der blauweiße Überwurf der Milchstraße bildete ein prächtiges Dach über mir. Ich ging zu dem Holzstapel und trug ein paar Scheite zu der Feuerstelle in unserem Garten, brach dann ein wenig Anzündholz in kleine Stücke und entfachte das Ganze mit einem Streichholz. Dann blies ich vorsichtig in die zarten neuen Flammen. Lagerfeuer habe ich immer schon geliebt.
Irgendwann kam Lee aus dem Haus und ich spürte, wie er sich hinter mich stellte.
»Wie wär’s mit ’nem Joint?«, fragte er.
Ich schaute mich um, obwohl wir im Umkreis von Hunderten und Aberhunderten von Metern keine Nachbarn hatten. »Sind die Kinder im Bett?«, fragte ich, rieb mir die Hände und blies hinein, um sie ein wenig aufzuwärmen. Der Geruch von Alkohol war immer noch da, ganz schwach.
»Beth bringt sie gerade ins Bett«, sagte er und grinste. Wir schwiegen einen Moment. »Ich hatte das heute Abend echt bitter nötig, Mann«, sagte er schließlich. »Brauchte dringend eure Gesellschaft. Um mal wieder etwas Platz zum Atmen zu haben. Gutes Essen zu essen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich das vermisst habe.«
Er hatte Zigarettenpapier in den Händen und reichte mir einen Beutel, aus dem es sogar durch das Plastik hindurch schwer und würzig roch. Er drückte die Knospen in das Papier und leckte die Ränder ab. Die Joints, die er baute, waren schon immer die besten gewesen.
»Sollen wir uns nicht einfach einen teilen?«, fragte ich.
»Warum nicht.«
Also standen wir da, die Gesichter vom Schein des Feuers rot und orange beleuchtet, von zwei verschiedenen Rauchduftnoten umweht, während sich über uns das Himmelszelt ganz langsam drehte und gelegentlich Lichter von seltsamer Schönheit auf die Erde niedersprühten.
Irgendwann fing Lee an zu lachen und schüttelte den Kopf. Ich berührte den Flanellstoff seiner Jacke und fragte: »Was ist los? Was?«
»Ich habe eine Freundin.«
»Ach ja? Du hast immer eine Freundin.«
»Diesmal ist es anders«, sagte er. Er schaute mich an und hob die Augenbrauen. Der Rauch füllte unsere Lungen aus, klebrig und gut, und der Joint wanderte zwischen uns hin und her.
»Und? Wer ist sie? Nun komm schon.«
Ich verschluckte mich am Rauch, als er es mir erzählte, und hustete in die Nacht hinaus. Dann schlug ich mir mit der Faust an die Brust. Lee ging mit einem Filmstar aus, einer Frau, die regelmäßig auf den Hochglanzseiten mindestens dreier verschiedener Zeitschriften auftauchte, die bei uns im Haus herumlagen. Sie war berühmt für ihre Eleganz, ihre unergründliche Schönheit und ihr unbestrittenes Schauspieltalent.
Er nickte mir zu, immer noch lächelnd.
»Und was will sie mit einem Penner wie dir?«
»Jeder Mann sollte ab und zu auch mal Glück haben dürfen«, sagte er und zuckte mit den Schultern. Aber ich konnte genau erkennen, dass er in sie verliebt war.
»Ich bringe sie zu Kips Hochzeit mit«, sagte er einen Moment später. »Ich kann es kaum erwarten, sie euch vorzustellen.«
»Herrje, Lee, ich – Scheiße, ich freue mich wahnsinnig für dich«, sagte ich, obwohl da in meiner Brust etwas an mir zog, das sich wie Eifersucht anfühlte. »Ich freue mich wahnsinnig für dich«, wiederholte ich und starrte ins Feuer, durch die Flammen hindurch, dorthinein, wo die Kohle pulsierend glühte, im fahlsten, hellsten Orange. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlen mochte, ihren Körper zu berühren, mit einer Frau zusammen zu sein, die so unglaublich schön war. Dann schüttelte ich den Kopf, schüttelte all diese Gedanken aus mir heraus und war wieder zurück bei Lee, glücklich und stolz auf ihn.
Seltsam, dachte ich dann, wie sein Leben dem meinen ähnelte und es dann aber wiederum überhaupt nicht tat, obwohl wir doch von demselben kleinen Fleckchen Erde stammten. Und warum? Wie hatten sich unsere Wege getrennt und warum gab es zwischen ihnen überhaupt noch eine Verbindung? Warum stand er in diesem Moment in meinem Garten, auf meiner Farm, umgeben von den Geräuschen von fast zweihundert Kühen? Wie kam es, dass er zurückgekehrt war, dieser berühmte Mann, dieser Mensch, dessen Name jeder schon mal gehört hatte, dessen Stimme Millionen von Leuten wiedererkannten, für den es an so vielen Orten unmöglich war, einfach nur ein Fremder zu sein?
Es fiel mir schwer, zum Nachthimmel hinaufzuschauen und dabei nicht an Lee zu denken und daran, wie berühmt er war. Überall auf der ganzen Welt gab es in diesem Augenblick zweifellos Menschen, die seine Musik hörten. Ich schaute zu, wie er einen letzten Zug von dem Joint nahm, bevor er ihn ins Feuer schnipste. Er leuchtete. Er war ein weißes Glühen.
...
Wenn Lee nicht gerade irgendwo auf Tour war, wohnte Ronny oft bei ihm in dem alten Schulhaus. Sie machten zusammen Musik, Ronny am Schlagzeug, auf das er fröhlich einhämmerte, während Lee seinem versehrten Freund anerkennend zulächelte. Oder sie fuhren zusammen mit Lees Traktor durch die Sonne. Lee machte für Ronny Frühstück, Mittag- und Abendessen. Manchmal saßen die beiden auch gemeinsam auf Lees Veranda und schwiegen einfach nur. Sie schauten den Fledermäusen zu, bei ihren Sturzflügen durch die Sternenkulisse der Nacht. Sie lauschten den Rufen der Eulen. Beobachteten die Rehe, wie sie draußen auf den Feldern grasten.
Lee achtete sehr genau darauf, dass Ronny keinen Alkohol anrührte. Wenn sie da draußen auf ihren Holzsesseln saßen, tranken sie Kaffee oder Kakao, und das war gut und reichte ihnen. In Ronnys Gesellschaft blieb Lee clean, oder zumindest größtenteils. Und wenn sie abends einmal ins VFW gingen, um ein Spiel der Packers zu gucken oder einen Hamburger zu essen oder sich einen Pappteller mit Quarkbällchen zu teilen, dann wich Lee nicht von Ronnys Seite, bestellte Coca-Colas für ihn und hörte mit begeistertem und ehrlichem Interesse den manchmal recht verwickelten Ansichten und Monologen seines Freundes zu. Keiner von uns hatte vor Ronnys Unfall den Alkoholismus so recht verstanden, der unseren Freund fast umgebracht hätte. Es hatte damals den Anschein, als sei der Alkohol während seiner Rodeoreisen zu seinem engsten Weggefährten geworden. Wenn eine Veranstaltung vorbei war, legte er sich meistens in die Badewanne seines Motels, um seinen mit blauen Flecken übersäten Körper zu kühlen, und betrank sich mit billigem Bier oder schlechtem Wodka. Das Trinken wurde seine Geliebte, sein Wiegenlied, seine Nadel und sein Kopfkissen.
Lee hatte einen ganzen Stier schlachten und ausstopfen lassen und ihn dann auf ein Podest mit vier robusten Rädern montiert. Die beiden Freunde rollten den toten Stier oft auf eines von Lees Feldern und verbrachten dann den ganzen Nachmittag damit, auf Lees Traktor um ihn herumzufahren; Ronny mit dem Lasso in der Hand, das er gekonnt mit lächelndem Gesicht über seinem Kopf wirbelte und dann hinaus ins Feld warf, wo es sich jedes Mal ohne Ausnahme um die beiden glänzenden Hörner des reglosen Tieres schlang.
»Seine Muskeln wissen alle noch genau, wie es geht«, sagte Lee oft und schüttelte traurig den Kopf. Und dann sagte er: »Ich sollte ihm ein Pferd kaufen.«
...
Der Junggesellenabschied war ein ziemliches Fiasko. Kip hatte eine Stretch-Limousine gemietet und uns allen einheitliche Polohemden gekauft, die wir den ganzen Tag tragen sollten. Tagsüber gingen wir golfen. Sechsunddreißig Löcher. Er hatte den ganzen Kurs und auch das Clubhaus gemietet. Das Gerücht machte die Runde, es würden Stripperinnen auftreten. Aber Kip hatte Ronny nicht eingeladen und Lee war furchtbar wütend. Mich überraschte das nicht. Kip hatte so eine Art an sich, viel zu hastig zu handeln und kaum zuzuhören. So war er immer schon gewesen. Ronny und er waren nie besonders gut miteinander klargekommen, und vielleicht galt das ja auch für uns alle: dass Kip nie so recht zu uns gepasst hatte. Aber zu Ronny passte er noch am wenigsten. Er starrte Kip einfach nur an, schon als wir noch Teenager waren, und sagte solche Sachen wie: »Also ehrlich, Kip, allen außer dir geht dieses superelitäre College-Vorbereitungsprogramm absolut am Arsch vorbei. Mach mal’n Punkt. Dieses Wochenende steigt eine Party im Steinbruch. Das ist das, worauf ich mich jetzt konzentriere. Jemanden zum Flachlegen zu finden.«
Wenn ich mir dann den Junggesellenabschied vorstellte, zu dem wir da eingeladen waren, hatte ich unwillkürlich Kips Kollegen aus Chicago vor Augen: Männer in Anzug und Krawatte, Männer, die Martinis tranken und Spesenkonten hatten, die auf Eliteuniversitäten gegangen waren und teure Autos fuhren. Männer, die einen Satz brandneuer Golfschläger besaßen und Golfschuhe mit Spikes. Die weiche, glatte Bürohände hatten. Vielleicht hatte Kip Ronny ja nicht eingeladen, um ihn zu beschützen oder weil es ihm zu peinlich war. Aber ich wusste auch, dass keine von diesen Entschuldigungen bei Lee ziehen würden. Seine Liebe zu Ronny war so beschützerisch, dass sie unweigerlich den Zorn des Gerechten in ihm zu entfachen schien.
Ronny hatte den Tag der Hochzeit in seinem Kalender, der an einem Magneten an der Seitenwand seines Kühlschranks hing, rot angestrichen, und während der Monate, die der Hochzeit vorausgingen, fragte er Lee und mich regelmäßig, wann denn der Junggesellenabschied sein würde.
»Man muss einen Junggesellenabschied feiern«, sagte Ronny dann. »Das gehört sich einfach so. Das letzte Hurra. Stimmt’s? Das allerletzte Hurra.«
Der Gedanke, Ronny selbst würde vielleicht niemals heiraten, machte mich traurig.
Lee und ich gingen am Tag des Junggesellenabschieds zu Ronnys Wohnung.
»Hast du eine Einladung bekommen?«, fragte Lee und wühlte besorgt den Haufen Post durch, der sich auf Ronnys Küchentisch stapelte. Das meiste davon war Reklame: Coupons, Parteienwerbung, Kreditkartenangebote. Rechnungen wurden nie an Ronnys Adresse geschickt.
»Nee«, sagte Ronny, »ist wahrscheinlich einfach nur in der Post verlorengegangen. Ich weiß, dass er mich gerne dabeihätte.«
»Daran besteht kein Zweifel, Kumpel«, sagte Lee, der vor Wut kochte. »Kein Zweifel. Warte mal ’ne Sekunde, Kumpel, okay? Ich muss mal kurz telefonieren.« Er warf mir einen ernsten Blick zu, und ich wusste, ich sollte auf Ronny aufpassen und ihn ablenken. Ich machte den Fernseher an und schaltete mich durch die Kanäle, bis wir einen Naturfilm über eine Herde Montanabüffel fanden.
»Du kannst doch mein Telefon benutzen!«, rief Ronny, aber Lee war schon die Treppe hinunter auf die Straße gelaufen. Ich beobachtete ihn vom Fenster aus, wie er auf dem Bürgersteig hin und her lief und in sein Mobiltelefon brüllte. Er sah aus wie jemand, der gerade gerne gegen irgendetwas getreten hätte.
Kurze Zeit später kam Lee die Treppe mit rotem Gesicht wieder hinauf. »He, Kumpel, ist alles in Ordnung, kein Problem!«, sagte er, als er zurück in die Wohnung kam. »Ich habe gerade mit Kip gesprochen und er hat mir alles erklärt. Offenbar ist deine Einladung gerade eben an ihn zurückgesendet worden. Er hat wohl die falsche Adresse draufgeschrieben, oder so.«
Ronny schaute auf den Bildschirm, wo die Büffel in der endlosen Weite der Prärie grasten. »Aber das verstehe ich nicht«, sagte er. »Warum hat er mir die Einladung nicht einfach selbst vorbeigebracht? Ich winke ihm jeden Tag zu, wenn ich an der Mühle vorbeikomme.« Ronny schüttelte den Kopf darüber, wie unlogisch das alles war, und kicherte gutmütig in sich hinein.
Lee atmete aus. »Ich weiß auch nicht, Kumpel. Das ist eine gute Frage.« Seine Fäuste waren geballt. Er schaute zum Fenster hinaus. Es war ein wunderschöner Oktobertag. Die Sonne hell und klar, die Herbstblätter ein kühles Inferno über dem Land. In der Luft lag der Geruch von Dünger und überreifen Äpfeln.
Kurz darauf hielt eine Limousine vor Ronnys Wohnung und hupte sechs Mal. Lee schaute mich an, und da wurde mir zum ersten Mal klar, dass er ein Mann mit großer Macht war, dass er in der Lage war, mit einem einzigen Telefonanruf die Dinge zu regeln. Ich konnte sehen, dass er daran gewöhnt war, seinen Kopf durchzusetzen, und nur äußerst selten enttäuscht wurde.
Ronny wandte sich vom Fernseher ab und sein Gesicht strahlte vor Aufregung. »Partytime!«, sagte er und grinste. Dann klatschte er uns begeistert an den Händen ab, laut und heftig. Mir schmerzte die Handfläche.
Wir nickten. »Partytime«, sagten wir mit so viel Enthusiasmus, wie wir aufbringen konnten.
Wir gingen nach draußen zu der Limousine, die mit laufendem Motor auf der Straße wartete. Sie war mit vielen unser engsten Freunde vollgestopft, aber es waren auch ein paar fremde Gesichter darunter, unter anderem auch eine Fotografin, eine junge Frau, die zwei Kameras um den Hals hängen hatte. Sie schien mit ihrer teuren Nikon absolut jeden Moment einfangen zu wollen, der auch nur von geringstem Interesse war. Besondere Aufmerksamkeit widmete sie den Händen, in denen Sektgläser, Bierflaschen und Whiskeybecher extravagant vor sich hin schwappten.
»Jawoll!«, schrie Ronny, während er das alles auf sich einwirken ließ. »Ja! Ja! Jaaaaa! Partytiiiiiime!« Die eng zusammengepferchte kleine Menge jubelte reflexartig.
Wir duckten uns, folgten Ronny in die Limousine und setzten uns, während der Wagen bereits von der Hauptstraße abbog und sich wie eine riesige Kompassnadel in Richtung Golfplatz wandte. Im Innern des Autos spielte irgendwelche laute Musik, die ich nicht kannte. Lee beugte sich zu mir herüber. »Pass auf Ronny auf. Lass ihn nicht aus den Augen«, sagte er. »Verstehst du?« Ich nickte und mir wurde klar, dass die Limousine und die Party eine schlechte Idee gewesen waren, dass die ganze Sache eine sehr schlechte Idee war, und jetzt hatten wir uns unwiderruflich darin verfangen. Lee hatte darauf bestanden, dass Ronny eingeladen wurde, aber nun sah er, dass die Party für seinen Freund sehr gefährlich werden konnte. Er saß stocksteif da, ballte die Fäuste und seine Kiefermuskeln spannten sich.
»Schau, dass du ihm irgendwas zu trinken besorgst«, knurrte Lee mich durch den Krach hindurch an. »Aber kein Bier, überhaupt keinen Alkohol.«
Ich fischte nach einer Dose Coca-Cola und öffnete sie für Ronny, der sich ihren Inhalt unverzüglich in den Hals schüttete. »Jaaa!!«, rief er, schnappte nach Luft und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Jawoll!«
»He, hört mal alle her!«, rief Kip jetzt. »He!« Er klopfte mit einem Schweizer Taschenmesser gegen seinen Sektkelch. »Ich will etwas bekanntgeben, okay? Zeit für eine Ankündigung!« Er erinnerte mich irgendwie an einen Pfadfinderführer, der seine Truppe nicht in den Griff bekam. »Können alle mal ihre verdammte Schnauze halten? He!«
»Eine Reeeeeeede!«, schrie der wilde Haufen. »Eine Rede! Hört, hört!« Die Gruppe bestand zum größten Teil aus unseren Freunden, aber in diesem Moment hatte ich das Gefühl, als seien nur Lee und ich dort, und Ronny, der neben uns saß. Die Fotografin richtete ihre Kamera auf uns, auf Lee, und einen Moment lang blendete uns das Blitzlicht. Es war kaum überraschend, dass sie offenbar nur daran interessiert war, Lee zu fotografieren, und ich konnte mir schon jetzt lebhaft vorstellen, wie sie Ronny und mich aus dem Bild herausschneiden würde. Ich fragte mich, ob so wohl der Ruhm aussah – zahllose Fremde mit Kameras und anschließend dann irgendein blindes Porträt, mit dem man nicht gerechnet hatte. Ich musste an eine Geschichtsstunde in der Mittelstufe denken, in der wir lernten, dass einige Urvölker Amerikas glaubten, eine Fotografie von ihnen aufzunehmen, komme einem Raub ihrer Seele gleich.
»Ich kann euch gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet, dass ihr heute alle hier seid«, sagte Kip, »und mir dabei helft, meinen großen Tag morgen zu feiern. Ich bin überwältigt, Leute, das könnt ihr mir glauben!« Auch wenn er nicht gerade überwältigt aussah. Seine rötlich-braunen Haare waren dick und lang und mit Haaröl aus seinem engen, schmalen Gesicht gestrichen. Der sauber frisierte Bart folgte den kräftigen Konturen seines Kinns und sein Lächeln war äußerst beherrscht, fast ironisch. »Ich und Felicia«, sagte er, »wir sind wahnsinnig froh, dass ihr alle uns hier im Ort so freundlich wieder aufgenommen habt. Mit offenen Armen. Das bedeutet uns unglaublich viel. Und morgen«, und hier hielt er einen Moment inne, um nun das gesamte übertrieben bedeutungsschwere und dramatische Flair eines erfahrenen Tischredners auszupacken, »werden wir alle zu dieser riesigen alten Scheune gehen, um eine ganz großartige Hochzeit zu erleben und eine richtig zünftige Party zu feiern.«
Er war mit seinem Monolog noch nicht zu Ende, als Ronny schon »Partytime!« schrie und mit den Fäusten in die stickige alkoholschwangere Luft boxte. Einige aus der Gruppe lachten etwas unsicher, doch Lee schlang einen Arm um seinen Freund und flüsterte ihm eindringlich etwas ins Ohr. Ich schaute zu, wie Lees Lippen sich bewegten, auch wenn ich seine Worte nicht verstand. Du bleibst immer ganz dicht in meiner Nähe, Kumpel, stellte ich mir vor, ihn sagen zu hören, Wir werden zusammen ’ne tolle Party feiern, okay? Du und ich.
Kip nickte Ronny nachsichtig zu und fuhr mit seiner Rede fort. »Also hört mal«, sagte er, »ich habe euch allen ein kleines Geschenk mitgebracht, okay? Ein paar Polohemden. Es ist nichts Großes, aber he – es ist wenigstens etwas, oder? Ich möchte, dass ihr die jetzt alle anzieht. Weil heute, heute sind wir nämlich ein Team. Ein Team von Freunden. Versteht ihr? Wir sind Verbündete. Ich will, dass ihr alle Spaß habt. Ich will, dass ihr heute alles andere vergesst, okay? Alles klar. Das war’s. Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Und jetzt lasst uns losziehen und so richtig viel Spaß haben!«
Er griff mit beiden Händen in eine schwarze Plastiktüte und zog eine Menge roter Polohemden daraus hervor, die alle über der Brust mit zwei sich kreuzenden Golfschlägern und dem Datum dieses Tages bestickt worden waren. Kip fing an, sie zu verteilen. Er klopfte sogar an das Plexiglasfenster der Fahrerkabine und gab dem Fahrer ein Hemd. Dann reichte er auch der Fotografin eins. Es schien ihr mindestens eine oder zwei Größen zu klein zu sein, und ich schaute weg, während sie mutig ihre Bluse auszog und das viel zu enge Shirt überstreifte. Einige aus der Gruppe begrüßten mit begeistertem Johlen die frustrierend kurze Sicht auf ihren nackten Bauch und ihren BH. Und dann warf Kip jedem seiner versammelten Freunde ein Hemd zu. Jedem außer Ronny Taylor, dessen Miene fast unmerklich immer enttäuschter wurde, während er wartend mit leeren Händen dasaß. Lee merkte es sofort und gab sein Polohemd an Ronny weiter.
»Das ist deins, Kumpel«, sagte er. »Kip hat wohl vergessen, mir eins zu besorgen.«
Aber während Ronny seinen Freund anschaute, bewies sein trauriger Gesichtsausdruck, dass er verstanden hatte. Er zögerte einen Moment, bevor er sein eigenes T-Shirt auszog, und dann sahen wir die Narben aus seiner Rodeozeit. In der Nähe seiner Schulter war eine ziemlich scheußliche Wunde, wo ein Stück Fleisch fehlte und man die unbeholfenen Nähte eines Rodeosanitäters oder der Notaufnahme irgendeines Kleinstadtkrankenhauses sehen konnte. Sein Bauch war immer noch bewundernswert flach und muskulös. Auf seiner Brust über dem Herzen war eine Tätowierung mit verschwommenen Buchstaben: Corvus – Lees Künstlername –, zusammen mit dem flüchtig hingeworfenen Bild einer Krähe, die auf einem Telefonkabel hockte. Die Tätowierung war fast zehn Jahre alt. Sie war schon lange, bevor Lee überhaupt berühmt wurde, da gewesen, zu einer Zeit, als wir alle noch fast Kinder waren.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass du das damals gemacht hast«, sagte Lee und streckte die Hand aus, um die Tätowierung seines Freundes zu berühren. Er schüttelte den Kopf und lächelte.
»Ich hab an dich geglaubt«, sagte Ronny mit einem Ernst, wie er größer nicht hätte sein können. »Das tu ich immer noch. Du bist mein Freund.«
In der Limousine waren alle Augen auf sie gerichtet. Außerhalb des langgezogenen Fahrzeugs bewegte sich die Welt unbeeindruckt fort – der Verkehr strömte langsam an uns vorbei, hier und da ein Traktor, ein alter Farmer, der auf dem Schotter des Randstreifens entlangging, vielleicht auf dem Weg zur Bank oder zur Bibliothek im Zentrum des Ortes –, aber im Innern des Wagens hatte sich das Leben in ein Diorama aus offenstehenden Mündern, weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem verwandelt. Dann brach Kip das Schweigen. »He, Lee, wo ist dein Hemd?«
»Ich hab keins gekriegt«, sagte Lee. Er hatte eine Hand auf Ronnys Knie gelegt. Seine Stimme hatte einen harten Unterton. »Aber mach dir keine Sorgen, Boss. Das macht überhaupt nichts.«
»Aber«, fing Kip an und noch während sein Blick auf das Hemd fiel, das ganz offensichtlich Lee gehörte – da war es doch, dort an Ronnys Körper –, konnten wir an dem Zögern in seiner Stimme hören, dass er Lee nicht weiter drängen würde. Und obwohl nun alle in der Limousine die gleiche Uniform trugen, alle außer Lee, der sich in seinem unvermeidlichen Flanellhemd und seinen abgewetzten Jeans schwer in die glänzende Lederpolsterung lehnte, würde Kip ihn nicht herausfordern. Stattdessen klopfte er mit den Knöcheln gegen die Trennwand zur Fahrerkabine, und wir wurden schneller. Auch die Lautstärke der basslastigen Musik nahm zu, während das riesige Automobil an Fahrt aufnahm.
Wir waren Farmer, jedenfalls die meisten von uns, und keine Golfer. Aber es war ein herrlicher Tag und der Golfplatz breitete sich in spektakulärer Schönheit vor uns aus. Die Anlage leuchtete in schimmerndem Grün und in dem sich darüberwölbenden Himmel war nicht eine einzige Wolke zu sehen. Kip hatte Golfwagen gemietet und uns in Paare aufgeteilt. Eddy Moffitt und ich sollten uns einen Wagen teilen und wie ich sah, hatte Kip es so eingerichtet, dass er mit Lee spielte. Die Fotografin machte schnell ein paar Aufnahmen der beiden Männer, wie sie mit ihren Golfschlägern nebeneinanderstanden. Ronny stand etwas abseits, begutachtete die Liste mit der Aufteilung, ließ den Finger über die Seite gleiten, aber konnte seinen eigenen Namen ganz offensichtlich nicht finden. Ich sah, wie er sich den Kopf kratzte. Dann lehnte ich mich dicht an Eddys Ohr und raunte: »Hör mal, Eddy, ich werde mich mit Ronny zusammenschließen, ist das okay?«
Eddy war ein guter Kerl, wir hatten alle bei ihm unsere Versicherungen abgeschlossen. Er verstand mich sofort. »He, Ronny!«, rief er. »Ronny! Du bist hier mit Hank zusammen.« Dann klopfte er mir mit seiner großen dicken Hand gutmütig auf die Schulter, zog meinen Kopf ganz dicht zu sich heran und flüsterte: »Ich weiß nicht, was Kipper hier abzieht, aber es scheint echt übel zu sein. Na egal, ich wünsch euch jedenfalls viel Spaß, Leute. Ich geh einfach mal rüber zum Clubhaus und schau nach, ob die Stripperinnen schon aufgetaucht sind.« Dann schlug er mir erneut mit der Handfläche auf den Rücken. Eddy war selbst viele Jahre lang Farmer gewesen, bis ein Traktorunfall zum Bankrott seiner Farm geführt hatte. Er war nicht versichert gewesen, hatte es sich nie leisten können, und die Krankenhausrechnungen hatten ihn in den Ruin getrieben.
Ich schüttelte Ronny die Hand. Dann suchten wir uns einen Wagen und fuhren zum ersten Abschlag. An dem Wagen waren zwei Taschen befestigt und in einem Gestell direkt über den Golfschlägern stand eine Kühlbox mit Bier. Ich sah, wie Ronnys Blick magisch davon angezogen wurde, wie er auf das Eis starrte, das bei jeder Bodenwelle, über die wir fuhren, klirrend gegen die kalten Aluminiumdosen stieß. Ich bremste und stieg aus, um die Kühlbox herauszuheben. Die Giroux-Zwillinge teilten sich einen anderen Wagen und als sie an uns vorbeifuhren, reichte ich Cameron die Box. Er warf uns einen erstaunten Blick zu, während sein Bruder Cordell aufs Gas trat, zweifellos, um sich schnell aus dem Staub zu machen, für den Fall, dass wir es uns doch noch anders überlegten. Ronny schien ein wenig in sich zusammenzusinken und ich merkte, dass er sich die aufgesprungenen Lippen leckte, während er unseren Freunden dabei zusah, wie sie im warmen Sonnenlicht tranken, wie ihre Kehlen das Bier hinunterschluckten, wie ihre Lippen sich benetzten. Die Luft füllte sich plötzlich mit dem süßlichen Aroma von billigem amerikanischem Bier. Das war der Geruch unserer Kindheit: der Geruch der Getreidesilos, der Scheunen und der Felder in der Erntezeit. Bier war unser Lebenselixier, und ich konnte Ronnys Qualen gut verstehen. Sein Gehirn war nicht so sehr beschädigt, als dass er sich nicht mehr an das schummrige Licht in unseren Lieblingsbars hätte erinnern können oder an das Wummern unserer Lieblingsjukeboxen. An die Nächte, in denen wir unsere uralten Pick-up-Trucks draußen irgendwo mitten in der Landschaft parkten, uns auf die Ladefläche legten und Dutzende von Bierdosen leerten und wie wir die Dosen dann hinaus in den Straßengraben warfen oder in die endlosen Maisfelder. An den betrunkenen Sex, der darauf folgte: die leichten Berührungen der Finger, das Gewicht der Brüste, das zärtliche Aneinanderstreichen der Beine, der Kampf mit störrischen Reißverschlüssen, das Herunterreißen viel zu enger Jeans. All unsere schönsten Erinnerungen waren im Bierdunst entstanden, und in diesem Moment konnte ich erkennen, wie schmerzlich Ronny sein Lieblingslaster vermisste. Irgendwo in den unterbrochenen Schaltkreisen seines Gehirns musste nach wie vor ein unstillbarer Durst wohnen. Ein Teil von mir hätte ihm gerne Abhilfe verschafft, aber das ging natürlich nicht und würde auch nie gehen. Vielleicht hätten wir ihm ja sogar ab und zu ein Bier anbieten können, aber niemand wollte dieses Risiko eingehen, und wozu auch? Was konnte dabei denn schon Gutes herauskommen?
Wir spielten stundenlang Golf, bis unsere Gesichter sonnenverbrannt und die Lippen trocken und aufgesprungen waren. Es kamen Golfwagen mit Cheeseburgern und Hotdogs und Wasserflaschen und Coladosen vorbei, aber das änderte nichts; wir waren vom Golfspielen erschöpft. Über unseren Köpfen zog die Sonne ihre Bahn und stieg nun im Westen allmählich herab. Wir waren lausige Spieler, Ronny und ich. Aber hier und da gelang uns ein Schlag, mit dem wir den kleinen Ball in die Landschaft hinaussegeln ließen, bis er in der Nähe irgendeiner kleinen Fahne landete, die ein noch kleineres Loch in der Erde markierte. Wir lachten miteinander und auf einmal konnte ich erkennen, warum Lee so gut mit Ronny befreundet war. Sie waren beide Junggesellen, Freizeitkumpels, die sich ganz automatisch zusammengetan hatten, weil sie beide keine Kinder oder Ehefrauen hatten, die sie am Spaßhaben hindern konnten. Und vielleicht war das ja auch der Grund, warum ich Ronny nicht öfter angerufen, ihn nicht öfter eingeladen hatte mitzukommen, wenn ich auf Moorhuhnjagd ging oder zu irgendeinem Händler fuhr, um die Preise von Landwirtschaftsmaschinen zu vergleichen. Ich weiß es selbst nicht. Er war liebenswürdig und aufrichtig und sanftmütig. Wir fuhren den ganzen Nachmittag kreuz und quer über den Golfplatz, schlugen die Bälle durch die Gegend und feuerten uns gegenseitig an. Und er stellte mir die allerbesten Fragen: über Beth und die Kinder, über meine Farm und die Traktoren. Er war nicht an unserem spärlichen Einkommen interessiert, nicht an unseren alten, gebrauchten Autos oder unseren lumpigen paar Investitionen. Seine Teilnahme war echt. Ich lud ihn ein, zu uns zum Essen zu kommen.
»Danke«, sagte er. Und: »Was soll ich mitbringen?«
»Bring nur dich selbst mit, Ronny. Einfach nur dich selbst.«
Sechsunddreißig Löcher später fuhren wir zurück zum Clubhaus, obwohl es Ronny offensichtlich wunschlos glücklich machte, einfach nur durch die Gegend zu fahren und sich die Löcher anzusehen, all die Böschungen, Sandbunker, Teiche und langen, schmalen Fairways. Als wir im Clubhaus ankamen, waren wir nicht die Ersten. Der Großteil der Partygesellschaft war bereits dort. Alle waren ziemlich betrunken und auf dem besten Wege, sich ewige Kameradschaft zu schwören oder in wilden Streit zu verfallen. Oben auf der Bartheke standen zwei Tänzerinnen. Sie waren vollkommen nackt und ihre Körper glänzten; man schien sie mit Sekt übergossen zu haben. Ich sah, wie ein sonnenverbranntes Lächeln Ronnys Gesicht überzog. Ich lächelte ebenfalls.
»Partytime!«, verkündete er lauthals, woraufhin sich die gesamte Gesellschaft zu ihm umwandte und ihm ihre Zustimmung entgegenröhrte. Plötzlich war Ronny zu ihrem Maskottchen geworden. Irgendjemand riss ihn mir aus den Händen und schob ihn zu der Bar und den Tänzerinnen, wo er mit offenem Mund dastand und auf ihr festes Fleisch und ihre sonnengebräunten Körper starrte. Sie waren attraktiv, auf eine Weise, wie es einem heutzutage immer öfter begegnet: Sie hatten künstlich nachgeholfen und machten nicht den geringsten Hehl daraus. Die Narben ihrer Schönheits-OPs zogen sich als dunkle Striche unter ihren Brüsten entlang und ihr Blick, der über uns alle hinwegging, war zugleich voller Energie und unendlich gelangweilt. Ich erkannte, dass Ronny in ihren Augen vollkommen normal wirken musste und dass sie ihn vielleicht sogar attraktiv fanden. Vor seinem Unfall war er unser Ballkönig gewesen und hatte immer die schönsten Mädchen des Ortes ausgeführt. Selbst heute war sein Körper noch rodeogestählt, sein scharf gemeißeltes Gesicht von spröder Schönheit. Er schaute die Tänzerinnen an und ich konnte sehen, dass er sich an irgendeine Zeit aus seinem Leben zurückerinnerte, an irgendeinen Ort im Westen, wo er vielleicht für ein, zwei Nächte verliebt gewesen war. Das Magic Motel in Butte oder Billings oder Bozeman. Manchmal vergaß man viel zu leicht, dass Ronny nach wie vor ein Mann war, ein Mann mit gewissen Bedürfnissen.
Also zog ich mich an den Rand der Party zurück und beobachtete ihn aus der Ferne, wie er zu den tanzenden Frauen hinaufstarrte und seine Finger sich gelegentlich nach ihren gebräunten Waden oder ihren lackierten Zehennägeln ausstreckten, nach ihren geschmeidigen Fesseln.
Als Kip und Lee endlich im Clubhaus ankamen, ging die Sonne bereits unter. Ihre Gesichter waren verbrannt, ihre Haare vom Wind zerwühlt und sie warfen einander finstere Blicke zu. Dann gingen sie zu den entgegengesetzten Enden der Bar, ignorierten die nackten Frauen, die über ihren Köpfen tanzten, und ich beobachtete, wie beide sich etwas bestellten, das wie Whiskey aussah. Kaum hatten sie sich den Inhalt ihrer Gläser die Kehle hinuntergeschüttet, bestellten sie schon Nachschub. Ihre Augen waren voller Wut. Nachdem Lee sich ein drittes Glas bestellt hatte, verließ er schließlich die Bar und ließ sich neben mir auf einen Stuhl fallen.
»Dieser miese Wichser hat mich gezwungen, jedes verdammte Loch zu spielen«, sagte er. »Alle sechsunddreißig. Ein scheiß Todesmarsch war das.« Die Eiswürfel schwappten träge in seinem Glas, als schwömmen sie in Benzin. »Der hat mich total fertiggemacht! An jedem Loch. Und das nicht nur um einen oder zwei Schläge. Das waren sechs oder sieben. Jedes Mal. Ich hab nie auch nur eine zweite Chance bekommen, so was war überhaupt nicht drin. Ich musste alles genau zählen. Und dann hat er sich auch noch die ganze Zeit über mich lustig gemacht. Arschloch.« Lee warf Kip, der noch an der Bar stand, einen grimmigen Blick zu.
»Lee, komm mal runter«, sagte ich. »Morgen müssen wir alle wieder Freunde sein.«
Mein Blick war immer noch auf Ronny an der Bar geheftet. Er hielt gerade einen einzelnen Dollarschein in die Luft, wie eine Fackel. Eine der Frauen ließ sich den Schein zwischen die Brüste stecken und ich konnte sehen, wie er seufzte. Es wirkte fast ekstatisch. Der Rest der Hochzeitsparty hatte sich ein wenig von der Bar zurückgezogen und schaute ihm nun ebenfalls zu. Oder versorgte ihn mit Eindollarscheinen.
»Mieser Wichser!«, sagte Lee. »Echt! Der soll mich mal am Arsch lecken. Ich krieg manchmal zehntausend Dollar, nur damit ich irgendwo auftauche und ein einziges verdammtes Lied spiele. Und das Arschloch wagt es, mich so zu behandeln. Scheiße.«
Dann verstummte er, und ich schwieg ebenfalls, während seine Worte noch in der Luft hingen, wie eine Rauchwolke, die sich nicht vertreiben ließ. Ich hatte ihn noch nie solche Sachen sagen hören, hatte ihn überhaupt noch nie über Geld reden hören. Er ballte die Fäuste in seinem Schoß und öffnete sie wieder und strich sich dann die Haare glatt.
»Tut mir leid, Mann«, sagte er. »Das war grad echt mies von mir. Heute ist schließlich sein großer Tag. Was macht es schon, dass er mich beim Golfen in die Pfanne gehauen hat. Ich spiele ja nie Golf. Das ist doch nur eine scheiß Yuppie-Methode, spazieren zu gehen.«
Wir saßen eine Weile so da und es gab nichts, was ich hätte sagen können. Es war für mich und die Farm ein schwieriges Jahr gewesen. Niedrige Milchpreise bei zugleich halsabschneiderisch hohen Diesel- und Düngerpreisen. Dann hatte ich noch vor kurzem meinen Mähdrescher ersetzen und schließlich auch noch Eleanores Mandeloperation bezahlen müssen. Wir hatten mit unserer Milchviehhaltung einen Punkt erreicht, an dem es allgemein hieß: Wachse oder stirb. Entweder investierten wir mehr Geld in die Farm und schafften uns mehr Kühe an, oder es war Zeit, darüber nachzudenken, aus der Sache auszusteigen. Beth und ich hatten unsere Hypothek bis zum Äußersten ausgereizt und es blieb nichts, was man für die Ausbildung der Kinder hätte sparen können; und genau wie bei allen anderen Leuten waren auch unsere Geldanlagen vollkommen baden gegangen. Beth hatte vor kurzem sogar Infoblätter zu Lebensmittelmarken und staatlicher Gesundheitsfürsorge mit nach Hause gebracht. Ich hatte in letzter Zeit nachts nicht besonders gut geschlafen und ich wusste nicht, was ich tun sollte, falls wir mit der Farm pleitegingen. Bis zu diesem Moment hatte ich keinerlei Ahnung gehabt, was Lee wohl so verdiente, auch wenn wir uns das natürlich alle hin und wieder gefragt hatten. Aber ich begriff, dass es sich mit seinem Einkommen genauso verhielt wie mit seinen Reisen – das alles war für mich unvorstellbar. Und jetzt machte mich dieser krasse Gegensatz, diese nicht mehr wegzuleugnende Realität sehr traurig.
Ich hatte früher einmal darüber nachgedacht, Lee um einen Kredit zu bitten, als die Lage besonders ernst war. Beth hatte mich sogar dazu ermutigt. Aber ich hatte es nie getan.
»Hör mal, Lee«, fing ich an, und er schaute zu mir herüber, seine Pupillen vor Wut immer noch ganz klein. Aber ich konnte nicht weiterreden.
»Komm«, sagte er, »schnappen wir uns Ronny und dann verschwinden wir von hier. Ich muss Chloe morgen ganz früh am Flughafen abholen. Wir sollten hier abhauen, bevor noch irgendwas passiert.«
Aber genau in diesem Augenblick bemerkten wir Kip, der zu uns herübergekommen war und nun direkt über uns lauerte, während die Fotografin im Halbdunkel des Clubhauses auf Zehenspitzen über seine Schulter hinweg ihre Bilder schoss. Kip hatte eine Flasche Johnny Walker Blue in der Hand und seine Lippen glänzten vom Alkohol.
»Und wo ist denn überhaupt deine Uniform?«, bellte er zu Lee hinunter, während sich auf seinem Gesicht ein Lächeln ausbreitete, das zur Hälfte ein höhnisches Grinsen war. Er stupste Lee leicht an den Arm. »Na?«
Lee schüttelte den Kopf. »Du hast meine vergessen, weißt du noch?«
»Nee, hab ich nicht«, sagte Kip. »Du hast sie verschenkt, das ist nämlich passiert.«
Lee zuckte mit den Schultern und schaute Kip an, und da sah ich, dass sich die Dinge irgendwie verschoben hatten – sie waren keine Freunde mehr, nicht einmal mehr freundlich zueinander, nur noch zwei Männer, die sich nicht mochten, zwei Männer, die nichts mehr gemeinsam hatten, von der geographischen Herkunft einmal abgesehen. Von jetzt an und für alle Zukunft würde jede Gelegenheit, bei der sich ihre Wege kreuzten, nur noch reiner Zufall sein.
»Und, wann lerne ich sie nun endlich kennen?«, brüllte Kip, um die ohrenbetäubende Musik zu übertönen. Hinter ihm waren die Tänzerinnen von der Bar heruntergeklettert und rieben ihre goldbraunen Hüften an Ronny.
Lee starrte Kip an. »Endlich kennenlernen? Was soll denn der Scheiß, Kip? Willst du ihr verficktes Autogramm?«
Kip nahm Lees Worte einen Moment in sich auf, lächelte dann und drehte sich zur Bar, um den Tänzerinnen anzügliche Blicke zuzuwerfen. »Wenn ihr wollt, bringt euch der Fahrer nach Hause, Jungs. Ich möchte auf keinen Fall, dass du dir beim Brüllen die Stimme ruinierst, Lee.« Er nahm einen Schluck aus der Flasche und ging zum Rest der Gruppe. Mittlerweile kannte ich nur noch wenige. Die Girouxs waren schon gegangen. Und Eddy ebenfalls.
Wir standen auf, sammelten den etwas widerstrebenden Ronny ein und verließen das Clubhaus, mit pochendem Trommelfell, dem Geruch von fremdem Parfüm in den Haaren und schmerzenden sonnenverbrannten Nasen. Ronny ließ sich in das weiche Leder der Autositze fallen und schaute durch das offene Schiebedach in den Nachthimmel hinauf. Er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht und in der Tasche seiner Jeans steckten zwei Papierfetzen: Beide Tänzerinnen hatten ihm ihre Nummern gegeben und die Zettel mit großen roten Lippenstift-Os verziert, als sie einen Gutenachtkuss aufs Papier gedrückt hatten.
»Ich bin nicht zum ersten Mal beim Rodeo, Jungs«, sagte er immer wieder. »Nee, nee. Nicht zum ersten Mal.«
Lee legte seinen Arm um Ronnys Schulter und sie schauten zusammen zu den Sternen hoch. Ich lächelte die beiden an, schloss die Augen und ließ mich heimfahren. Zu meinem Bett, meiner Frau und meinen Kindern.
Ich kann mich an den darauffolgenden Morgen noch ganz genau erinnern. Das Chaos in unserem Haus, Beths Eltern, die sich unten um die Kinder kümmerten, und der dröhnende Fernseher, in dem irgendwelche Zeichentrickserien liefen. Beth stand unter der Dusche und brauchte ein bisschen länger als üblich. Aus einem der Zimmer drang die Radioübertragung eines frühmorgendlichen Footballspiels. Ich stand vor dem Spiegel und band mir die Krawatte. Der Schlips hatte eigentlich meinem Vater gehört. Die Seide war an einigen Stellen etwas abgewetzt und auch das Design war ziemlich aus der Mode gekommen. Ich mochte an jenem Morgen das Gesicht nicht, das mir aus dem Spiegel entgegenschaute, meine Nase war von der vielen Sonne am Vortag ganz rot, an meinem Unterkiefer hatte ich einen Rasierbrand und die ersten schlaffen Anzeichen eines Doppelkinns machten sich bemerkbar. Beim Zuknöpfen der Hose zog ich den Bauch ein. Ich hätte wohl eigentlich einen neuen Anzug gebraucht, aber für so etwas hatten wir kein Geld. Ich band mir die Krawatte immer und immer wieder, aber jedes Mal wirkte die Seide am Ende fadenscheinig und der Knoten zu fest. Mein Haaransatz machte im Spiegel einen beinahe zaghaften Eindruck; als kröche er ängstlich vor meinen Augenbrauen davon, und plötzlich wurde ich ganz nervös bei dem Gedanken, Chloe kennenzulernen. Beth und ich waren zum Brunch bei Lee eingeladen, und danach würden wir zusammen zu Kips kleiner Farm hinausfahren. Lee hatte Chloe am frühen Morgen am Flughafen von Minneapolis abgeholt. Wir sollten auf dem Weg zu ihnen Ronny auflesen.
Beth wechselte an diesem Morgen fünf Mal die Garderobe, zog andere Schuhe an, andere Halsketten, andere Ohrringe. Ich verstand das gut. Hätte ich mehr als nur einen Anzug besessen, dann hätte ich dasselbe getan. Aber weil ich bloß diesen hatte, saß ich einfach nur auf einem ramponierten alten Stuhl in unserem Schlafzimmer und schaute ihr zu. Ich fand sie wunderschön. Ich konnte sehen, dass sie sich die Beine rasiert hatte; straff und geschmeidig wuchsen sie aus der sanften Umfassung ihrer hohen Schuhe. Sie verwuschelte sich die Haare und spitzte die Lippen im Spiegelbild.
»Und, was denkst du?«, fragte sie schließlich und drehte sich zu mir um.
Ich stand auf und ging zu ihr hinüber. Dort, in diesem Moment, begriff ich, dass wir auf dem Weg waren, älter zu werden, dass wir zusammen alt werden würden.
»Ich denke, dass du wunderschön bist«, sagte ich und küsste sie.
»He – pass auf den Lippenstift auf«, erwiderte sie und gab mir einen spielerischen Klaps, bevor sie mich wieder zu sich heranzog. Sie legte ihr Kinn auf meine Schulter und wir drehten uns in einem langsamen Tanz, dort, in unserem Schlafzimmer, mit dem verschlissenen Teppich unter unseren besten, abgewetzten Schuhen. »Ich liebe dich«, sagte sie, »obwohl du kein Rockstar bist.«
»Ich liebe dich«, sagte ich, »obwohl du kein Filmstar bist.«
Wir küssten uns wieder und hielten uns an den Händen, während wir die Treppe hinuntergingen. Es war gut genug, so wie wir gekleidet waren.
Die Kinder kamen zu uns gelaufen und umarmten uns zum Abschied. Beths Vater schüttelte mir die Hand und in diesem Augenblick fiel mir zum ersten Mal auf, dass die Haut am Ringfinger seiner linken Hand allmählich seinen Ehering zu überwuchern begann. Der Ring war zu einem Teil von ihm geworden, so wie ein Baum als Pfosten eines Zauns nach und nach den Stacheldraht in sich aufnimmt, der um seine Rinde gewickelt ist. Bei diesem Anblick fühlte ich mich plötzlich irgendwie glücklicher – weniger, ach, ich weiß nicht, weniger verunsichert. Ich wusste, dass Beth und ich es zusammen schaffen würden, egal was mit der Farm oder was auch sonst noch passieren mochte.
In der Stadt war die Hölle los. Die örtlichen Bed & Breakfasts und Motels waren ausgebucht und im VFW und den wenigen anderen Bars der Stadt wimmelte es vor Gästen. Sogar im Coffee Cup Café herrschte Hochbetrieb. Die zahlreichen Kunden knallten die Eingangstür hinter sich zu, während sie das Restaurant mit ihren Styroporbechern verließen. Auf der Hauptstraße drängelten sich Autos mit Nummernschildern aus anderen Bundesstaaten. Eddy hatte gehört, dass über fünfhundert Leute auf der Gästeliste standen. Aus Milwaukee war ein ganzer Lastwagen voller Bierfässer gekommen und noch ein zweiter mit den härteren alkoholischen Getränken. Die Lieferfirma für das Essen war auch nicht von hier, sie kam den ganzen weiten Weg aus Minneapolis. Anscheinend wollte Kip keinerlei Risiko eingehen. Nur das Beste war gut genug.
Der Tag war graugolden und Wolkendunst verschleierte immer wieder die hell strahlende Sonnenscheibe. Es war ein guter Tag, um eine Jacke zu tragen.
Ronny saß auf der Bordsteinkante vor seiner Wohnung. Seine Haare waren nass und zurückgekämmt. An seinem Kinn klebte ein rotgefärbter Taschentuchfetzen, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Er winkte uns fröhlich zu, als wir uns ihm näherten. Er trug seinen Anzug aus Polyester, sein weißes Hemd und seine Bolotie, ohne dass ihm das irgendwie peinlich gewesen wäre. Seine alten Cowboystiefel hatte er ganz offensichtlich mit Schuhcreme blankpoliert.
»Du siehst toll aus, Ronny Taylor!«, sagte Beth und rutschte auf der Bank unseres Pick-ups an mich heran, während sich Ronny auf den Platz am Fenster setzte. Sie küsste ihn auf die Wange und er wurde ganz rot, während sie den Lippenstift von seiner frisch rasierten Haut wischte.
»Danke, Beth«, sagte er schüchtern.
Wir hörten auf dem ganzen Weg dorthin Radio: die örtlichen Sportergebnisse, den Wetterbericht, die Meldung, dass man nicht weit von der Stadt entfernt einen Berglöwen gesichtet habe. Der Wagen rollte geschmeidig über die versteckten Seitenstraßen und wir legten den Weg zu Lees Haus schweigend zurück, in freudig-nervöser Stimmung. Chloe war eine große Schauspielerin, jeder kannte und mochte sie. Wenn sie nicht gerade filmte, trat sie am Broadway auf. Sie hatte einen Golden Globe gewonnen, für die Darstellung einer Dichterin, an deren Name sich keiner von uns erinnern konnte. Als wir die Auffahrt entlang auf das Haus zurumpelten, saßen sie draußen auf Lees Veranda. Sie hatten die Schuhe ausgezogen, die Füße auf das Geländer gestützt und winkten uns fröhlich zu, als wir in Sichtweite kamen. Selbst aus fünfzig Meter Entfernung konnten wir den Dampf sehen, der aus ihren Kaffeetassen aufstieg, und den Rauch, der sich aus Lees Lieblingsaschenbecher emporschlängelte und der, wie ich annahm, von zwei Joints stammte. Auf Lees Weide graste eine ziemlich große Herde von Rehen und er zeigte auf sie, als wir uns dem alten Schulhaus näherten.
»Sie sind schon den ganzen Morgen hier!«, rief Chloe und lächelte uns an, während sie sich mit einer Hand die Augen vor einem Sonnenstrahl abschirmte, der soeben durch die Wolkendecke brach.
»Oh, klasse«, sagte Ronny vergnügt. »Ich liebe Rehgulasch.« Beth boxte ihn sanft in die Rippen und wir lachten alle, während der Truck vor dem Schulhaus hielt.
Außer Lee hatte ich noch nie jemanden Berühmtes kennengelernt, und wie gesagt, obwohl wir wussten, dass er berühmt war, dachten wir nicht weiter darüber nach. Aber Chloe kennenzulernen … das war für mich absolut unfassbar. Ihre Haare rochen nach Vanille und ich erinnere mich genau, wie sich ihr Skelett anfühlte, ihre zarten Knochen in meinen Händen, während wir uns umarmten. Ihre rotblonden Haare waren dick und glänzend und ihre weitgeöffneten Augen waren vom Hasch ein wenig gerötet. Sie hielt meine Oberarme leicht umfasst und betrachtete eingehend mein Gesicht, anerkennend, wie ich hoffte, bis ich meinen Blick abwandte und hinunter auf meine alten Schuhe starrte.
»Lee sagt, du seist sein bester Freund«, sagte sie, während sie mich immer noch festhielt. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Hank.«
»Ich dachte, ich bin dein bester Freund«, beschwerte sich Ronny mit echtem Schmerz in den Augen.
Lee berührte ihn mit seiner Hand. »Das bist du auch, Ronny. Nur verrat es Hank nicht.«
»Ich bewundere all deine Filme«, sagte ich zu Chloe. »Du bist meine Lieblingsjulia.«
Sie errötete höflich und dehnte den Spann eines ihrer bezaubernden Füße. Ich konnte sehen, dass ihre Fußsohlen ganz dreckig waren, und ich hatte auf einmal das starke Verlangen, ihre Füße in die Hände zu nehmen und zu massieren.
Beth boxte mich sanft gegen den Arm und durchbrach meine Träumereien. »Ich dachte, ich sei deine Lieblingsjulia«, sagte sie. Wir lachten alle und dann umarmten sich Beth und Chloe. Lee ging ins Haus und kam mit einem orangefarbenen Medikamentenröhrchen aus Plastik zurück, das zwei weitere Joints enthielt. Er gab sie Beth und mir.
»Wir haben ganz vergessen, den Brunch vorzubereiten. Das hier muss also reichen. Willst du ’ne Coke?«, wandte er sich an Ronny, aber Ronny starrte einfach nur Chloe an, konnte den Blick nicht von ihr abwenden, konnte nicht aufhören zu lächeln.
Es war ein guter Morgen. Wir saßen bis in den frühen Nachmittag zusammen auf der Veranda, lümmelten in unseren besten Kleidern herum und hatten die Schuhe ausgezogen. Wir schauten den Rehen zu und kifften, während der Tag langsam wärmer wurde und die Sonne die Wolkenfetzen verglühen ließ. Chloe fragte uns nach unseren Kindern und wir zogen, ich aus meiner Brieftasche und Beth aus ihrer Handtasche, mehrere verblichene Fotografien voller Eselsohren hervor, auf denen die Kinder alle noch viel jünger waren.
»Tut uns leid«, entschuldigten wir uns, »wir müssen unbedingt mal neue Bilder machen. Sie sind jetzt schon viel größer.« Fast alle meine Freunde hatten irgendwelche schicken neuen Handys, aber Beth und ich besaßen keins. Wir kamen ganz gut mit unseren alten aufklappbaren Geräten über die Runden, deren Kameras aber zu wenig Auflösung hatten, um damit halbwegs brauchbare Bilder machen zu können. Eleanore und Alex kannten sich schon gut genug aus, um sich deswegen über uns lustig zu machen, und bezeichneten die Geräte als Antiquitäten. Als wir dort saßen und auf die alten Fotos zeigten und Chloe erklärten, wie alt Alex auf diesem Bild gerade war oder dass das hier ein Foto unseres letzten Familienausflugs zum alten Hafen in Duluth war, da war ich ganz von Stolz erfüllt und auch von einem Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit, als wären wir in diesem Moment irgendwie älter als Lee und Chloe, obwohl das natürlich nicht stimmte. Aber unsere Leben waren auf unergründliche Weise anders.
»Diese Kinder sind echt die besten«, sagte Lee. »Ich liebe sie. Sie sind einfach klasse.«
»Und die Kinder lieben ihn«, sagte Beth, während sie Lee zulächelte. Und in der darauf folgenden Gesprächspause wurde mir klar, dass Beth eigentlich hatte sagen wollen: Er wäre ein fantastischer Vater. Er sollte eigene Kinder haben.
Ronny war ins Haus gegangen, um mehr Eiswürfel zu holen, und als er wieder herauskam, sagte er: »Es ist ein Uhr, Leute … Sollten wir nicht um halb zwei dort sein?«
Für Ronnys Verhältnisse war es ein Moment von verblüffender Klarheit, und wir starrten ihn einen Augenblick an, während wir seine Frage verarbeiteten. Dann sprangen Beth und Chloe ohne ein Wort auf und schlüpften in ihre hohen Schuhe. Wir rannten alle zum Wagen, wobei wir die Rehe auf dem Feld auseinanderscheuchten. Wir würden zu spät zur Hochzeit kommen und wir waren total bekifft.
Beth setzte sich ans Steuer und Chloe schob sich neben sie, während Ronny, Lee und ich auf die Ladefläche des Pick-ups stiegen und uns irgendwo festklammerten. Wir lächelten uns an, während unsere Haare wild im Wind flatterten und uns die Luft frisch und wunderbar durch die Nasenlöcher peitschte. Wir trommelten mit den Handflächen auf das uralte Metall des dahinrasenden Wagens, und wir waren glücklich und aufgedreht und auf dem Weg zu einer Hochzeit. Ich glaube, in diesem Augenblick hatten wir ganz vergessen, zu wessen Hochzeit wir da rasten.
»Schneller! Schneller! Schneller!«, brüllten wir in die vorbeirauschende Luft. Ronny war von dem Tempo, mit dem wir dahinschossen, wie elektrisiert und begann haltlos zu kichern. Chloe und Beth schauten sich an und fingen ebenfalls an zu lachen. Die Scheune war immer noch fünfundvierzig Minuten entfernt; aber andererseits fuhren wir auch gerade achtzig.
Lee und ich machten es uns auf der Ladefläche gemütlich, lehnten uns mit dem Rücken gegen die Fahrerkabine und schauten zu, wie die Welt hinter uns zurückwich: die Farben des Herbstes, die das unveränderliche Grün der Balsamtannen und Weißkiefern durchsetzten, die gelben und weißen Markierungslinien auf der Straße, die sich unermüdlich Meile um Meile unter uns hervorspulten. Farmen mit roten und weißen Scheunen. Kühe und Pferde und Schafe und hin und wieder ein dahinzuckelnder Einspänner der Amischen. Einmal stellte sich Ronny auf der Ladefläche des Pick-ups aufrecht hin, und Lee und ich griffen nach seiner Gürtelschnalle, versuchten ihn wieder zu uns herunterzuziehen, aber er stand da, ins wilde Rauschen des Windes gelehnt, die Arme eine Weile ausgestreckt wie zu einem eisernen Kreuz, mit geschlossenen Augen und wehenden Haaren. Und während wir dort mit einer Mischung aus Sorge und Bewunderung saßen, konnten wir immer noch den alten Ronny sehen – all diese Balance und Kraft und wilde Energie.
Wir kamen nur ein paar Minuten zu spät. Die Felder um die Scheune herum quollen über vor geparkten Fahrzeugen und Hochzeitsgästen, die sich mit ihren hohen Absätzen oder ihren zu engen, wahrscheinlich nur gemieteten Lackschuhen unbeholfen auf die Scheune zukämpften. Alte Leute klammerten sich an ihrer jüngeren Verwandtschaft fest. Die Pferde schauten zu und kauten vor sich hin. Wir sprangen aus dem Wagen, allesamt außer Atem und mit einem Lächeln im Gesicht. Chloe und Beth erstrahlten in jugendlicher Pracht. Chloes Kleid war ein wahres Wunder aus feinstem, zart paillettenbesetztem Stoff. Sie strich sich das Haar aus den Augen und puderte sich geschickt ein wenig Make-up ins Gesicht. Beth teilte sich mit ihr einen Lippenstift, und sie schminkten sich gegenseitig mit dem kleinen Finger die Lippen, weil es keinen Spiegel gab, oder zumindest keine Zeit für einen Spiegel. Lee bändigte seine Haare mit einer Handvoll Spucke. Ich tat es ihm nach und rückte meine Krawatte zurecht. Ronny grinste einfach nur glücklich. Und dann schlossen wir uns der Menge an, froh, dass wir alle zusammen hineingehen würden. Plötzlich blieb Lee stehen. Sein Gesicht war ganz weiß geworden.
Wir blieben ebenfalls stehen und schauten ihn an.
»Scheiße«, sagte er und klang völlig fassungslos. »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Verdammte Kacke.«
»Deine Gitarre«, sagte ich. Er nickte und schüttelte dann den Kopf.
»Na, da wirst du wohl a cappella singen müssen«, sagte Chloe fröhlich und fasste ihn am Ellbogen. »Ist doch kein Drama, oder?«
Ich gab Lee einen Stups. »Ist schon okay, Kumpel«, sagte ich. »Dann hat Kipper wenigstens was, worüber er sich aufregen kann.«
Wir gingen weiter auf die Scheune zu, vor deren Eingang eine Horde von Leuten wartete. Sie sahen verdächtig nach Fotografen aus, die sich unter die Hochzeitsgäste gemischt hatten. Plötzlich begannen sie, sich auf uns zuzubewegen. Sie hoben die Kameras über die Köpfe, während sie immer schneller wurden, bis einige von ihnen sogar rannten.
»Er kann diese Leute unmöglich alle gemietet haben«, sagte Beth, während wir ihnen weiter entgegengingen.
Chloe verstand als Erste. »Ist schon okay«, sagte sie. »Wirklich, es ist okay. Ich glaube, ein paar von diesen Clowns kenne ich sogar. Vielleicht lassen sie ja mit sich reden. Wir geben ihnen einfach, was sie haben wollen, so schnell wie’s geht. Dann haben wir’s hinter uns, oder?« Sie lehnte sich an Lees Arm und wir konnten sehen, dass sein Gesicht vor Wut ganz rot geworden war, dass er fuchsteufelswild war. Chloe legte ihre zarte Hand an sein Kinn und es schien, als wollte sie ihn dazu bringen, sie anzuschauen, als versuchte sie, ihn zu beruhigen.
Und dann hatten die Paparazzi sie umringt. Sie warfen Ronny fast um, als sie wie eine wild gewordene Büffelherde an ihm vorbeistürmten. Sie riefen Chloes Namen und Lees Namen, seinen Künstlernamen. Sie forderten Chloe und »Corvus« auf, zusammen zu posieren, einander zu umarmen. Sie rückten dem Paar ganz dicht auf den Leib. Einer von ihnen streckte sogar die Hand aus und zupfte den Saum von Chloes Kleid zurecht. Lee trat nach dem Mann, aber Chloe hielt ihn fest an der Hand und wir konnten sehen, wie sich ihr Gesicht veränderte. Ich konnte nicht umhin zu denken, dass es sogar irgendwie härter wurde. Ihre Lippen wurden voller, ihre Augen kühl und einladend wie Kieselsteine in einem Fluss. Sie schob ein Bein nach vorn, die Absätze souverän im Schlamm verankert. Sie war sich ihres Aussehens bewusst.
Lee riss sich grob von ihr los und stapfte weiter Richtung Scheune. Ich ging mit ihm mit, Ronny folgte uns. Lee entdeckte Kip am Scheunentor, wo er damit beschäftigt war, die Gäste zu begrüßen. Kip schaute gerade auf seine Uhr, als Lee ihn an der Schulter packte und ihn von der Menge wegstieß, um die Ecke des Gebäudes herum. Dann fasste er ihn an seinem schwarzen Schlips und zog Kips Gesicht dicht an seines heran.
»Was soll der Scheiß, Mann?«, sagte er. »Was ziehst du hier für einen Scheiß ab?«
Kip zuckte mit den Schultern, entfernte Lees Hand von seinem Schlips und strich ihn gerade. »He, jede Publicity ist gute Publicity, oder nicht?« sagte er. »Du bist eben berühmt. Deine Freundin ist berühmt. Ich weiß nicht, ich hätte gedacht, du wärst an so was gewöhnt.« Er grinste spöttisch. »Ist doch keine schlimme Sache. Und überhaupt«, fügte er mit offenkundiger Genugtuung hinzu, »schließlich warst du es, der sie eingeladen hat.«
»Nicht hier, Mann!«, knurrte Lee. »Nicht hier. Niemals, auf keinen Fall hier! Das ist mein Zuhause, okay? Das hier ist mein Zuhause!« Er kochte vor Wut und war den Tränen nah. Er lief vor Kip auf und ab, mit weißgeballten Fäusten.
»Nur noch diese eine Sache«, sagte Lee, der seine Stimme plötzlich wieder unter Kontrolle hatte. Er war wieder ganz nah an Kips Gesicht gerückt und die Adern auf seiner Stirn pulsierten. Ich hatte ihn noch nie zuvor so wütend gesehen. Ronny legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn sanft weg. »Ich werde das eine Lied singen. Und dann sind wir fertig miteinander. Hörst du mich? Für immer. Ruf mich nie wieder an. Verstehst du?«
»Es ist schon okay«, sagte Ronny. »He, es ist alles okay, Kumpel.«
Dann gingen wir in die Scheune und suchten unsere Plätze. Das Gebäude war randvoll mit Leuten: Manche saßen im Heuboden, die meisten aber in Stuhlreihen auf dem riesigen, neu abgeschliffenen Boden aus Holzplanken und einige, die nicht mehr hineingepasst hatten, sogar im gemauerten Keller, wo die Skelette der uralten Verstrebungen noch in der Erde verankert waren. Noch mehr Leute hatten sich draußen versammelt, gingen dort hin und her und spähten durch den Türspalt hinein. Von den Dachsparren hingen Votivkerzen herab und die Türrahmen waren mit hauchdünnen Stoffen verkleidet.
Durch die Außenwände der Scheune sickerte das Sonnenlicht. Dann schaltete sich eine laut dröhnende Musikanlage ein und spielte Pachelbels Kanon in D-Dur, und aus dem hinteren Teil der Scheune kam Kips Braut in ihrem weißen Kleid geschritten, einen Arm eng in die rechte Armbeuge ihres Vaters eingehakt. Sie schien förmlich zu leuchten und die zerknitterten Wangen ihres Vaters waren ganz nass von Tränen. Sie gingen sehr langsam an den Hochzeitsgästen vorbei nach vorn, zu Kip und dem Pfarrer, und während ich ihnen dabei zusah, fragte ich mich, ob das langsame Tempo wohl der Braut geschuldet war, die ihren schönsten Tag feiern wollte, oder dem alternden Vater, der im Begriff stand, sie dem Bräutigam zu übergeben. Die Blitzlichter knatterten. Manche von ihnen waren immer noch auf Lee und Chloe gerichtet.
Nach ungefähr der Hälfte der Zeremonie gab der Pfarrer Lee ein Zeichen. Er stand leise von seinem Stuhl auf und ging nach vorne. Ich sah, wie er Kip fest die Hand schüttelte, dann die Braut auf die Wange küsste und ihr etwas ins Ohr flüsterte, das ihr ein Lächeln entlockte, wie ich es noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Niemand wäre je darauf gekommen, dass er wütend auf Kip war, so unendlich liebenswürdig gab er sich. Dann ging er zum Mikrofon. Alle Kameras waren auf ihn gerichtet. Er zog seinen verknitterten Anzug gerade und strich sich die Haare glatt.
»Ich habe meine Gitarre vergessen«, sagte er kleinlaut.
Die dankbare Menge lachte und das war gut. Ein wenig von der geladenen Spannung der Zeremonie entlud sich und einige Leute klatschten und pfiffen sogar. Lee zuckte mit den Schultern, hob seine leeren Hände hoch und zog ein Gesicht, als wollte er sagen, ach, was soll’s.
»Also hört mal, Leute«, sagte er, »ich dachte mir, wir singen einfach zusammen. Etwas zum Mitsingen. Wir könnten uns vielleicht einfach alle an den Händen fassen und zusammen singen. Ich glaube, die meisten von euch kennen den Text dieses Liedes, und wenn nicht, dann kenne ich ihn wenigstens. Ich werde ihn euch vorsingen. Also keine Angst, okay? Ihr solltet niemals Angst haben zu singen.«
Ich griff mir Beths Hand auf der einen und Ronnys auf der anderen Seite. Wir schauten den Mittelgang entlang zu unserem Freund, wie er dort vorne stand und zu singen begann. Wir sangen mit ihm. Wir kannten alle den Text.
Wise men say, only fools rush in
But I can’t help, falling in love with you.
Shall I stay, would it be a sin,
if I can’t help, falling in love with you.
In diesem Moment waren wir eine Stadt, wir alle zusammen, ein Chor aus Freunden und Fremden, alle in ihrem schönsten Sonntagsstaat, und wir berührten einander, hielten uns an den Händen und sangen. Unsere Stimmen schnellten in die Höhe, geradewegs hinauf zu den Dachsparren, und ließen die Flammen der Kerzen tanzen; es waren genug Stimmen, um von dem rostigen Blechdach widerzuhallen und im Echo hinaus auf die Felder getragen zu werden, wo die Pferde vermutlich die Köpfe hoben und ihre langen Ohren spitzten: Was das wohl für ein seltsamer neuer Klang war. Ich spürte Ronnys Hand in meiner, spürte seine schwielige Haut, und ich drückte seine Hand und war traurig um seinetwillen, aber zugleich auch glücklich, neben ihm zu sitzen, glücklich, dass er da war. In diesem Moment erinnerte ich mich daran, wie ich im Krankenhaus seine Hand gehalten hatte, vor vielen Jahren, und ich spürte, wie es mir die Kehle zuschnürte. Und ich spürte auch die weiche Hand meiner Frau und strich mit meinem Daumen über ihre Adern und Fingernägel und fühlte, wie mein Herz in meinem Innern ein großer Quell der Liebe war, und ich wusste, dass dieser Quell nicht nur überströmte, sondern nie versiegen würde. Vor uns stand unser Freund, seine Stimme mischte sich mit unseren und ich zwinkerte ihm zu und er zwinkerte zurück.
Like a river flows, surely to the sea
Darling so it goes, some things are meant to be
Take my hand, take my whole life too,
for I can’t help, falling in love with you …
Das Lied ging zu Ende, doch ich ließ die Hände dieser beiden Menschen, die ich liebte, nicht los, und ich konnte sehen, dass in der ganzen Scheune andere dasselbe taten, sich an ihren Freunden und Familien festhielten und auch an den Fremden, Zugereisten, die gekommen waren, um diese Hochzeit in einer Scheune mitzuerleben. Lee trat vom Mikrofon zurück, nickte Kip kurz zu, küsste Felicia noch einmal und setzte sich dann. Chloe gab ihm einen sanften Kuss auf die Schläfe und die beiden sahen ganz verliebt aus.
Kip wandte sich seiner neuvermählten Frau zu und küsste sie und wir standen alle auf und applaudierten. Schnell wurden Reistüten verteilt, und während die Jungvermählten den Gang hinunter und zur Scheune hinausschritten, bewarfen wir sie alle mit unserem weißen Konfetti, so dass der Reis am Schleier, den Haaren und dem wohlgebräunten Dekolleté der Braut hängenblieb. Dann gingen wir hinaus an die frische Luft, wo sich eine Schlange zum Gratulieren gebildet hatte. Ich bemerkte, dass Chloe und Lee abgetaucht waren und sich in eine Ecke draußen an der Scheune zurückgezogen hatten, nahe dem Fundament eines alten Steinsilos. Dort standen sie, rauchten Zigaretten und sahen sehr elegant aus, fast gegen ihren Willen, als könnten sie nicht anders. Beth und ich gratulierten Kip und Felicia, die an diesem ihrem großen Tag nicht hätte liebenswürdiger sein können.
Das Festmahl wurde auf riesigen langen Tischen serviert, die man in einem nahegelegenen Feld aufgestellt hatte. Wir tranken Wein und unterhielten uns, aßen Fasan und Gnocchi und Gemüse und frisches, warmes Brot. Es gab Tischreden, man klopfte mit silbernem Besteck gegen Gläser; mehrere Male standen Braut und Bräutigam auf und küssten sich ausgiebig, was zu noch mehr Applaus und Zwischenrufen führte. Alle waren glücklich. Sogar Lee schien zufrieden zu sein und Ronny klatschte ihn immer wieder ab und sang: »Dar-ling so it goes, some things are meant to be-ee-ee!!!«
Die Dämmerung war gekommen. Wir lehnten uns vollkommen übersättigt in unseren Klappstühlen zurück, tranken mehr Wein, als wir eigentlich wollten, und schauten den Kellnern zu, wie sie die schmutzigen Teller wegtrugen und Tassen und Untertassen für den Kaffee brachten. Ihre Arme schossen blitzartig an unseren Schultern vorbei, während sie frische Teller mit Kuchen, saubere Löffel, kleine Sahnekännchen und Zuckerdosen auf die Tische stellten. Ronnys Gesicht war mit der Zuckerglasur des Kuchens verschmiert. Beth entfernte sie mit einem Fingernagel und leckte dann neckisch ihren Finger ab. Lee zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und schüttelte ein paar davon heraus. Er nahm drei Zigaretten in den Mund, zündete sie an und reichte dann eine an Chloe und eine an Beth. Meine Frau nahm die Zigarette lächelnd entgegen und inhalierte tief. Sie behielt den Rauch sehr lange in der Lunge und atmete dann aus, so dass ein Strahl grauen Dunstes zwischen ihren Lippen hervorquoll. Ich lehnte mich zurück und betrachtete sie prüfend.
»Du rauchst doch gar nicht«, sagte ich und meine Stirn legte sich in Falten, mehr als es mir lieb war.
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte Chloe an. »Das hier ist ein guter Abend, um zu rauchen.« Sie stießen mit ihren Weingläsern an und lachten. Ronny und ich ließen uns auch Zigaretten geben und so rauchten wir alle und schauten den Sternen dabei zu, wie sie die immer dunkler werdende blauwollene Decke der Nacht durchbohrten.
Dann war über den Bäumen und Feldern ein seltsames, brausendes Geräusch zu hören, zunächst kaum wahrnehmbar, dann aber immer eindringlicher. Wusch-wusch-wusch-wusch-wusch. Wir drehten uns in unseren Stühlen um und schauten über die Felder. Die Pferde wurden unruhig und wieherten; in der zunehmenden Dunkelheit blitzten ihre Zähne auf, riesig und weiß. Dann kam plötzlich über den Baumwipfeln, nur etwa eine Meile von uns entfernt, ein Hubschrauber in Sicht. Er drückte die großen Äste der Bäume nieder und verwirbelte alle Blätter. Das Gras auf den Weiden tanzte entfesselt. Der Hubschrauber war mit einem Scheinwerfer ausgestattet, der nun über die Partygäste glitt. Viele von ihnen streckten ihm die Mittelfinger entgegen. Schließlich blieb das Licht bei Lee und Chloe hängen. Wir sahen, wie sich ein Mann mit einer Kamera aus dem Hubschrauber lehnte. Lee warf seine Stoffserviette auf den Tisch und stapfte in die Scheune.
»Es tut mir leid, Leute«, sagte Chloe laut zu allen, die am Tisch saßen. »Es tut mir wirklich wahnsinnig leid.« Und wir konnten erkennen, dass sie es ernst meinte.
Der Hubschrauber schwebte eine Weile über unserem Tisch, und an den Stellen, an denen die Tischdecke nicht mit Besteck oder Tontellern beschwert war, knallte sie laut wie ein Segel, während der Stoff über unsere Knie flatterte. Ronny stand von seinem Stuhl auf und stellte sich auf den Tisch. Seine glänzenden Cowboystiefel hoben sich scharf von dem weißen Tischtuch ab. Er trug eine Gürtelschnalle von einem Rodeo, das er einmal in Missoula gewonnen hatte.
»LASST MEINEN FREUND IN RUHE!«, schrie Ronny. »LASST IHN VERDAMMT NOCH MAL IN RUHE!« Er weinte. Wir zogen ihn wieder nach unten.
Der Hubschrauber blieb noch ein paar Minuten in der Luft über uns hängen, bis er schließlich einmal im Kreis um die Scheune flog und sich dann aus dem Staub machte. In der Zwischenzeit hatte sich der Abend über die Scheune gelegt; überall brannten kleine Kerzen und an manchen Stellen auch Lampions. Einige von ihnen waren durch den Luftzug des Hubschraubers gelöscht worden und die Hochzeitsgäste gingen mit Feuerzeugen und Streichhölzern umher und zündeten unverdrossen so viele Lichter wieder an, wie sie konnten. Wir hörten, wie in der Scheune Sinatra gespielt wurde, und nahmen unsere Drinks mit hinein. Ronny war immer noch ganz aufgebracht.
Wir fanden sie im Keller, in einer Ecke. Chloe, die auf Lees Schoß saß, fuhr ihm mit den Fingern durch das dünner werdende Haar. In diesem Augenblick sah er älter aus. Ich reichte Lee eine braune Bierflasche hinüber und er nahm sie, lehnte den Kopf zurück und trank. Aber er schaute uns nicht an. Wir standen eine Weile mit verschränkten Armen da und schwiegen.
»Du kannst nichts dafür«, sagte Beth schließlich zu ihm. »Wir wissen, dass du das nicht gewollt hast.«
»Ich will das nicht«, sagte er vage. Es verging ein Moment, während wir darauf warteten, dass er zu Ende sprach. Schließlich sagte er: »Vielleicht brauche ich ein bisschen frische Luft.«
Wir folgten ihm nach draußen, auf die Weide, und Chloe und Beth zogen ihre hochhackigen Schuhe aus. Ich lockerte meinen Schlips. Wir gingen hinüber zu den Pferden, deren Augen immer noch ganz groß und wild waren. Ronny, der uns vorausgegangen war, sprach mit ihnen, mit leiser, besänftigender Stimme. Und dann sang er ihnen plötzlich etwas vor, rauh und spröde, wie ein ausgefranstes Wiegenlied, und wir blieben stehen und sahen ihm zu. Er sang: »Shall I stay, would it be a sin, if I can’t help, falling in love with you …«
Er berührte das Pferd, das direkt vor ihm stand, ließ seine knorrigen Rodeohände sanft auf dem samtigen Maul und den Muskeln der breiten Pferdebrust ruhen. Sein Mund war ganz nah am Kopf des Tieres, er sang ihm das Lied ins Ohr. Wir setzten uns ins Gras, schauten ihm zu und lauschten dem betörenden Klang seiner Stimme.
...
Nicht lange nach der Hochzeit zog Lee nach New York, und wir sahen ihn immer seltener. Es kamen zwar immer noch Pakete und manchmal auch Briefe, aber die Intervalle zwischen seinen Besuchen wurden immer länger und länger. Auf der Auffahrt zu seinem Haus begann das Gras zu wuchern. Schließlich gaben unsere Kinder es auf, nach ihm zu fragen. Aber wir hörten immer noch seine CDs, und meine Tochter fing sogar an, Gitarre zu spielen. Sie hatte ein Foto aus dem Rolling Stone neben ihr Bett an die Wand geklebt. Auf diesem Bild steht Lee irgendwo in der Welt auf der Bühne, ein Spotlight scheint ihm hell ins schweißnasse Gesicht, seine Augen sind vor Konzentration geschlossen, sein seitlich gelegter Mund schließt sich eng um das Mikrofon. In seinen Händen hält er eben jene Gitarre, die er einmal zu einer Hochzeit mitzubringen vergaß.
Für Ronny war es am schwersten, aber wir versuchten so gut wir konnten die Lücke zu füllen, die Lee bei ihm hinterlassen hatte. Ich fuhr ihn zu seinen Arztterminen und zum Einkaufen. Wir kochten für ihn, und an manchen Abenden passte er auf unsere Kinder auf. Er ging sehr sanft und zärtlich mit ihnen um. Sie saßen auf seinem Schoß und auf den Lehnen seines Stuhls, während er ihnen Dr. Seuss vorlas. Oft korrigierten sie seine Aussprache. Manchmal lasen sie auch ihm vor.
An einem Samstagnachmittag ging ich den langen Weg unserer Kiesauffahrt hinunter zum Briefkasten. Der Frühling war gekommen und die Gräben standen voller Schmelzwasser, die Felder und Bäume waren von einem zarten Grün bedeckt. Ich war gerade mit dem Ölwechsel bei einem der älteren Traktoren fertig geworden. Bald würden das Pflügen und die Aussaat beginnen. Ich steckte meine Hand in den Briefkasten und zog einen dicken Umschlag mit Absender von Lees Adresse in New York heraus. Das Papier war teuer und unsere Namen und die Anschrift waren in elegant geschwungenen Lettern geschrieben. Ich öffnete ihn.
Er und Chloe würden heiraten. In dem Umschlag waren vier Flugtickets und eine handgeschriebene Notiz:
Henry, Du fehlst mir wahnsinnig. Komm und besuch uns.
Sorg dafür, dass Ronny seine Einladung bekommt.
Und sag ihm, er soll jemanden mitbringen.
Alles Liebe, Dein bester Freund Lee.