Ein riesiges Glas mit eingelegten Eiern. Dutzenden, vielleicht Hunderten von Eiern, die in einer trübgrünen fruchtwasserähnlichen Flüssigkeit schwammen – als hätte dort, in diesem Gefäß, ein mächtiges Reptil sein Gelege hinterlassen, in der wohl vergeblichen Hoffnung, es möge irgendwann in der Zukunft schlüpfen. Das Glas war mehr als einen halben Meter hoch und fast genauso breit und es stand dort hinter dem Tresen, an der Wand mit dem großen Spiegel, in dem sich der lange, schmale Raum spiegelte. Draußen im Fenster blinkten unablässig die Neonlichter und zogen zahllose Motten, Mücken und Glühwürmchen an. Drinnen warf die in der Ecke stehende Jukebox ein milchiges Licht in den Raum, während die beiden rechteckigen Filzflächen der Billardtische von den Lampen darüber in ein leuchtendes Grün getaucht wurden. Mehrere Poolspieler umkreisten zielstrebig die Tische und zeigten mit ihren Queues, ihren fleischigen Fingern oder Zahnstochern das Loch an, auf das sie zielten. An der Theke saßen alte Männer und schüttelten lederne Würfelbecher oder spielten Cribbage und verkündeten in monotonem Singsang, wie viel Punkte sie beim Auslegen erzielten. Und draußen auf der Straße im Frühlingsnebel standen die Raucher, die seit kurzem gezwungen waren, die Bar zu verlassen, nickten mit den Köpfen, während sie sich unterhielten, saugten an den gelben Filtern ihrer Zigaretten und bliesen blaugrauen Rauch in die Nacht.
Es war Montag Abend. Die Tür zur Hauptstraße stand weit offen. Lee und ich saßen an der Bar und beobachteten einander in dem Spiegel, vor dem die ganzen Schnapsflaschen standen. Wir tranken unser Bier in schnellen Zügen, weil wir nicht mehr wussten, wie wir überhaupt noch miteinander reden sollten, nicht mal wussten, wer von uns gerade dran war. Am Vormittag hatte es stark geregnet und der sporadische Verkehr auf der Hauptstraße erzeugte ein wunderbares Frühlingsgeräusch, wann immer die nassen Reifen über die Straße rauschten – Ssswuuuuschschschsch. Ich war mit der Aussaat fertig und freute mich über den Regen.
Wir vertrieben uns die Zeit damit, Erdnüsse zu knacken, und ließen die Schalen unter unsere Hocker fallen, während wir übelgelaunt und mit schwerem Herzen dasaßen. Irgendwo tief in unserem Innern wünschten wir uns beide, wir könnten wieder Freunde sein, wussten aber nicht, ob das überhaupt noch ging und was von dem Geschehenen wir würden vergessen oder rückgängig machen können. Ich glaube, man kann wohl sagen, wir beide hatten das Gefühl – ohne dass einer von uns es laut ausgesprochen hätte –, dass nun, nach mehr als dreißig Jahren, unsere Kindheit endgültig zu Ende gegangen war. Dass die verlässlichen, unkomplizierten Freundschaften, die unsere Jugendjahre geprägt hatten, nun auseinanderbrachen. In der halben Stunde, die wir dort saßen, hatten wir kaum hundert Worte gewechselt. Wir schafften es nicht einmal, über irgendwelches belangloses Zeug wie etwa das Wetter zu reden. Die Art, wie wir das Bier hinunterschluckten, hatte etwas Verzweifeltes. Wir tranken, um betrunken zu werden. Um nicht mehr ganz so verkrampft zu sein.
»Ich werde das Glas da stehlen«, sagte Leland.
Ich schielte zu ihm rüber. »Ach ja?« Dann schnipste ich mir eine Erdnuss in den Mund. »Was glaubst du, wie viele Eier da überhaupt drin sind?« Ich klaubte mir ein paar Schalenreste von den Armen und betrachtete abschätzend den Glasbehälter.
Ich hatte schon seit Monaten nichts mehr von dem, was er sagte, ernst genommen. Ich hatte einfach nicht mehr die Geduld dazu. Früher hatte es eine Zeit gegeben, da war ich nicht nur sein Freund, sondern auch sein Fan. Jetzt kam mir das alles so weit weg vor, so kindisch. Es war mir unendlich peinlich, daran zu denken, wie sehr ich Lee vergöttert hatte. So ähnlich wie mein kleiner Sohn die Green Bay Packers vergötterte, deren Trikots er ganz ohne jede Hemmungen trug und deren Poster an seinen Wänden hingen.
Mir hatte schon den ganzen Tag vor diesem Abend gegraut – ihn in der Bar zu treffen, mich mit ihm unterhalten zu müssen. Irgendwann morgens hatte ich hinter einer Kuh mit der Nummer 104 gestanden und das Melkgeschirr an ihren Zitzen angebracht, als sie kaum einen halben Meter von meinem Gesicht entfernt einen riesigen Haufen Scheiße aus ihrem Hintern klatschen ließ. Und doch hatte mir das überhaupt nichts ausgemacht. Das hier machte mir was aus. Man hätte meinen können, ich wäre froh, von meinen Kühen und Feldern wegzukommen, ein paar Stunden mit einem alten Freund zu verbringen, ein paar kühle Biere zu trinken, aber in Wirklichkeit wollte ich einfach nur meine Stiefel ausziehen, mich in meinem Sessel zurücklehnen, meine Augen schließen und mir das blaue Fernsehlicht übers Gesicht flackern lassen, bis es mich so weit betäubt hatte, dass ich einschlief.
»Das ist mir egal«, sagte Lee. »Aber ich sag’s dir – heute Abend werde ich dieses Glas da klauen.«
»Ich wette, da sind an die tausend Eier drin«, sagte ich. »Denkst du denn, du kannst das überhaupt tragen? Du siehst etwas abgemagert aus.«
Die Eier schwebten weiter in der brackigen Lake vor sich hin.
Er zeigte mit dem Finger auf das Glas. »Und du wirst mir dabei helfen.«
Was er eigentlich damit sagen wollte, war: Wir werden das jetzt zusammen tun.
»Scheiße, Mann. Ich muss dir bei gar nichts helfen. Da braucht’s schon wesentlich mehr als nur ein paar Bier, damit ich in der Stimmung für so eine dämliche Aktion bin. Und«, fuhr ich fort und bohrte ihm meinen Zeigefinger in das magere Fleisch seines Oberarms, »ich denke, ich hätte durchaus das Recht, dich jetzt mit Karacho aus der Bar zu prügeln, du Arsch, wenn man bedenkt, was für eine Art Freund du gewesen bist.« Ich hatte nicht vorgehabt, Lee anzublaffen, aber um ehrlich zu sein, war es mir mittlerweile auch ziemlich egal. Was konnte er mir schon antun, was er nicht schon längst getan hatte?
»Na ja, dann trink einfach weiter.«
»Das mache ich.«
Kawumm! Billardkugeln spritzten auseinander. Und im Fernsehen: ein Tempogegenstoß mit Slam Dunk. Und gleichzeitig keuchte draußen ein 79er Chevrolet Impala vorbei, ohne auch nur die Andeutung eines Auspufftopfes – auch wenn der heisere Krach des altersschwachen Wagens von der regennassen Fahrbahn ein wenig gedämpft wurde. Lee kippte sein Glas hinunter. Er schaute von mir weg und wischte sich den Bierschaum von den Lippen.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Ich hätte nicht tun sollen, was ich da getan habe, und es tut mir furchtbar leid.«
»Hör zu, ich möchte einfach nicht darüber reden, okay? Ich will das nicht weiter vertiefen. Wie du mit meiner Frau geschlafen hast.«
»Ihr wart da doch noch gar nicht verheiratet – ich meine – Scheiße, Hank! Verdammt noch mal. Das ist zehn Jahre her! Was hätte ich dir denn sagen sollen?«
»Dass du dich wie ein Arschloch verhalten hast? Das wär ja mal ein Anfang gewesen. Dass ich dir auf keinen Fall trauen kann? Soll ich weitermachen?«
Wir nahmen beide einen tiefen Schluck von unserem Bier.
»He, willst du dich vielleicht prügeln? Ist es das?«, fragte er. »Scheiße, du kannst mich echt zu Brei hauen, wenn das heißt, dass wir dann wieder Freunde sein können. Das macht mir gar nichts aus.«
»Tja, das wäre dann wohl keine richtige Prügelei, oder?«
»Nein. Wohl eher nicht. Also, was sollen wir tun?«
Ich wusste selbst nicht, was wir tun sollten. Irgendwo tief in mir drin hatte ich schon vor Monaten entschieden, dass es überhaupt nichts gab, was wir hätten tun können. Dass wir fertig waren miteinander. Jedes Mal, wenn ich nur annähernd über so etwas wie Vergebung nachdachte, ging mir ein Bild von ihm und Beth durch den Kopf, wie sie zusammen im Bett lagen, und das machte mich absolut wahnsinnig. Ich wurde dann jedes Mal so wütend, dass ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste, als zu der Bowlingbahn in Whitehall zu fahren, um dort eine acht Kilo schwere Kugel so fest ich konnte in zehn Kegel hineinzuschmettern, nur um das Gefühl zu bekommen, ich hätte gerade irgendetwas in kleine Stücke gehauen. Ich fuhr auf dem Weg dorthin und wieder zurück immer so schnell ich konnte, über hundert Meilen pro Stunde, und wenn ich dann an eine Kreuzung kam, trat ich hart auf die Bremse, nur um zu spüren, wie sich der Sitzgurt tief in meinen Leib grub, und zu hören, wie die Reifen protestierend kreischten. Nur um etwas anderes zu fühlen als Eifersucht und Wut.
Ich fuhr mir mit einer Hand durchs Haar. Trank mein Bier aus und bestellte noch eine Kanne. »Ich weiß auch nicht, Lee. Ich habe keine Ahnung.«
»Na ja, ich habe irgendwie das Gefühl, dass der Schlüssel zu allem darin liegen könnte, dieses Glas da mit den Eiern zu klauen.«
Die Barkeeperin stellte die neue Kanne Bier vor uns hin und verschwand dann wieder, um sie auf unsere Rechnung zu setzen. Ich goss uns nach und ich muss zugeben, dass ich für einen Augenblick mildere Gefühle hegte, nur weil ich gerade Bier in Lees Glas geschüttet hatte, weil ich etwas Vertrautes und Nettes für ihn getan hatte. Denn es stimmte ja, wir hatten schon so viele Stunden, sogar Tage damit verbracht, genau das zu tun, was wir jetzt gerade taten: zusammen zu trinken und uns zu unterhalten. Und doch …
»Also, tust du’s? Klaust du mit mir dieses Glas voller Eier?«, fragte er.
»Nein.«
»Wären Sie so freundlich, Sir? Würden Sie bitte, bitte dieses Glas Eier mit mir klauen?« Er hatte sich auf einen neckischen Ton verlegt und ich glaube, ich habe sogar ein wenig geschmunzelt. Gleichzeitig fragte ich mich, wie sein großartiger Plan wohl aussah, wie er mit einem riesigen Glasbehälter voller eingelegter Eier aus der Bar rauskommen wollte.
»Nee. Ich bin noch nicht so weit.«
»Aber du ziehst diesen gewagten Raubzug zumindest schon mal in Betracht – habe ich recht?
»Schon möglich. Es kann schon sein, dass ich ein ganz klein wenig neugierig geworden bin. Aber vielleicht denke ich ja auch nur, dass du nichts als einen Haufen Scheiße im Kopf hast.«
»Weil, jetzt bist du nämlich ein Komplize. Du hast gar keine Wahl mehr. Oder du müsstest mich bei den entsprechenden Stellen anzeigen.« Ich konnte erkennen, dass er auf dem besten Wege war, betrunken zu werden. Er kippte das billige helle Bier herunter. »Bei den zuständigen Behörden, sozusagen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ich bin betrunken – ich weiß auch nicht. Vielleicht weiß ich gar nicht, was ich da gerade rede. Aber ja, es ist mein Ernst. Diese Eier da, die machen sich über uns lustig. Schau sie dir nur an. Und außerdem ist es eine Verzweiflungstat. Okay? Ich weiß einfach nicht, wie wir beide sonst den Karren aus dem Dreck ziehen könnten, außer mit irgend so ’ner kindischen Tat, verstehst du, so ’ne Art Solidaritätsübung. Und während ich hier so neben dir saß und zu diesen wahnsinnig ekelhaften Eiern da rüberschaute, kam mir plötzlich die Idee, dass wir die kleinen Scheißerchen einfach klauen könnten.«
»Du bist ein Vollidiot.«
»Also, wie viele Eier glaubst du sind da wohl drin?« Er wies mit dem Zeigefinger auf das Glas, kniff in gespielter Konzentration die Augen zusammen und runzelte scherzhaft die Stirn.
»Nein!«, bellte ich ihn an und schlug seinen Finger weg. Ich war plötzlich wieder wahnsinnig wütend. »Das ist unglaublich kindisch, Scheiße noch mal.« Ich verstummte und sprach dann ein bisschen leiser weiter. »Du, du hast meine Ehe kaputtgemacht! Du hast meine Familie kaputtgemacht! Und jetzt sitzen wir zusammen hier und zählen Eier? Und reden darüber, wie wir so’n beschissenes Glas mit eingelegten Eiern stehlen können, als würdest du damit irgendetwas wieder in Ordnung bringen? Als könnten wir danach einfach so tun, als wäre nichts geschehen?«
Lee sah mich jetzt an, sah mir direkt in die Augen und ich konnte sehen, dass in seinen Tränen standen, dass er wirklich nicht mehr wusste, was er sagen sollte, und dass es ihm tatsächlich leidtat. Dass es nichts mehr gab, was wir tun konnten.
»Scheiße«, sagte ich. »So sieht’s also aus, wenn einen die Realität einholt.« Ich ballte die Faust, wünschte mir sehnlichst, ich könnte ihn zusammenschlagen.
»Es tut mir leid«, sagte Lee. »Es tut mir wirklich und wahrhaftig leid. Ich dachte, ich hätte in Chloe die perfekte Frau gefunden, und na ja, es hat einfach nicht geklappt. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Aber ich hoffe sehr, dass du es schaffst, dass du es irgendwie schaffst, mir wieder zu vertrauen. Und ehrlich, ich würde es ja verstehen, wenn du das nie wieder könntest. Aber du bist mein bester Freund, in der ganzen weiten Welt, verstehst du? Und ich liebe dich. Ich weiß echt nicht, was ich sonst noch sagen soll.«
Dann stand Lee von seinem Barhocker auf, trank ein ganzes Glas Bier in einem Zug und ging in den hinteren Teil der Bar, wo die Toiletten waren.
Ich saß da, betrachtete das Holzmuster der uralten Theke aus Mahagoni und schaute dann zur Hauptstraße hinaus, wo die Straßenlaternen ein anheimelndes Licht auf den glatten, nassen Asphalt warfen. Ich seufzte. Denn es gab tatsächlich nichts mehr, was ich hätte tun können. Und manchmal ist das auch schon alles, was man zur Vergebung braucht: ein tiefes Seufzen. Ich habe meinen Vater sehr geliebt, aber ich war nie so stark wie er. Ich könnte mir ein Leben ohne Leland und Ronny und sogar ohne Kip oder Eddy oder die Girouxs nicht vorstellen. Ich wollte Lee wieder zurückhaben, in unserem Haus, wollte, dass er wieder zum Lagerfeuer zu uns kam und zum Essen, wollte ihn von seinem Leben und seinen Reisen und der Musik erzählen hören, die er gerade schrieb. Was sollte ich denn tun? Mich für den Rest meines Lebens in irgendein verbittertes Joch spannen, mich vom Zorn regieren lassen? Und was würde das wohl mit meiner Ehe machen, mit Beth, mit meinen Kindern?
Ich seufzte noch einmal, hörte, wie er zurückkehrte, wie sein Gewicht das schwarze Sitzkissen des Barhockers herunterdrückte, wie er sich Bier ins Glas goss. Draußen auf der Hauptstraße trottete ein nasser Hund mit eingezogenem Schwanz und gesenktem Kopf vorbei.
»Also, wie schaffen wir dieses Glas jetzt hier raus?«, fragte Lee. »Ohne dass es jemand mitkriegt?« Er schaute sich in der Bar nach potentiellen Zeugen um, von denen es vielleicht ein Dutzend gab. Es war nicht viel los an diesem Abend.
»Hör zu«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll.«
»Ich lasse mich nicht abhalten«, sagte er und zeigte auf die Eier.
»Ich meine es ernst. Ich muss dir was sagen und das muss ich jetzt irgendwie loswerden und da kann ich es verdammt noch mal nicht gebrauchen, dass du mich mit diesem scheiß Geschwätz über eingelegte Eier unterbrichst.« Ich holte tief Luft. »Ich bin so verdammt wütend auf dich, dass ich dich umbringen könnte. Wirklich umbringen könnte. Verstehst du? Ich habe nie an Beth gezweifelt, nie, bis letztes Jahr. Habe ihr immer hundertprozentig vertraut. Sie immer geliebt. Und jetzt? Was jetzt? Sie ist alles, was ich habe, Mann. Sie und die Kinder, das ist alles, was ich habe. Und es fühlt sich einfach so an, als –« Ich schwieg.
»Als hätte ich dir das weggenommen.«
»Halt um Gottes willen die Fresse. HALT DIE FRESSE!«
Er hielt die Hände hoch.
»Ja. Als hättest du mir das weggenommen.«
Wir schlürften wieder unser Bier.
»Und ich kann es ja fast verstehen. Es ist Jahre her«, fuhr ich fort. »Und wir waren noch nicht verheiratet. Aber verstehst du denn auch? Ich bin nicht reich, Lee. Ich bin nicht berühmt. Beth ist alles, was ich habe. Meine Familie ist alles, was ich habe. Und wenn ich könnte, dann würde ich dich so lange schlagen, bis nichts mehr von dir übrig ist.«
Ich trank so schnell aus meinem Glas, dass mir das Bier aus den Mundwinkeln lief, und wischte es dann mit dem Arm ab. »Verdammt noch mal«, sagte ich und schlug so fest mit der Handfläche auf den Tresen, dass unsere Gläser in die Luft sprangen und die ganze Bar verstummte. Die übrigen Gäste starrten aus ihren Nischen und von ihrem Poolspiel zu uns herüber.
»Es tut mir so unendlich leid, Hank.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich bitte dich um Verzeihung. Es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid, Mann. Das ist alles, was ich noch sagen kann.«
»Toll, es tut dir leid. Klasse. Na gut – damit kannst du jetzt mal anfangen. Spiel mal den scheiß berühmten reichen Sack und spendier uns noch ’ne Runde. Wie wär’s damit?«
Ich ging zur Jukebox und drückte ein paar Knöpfe: Ein bisschen Creedence und ein paar Stücke von Crosby, Stills, Nash & Young. Als ich zur Theke zurückkehrte, hatte Lee mein Glas erneut gefüllt und stopfte sich den Inhalt einer Chipstüte in den Rachen. Er bot mir davon an. Ich nahm die Tüte, schüttete mir ein paar Chips in den Mund, kaute und sah alles in der Bar an außer Lee.
»Diese Dinger hier haben die Konsistenz von Sägemehl«, sagte ich.
»Ich weiß. So als wäre jemand draufgetreten.«
»Trotzdem«, sagte ich. »Besser als nichts.«
»Keiner wird diese gottverdammten Eier vermissen, das schwör ich dir«, sagte er leise zu mir.
»Wann hast du das letzte Mal jemanden eins kaufen sehen? Das sind wahrscheinlich genau dieselben Eier, die schon mein Dad hier hat stehen sehen, als er noch jung war. Diese Eier da könnten zwanzig, dreißig Jahre alt sein. Sie verdienen es geradezu, geklaut zu werden. Sie wollen geklaut werden. Da bin ich mir todsicher. Und ich lass mich nicht davon abbringen.« Sein Ton war verschwörerisch. Dann trank er noch einen Schluck Bier. »Nein, nein, auf keinen Fall.«
Ich schaffte es nicht, die Sache ruhen zu lassen. »Wie oft ist es passiert?«, fragte ich.
Lee hielt im Trinken inne und starrte mich an. Der Bierschaum klebte in seinem Fünftagebart. Dann strich er sich mit seinen dünnen Fingern, auf denen die Adern hervortraten, übers Gesicht, zog seine Baseballkappe zurecht und schaute mich ohne zu blinzeln an. Ich starrte zurück.
»Ein einziges Mal.«
»Ein Mal?«
»Ein Mal.« Er hob seinen Zeigefinger in die Höhe und zog ihn dann schnell wieder zurück. Zuckte entschuldigend mit den Schultern, eine Geste, die ich ziemlich unangebracht fand.
»Ein Mal?«
»Es tut mir leid.«
»Kann ich dir vertrauen?«
»Ja.« Er nickte.
»Hast du gewollt, dass es öfter passiert?«
Er schüttelte den Kopf. »Hör zu – nein. Es war ein Fehler.«
Er lügt. Der miese Arsch lügt wie gedruckt. »Ach ja? Das glaube ich dir nicht. Siehst du, genau das meine ich. Selbst wenn ich dir jetzt verzeihe, wie zum Teufel soll ich dir jemals wieder vertrauen? Du bist nichts als ein gottverdammter Lügner.«
»Okay. Ja, okay? Ja, ich habe gewollt, dass es öfter passiert. Ich war einsam. Scheiße, ich hing in diesem Farmhaus fest, am Arsch der Welt, mit drei Mexikanern und einer alten Lady, und ich war davon überzeugt, ein totaler Versager zu sein. Natürlich wollte ich mit jemandem schlafen.«
»Hätte es auch irgendjemand anders sein können?«
Er schien über meine Frage nachzudenken. Ich beobachtete sein Gesicht, während ich mein Bier trank.
»Ja. Ja, ich denke, es hätte auch jemand anders sein können.«
»Glaubst du, Beth hätte es gern noch mal getan?«
»Nein, Mann. Hör zu, sie liebt dich. Das weiß doch jeder. Sie hat dich immer schon geliebt.«
»Hast du sie geliebt?«
»Nein. Ach, Scheiße.« Er klopfte mit den Knöcheln auf den Tresen. »Ein bisschen. Ja. Jetzt nicht mehr. Aber damals – ein bisschen. Natürlich tat ich das. Wie denn auch nicht? Ja.«
Ich wandte den Blick von ihm ab und schaute wieder zu dem Glasbehälter.
»Das öffnet einem ja echt die Augen«, sagte ich. »Ziemlich ernüchternde Enthüllungen, die da von allen Seiten kommen.«
Ich hielt zwei Finger in die Luft, in Richtung der heftig schwitzenden Barkeeperin, Joyce, die nach ein paar Augenblicken zu uns kam. Zwischen ihren faltigen Lippen klemmte eine unangezündete Zigarette.
»Jungs«, sagte sie ausdruckslos. »Was darf ’s sein?«
»Gib uns zwei Gläser von irgendwas Hartem, das Billigste, was du hast, und noch eine Kanne Bier«, sagte ich.
»Was habt ihr zwei denn hier vor? Wollt ihr mir das ganze Bier wegtrinken?«
»Genau das ist der Plan«, sagte ich.
»Unser großer toller Plan«, wiederholte Lee.
Sie wandte sich ab und ging in Richtung der Zapfhähne, als Lee aufsprang und sich auf seinen Stuhl stellte. »He, Joyce, warte! Komm zurück! He, wie viele Eier sind da in dem Glas?«
Sie sah uns an. »Woher zum Teufel soll ich das wissen? Wollt ihr eins? Fünfzig Cent.«
»Nee«, sagte er. »Ich will keins. Die sehen echt ekelhaft aus. Ich will einfach nur wissen, wie viele da drin sind.«
Sie seufzte tief, als gäbe sie es auf. Sie kannte uns, hatte in der Kantine der Grundschule gearbeitet und uns das Essen in die Vertiefungen unserer Plastiktabletts geschaufelt, als wir ihr noch nicht mal bis zur Hüfte reichten. Ihr Mann war ein Farmer und hatte schon oft mit mir und den Giroux-Zwillingen zu tun gehabt. Sie schaute auf das Glas und dann zurück zu Lee und sagte schließlich: »Zweihundertzwölf.« Dann ging sie wieder weg.
»Nein! Nein! Nein!«, brüllte Lee ihr hinterher. »Komm zurück! Das kann unmöglich stimmen!«
»Lee!«, brüllte sie ihn an. »Du bist betrunken. Und Hank ist auch betrunken. Ich hole euch jetzt euer Bier und euren Schnaps und dann komme ich wieder zurück und werde kassieren. Und dann macht ihr, dass ihr hier rauskommt. Und es ist mir schnurzegal, wie viele Grammys du hast, von mir aus kannst du hundert Grammys haben. Damit kannste dir den Arsch abwischen. Und damit basta.«
Und dann drehte sie sich um und ging.
»Das hast du ja super hingekriegt, du Arschloch. Ich bin noch nie aus einer Bar geschmissen worden.«
»Tja, also«, sagte Lee. »Wo waren wir stehen geblieben? Ist jetzt alles okay mit uns?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass das so einfach geht. Ich glaube, es wird noch etwas Zeit brauchen, verstehst du? Wenn’s überhaupt noch geht. Ich muss dir wieder vertrauen können. Ich muss dir wieder so weit trauen können, dass ich dich in die Nähe meiner Frau lasse. Ich meine …«
Die Jukebox spielte ein langsames Lied. Und in diesem Augenblick schien zwischen ihm und mir für einen Moment die Zeit zu erstarren. Für alle anderen dort blieb das Gefüge der Welt unverändert, war so, wie es immer schon gewesen ist, aber zwischen uns trennte sich lautlos etwas ab, eine Art Verwerfung, wie eine kleine Landmasse, die von der Küste abbricht und aufs Meer hinausgetragen wird. Und ich war trauriger, als ich es je zuvor gewesen war. Und einsamer. Weil ich in diesem Augenblick wusste, dass wir zwar Freunde bleiben konnten, aber auch, dass ich ihm nie wieder vertrauen würde, ihn nie wieder in Beths Nähe lassen konnte. Das Leben hatte seinen Lauf genommen. Entscheidungen waren getroffen worden.
Joyce kam mit schwabbelnden Armen zu uns zurück – sie trug eine Kanne Bier in der einen Hand und drei Schnapsgläser in der anderen, die mit irgendeiner ahornsirupähnlichen Flüssigkeit gefüllt waren. Sie stellte alles auf dem Tresen ab und verteilte dann die Schnapsgläser: Eins für Lee, eins für mich und eins behielt sie selbst in der Hand.
»Hoch die Tassen«, sagte sie und kippte ihren Drink hinunter.
»Salut!«, bellten wir einstimmig. Wir tranken unsere Gläser in einem Zug aus und knallten sie dann auf das Holz des Tresens.
»Holla!«, sagte Lee.
»Das macht zehn Dollar«, sagte Joyce.
Ich gab ihr das Geld. Sie lehnte sich über die Bar zu uns herüber und sagte: »Ich mein’s ernst, Jungs, trinkt euer Bier aus und dann macht, dass ihr hier rauskommt. Ihr zwei verscheucht mir sonst noch die anderen Gäste. Alles klar? Also, seht zu, dass ihr ’ne Fliege macht.«
Wir tranken die Kanne so schnell wir konnten aus, ließen beim Anstoßen wütend unsere Gläser aneinanderklirren, als wollten wir sie zerschmettern oder uns gegenseitig die Handgelenke brechen, traurig und haltlos, wie Schiffe, die man vom Anker losgemacht hat. Um uns brandete der Lärm der Bar.
»Was wir jetzt brauchen«, sagte Lee, »ist irgendein Ablenkungsmanöver.«
»Ich habe keine Ahnung, wie wir das hinkriegen sollen.«
»Du könntest eine Prügelei anfangen.«
»Nein. Das ist doch lächerlich. Ich will nach Hause. Wie spät ist es überhaupt?« Ich sah auf meine Uhr – 23 : 39.
»Wart mal ’ne Minute.«
»Was?«
»Ich hab eine Idee.«
Er stand auf, schlich sich zu der Jukebox und suchte in den Taschen seiner Jeans nach etwas; nach irgendwelchem übriggebliebenen Kleingeld, wie ich annahm. Dann gab er einen Buchstaben und eine Nummer ein, und schon nach den ersten paar Tönen, die aus dem alten Gerät kamen, wusste ich, dass es A1 war, das allererste Lied auf dem Album, das unser Soundtrack gewesen war an so unendlich vielen Sommernächten unserer Teenagerzeit. Ich schüttelte den Kopf. In einer Kleinstadt kann man sich vor nichts und niemandem verstecken.
Mittlerweile hatte sich Lee auf einen Stuhl im hinteren Teil der Bar gestellt und rief in seinem tiefen Bariton laut in den Raum: »He! Hallo! Hört mal zu, Freunde! Hat irgendjemand Lust, mit mir zusammen zu singen? Irgendjemand? Weil, das hier ist nämlich der verdammt beste Song, den es je gegeben hat, und ich würde ihn gerne jetzt und hier mit euch singen.«
Eine Gruppe von vielleicht vier oder fünf Frauen, die alle etwa Mitte fünfzig oder sechzig waren, scharten sich um ihn, während sich zu den ersten Klavierklängen des Liedes das Schlagzeug und die Bassgitarre gesellten und dieser amerikanische Klassiker seinen Lauf nahm … Er zwinkerte mir zu, machte eine Bewegung zu dem Glas hin, und wahrhaftig, Joyce stand am anderen Ende der Bar, schaute ihm zu und hatte mir den Rücken zugekehrt.
Und da kroch ich tatsächlich hinter den Tresen, auf Zehenspitzen, was gar nicht nötig gewesen wäre, und den Anflug eines Lächelns im Gesicht, das ich mir irgendwie nicht verkneifen konnte, kroch immer näher und näher heran an dieses absurde riesige Glasgefäß voller eingelegter Eier, während ich dachte: Das ist doch Wahnsinn. Was zum Teufel tust du da gerade?
Und die ganze Zeit sang der Jukebox-Chor:
I was a lonely, teenage broncin’ buck
With a pink carnation and a pickup truck
But I knew I was out of luck
The day the music died
Dann zeigte Lee auf mich, während er im Takt mit dem Kopf nickte und mit dem Mund die Worte »Jetzt! Jetzt! Jetzt! Schnapp dir das Glas!« formte. Und dann zog er eine wahre Show ab, lenkte sie alle ab, indem er lauter Biergläser umwarf, Queues durch die Gegend schmiss und ein paar der betagten Kneipenhäschen in den Hintern kniff.
Und ich, ich hatte die Arme schon so fest um das Glas geschnürt, als wollte ich einen Riesen zu Fall bringen, war in die Knie gegangen, um mir den Rücken nicht zu ruinieren, und hob das Ding jetzt hoch! Ich hob es hoch, als sei ich Teilnehmer irgendeiner olympischen Disziplin … hob es runter von der Bar. Und dort, wo es gestanden hatte, hatte das Mahagoniholz einen vollkommen anderen Farbton und ein großer dicker Ring aus Staub hatte sich um die Stelle gebildet. Und da war Leland und grinste mich begeistert an, klatschte in die Hände, während die Eier geradezu obszön im Glas herumschwappten, und dann löste er sich von dem Jukebox-Chor, immer noch lauthals singend, und wir stolperten aus der Tür und in die Nacht hinaus, zwei Eierdiebe, die wie verrückt vor sich hin kicherten, verrückt und albern und mit unendlich gebrochenen Herzen. Und im nächsten Moment waren wir auch schon verschwunden, hinein in die neblige Nacht von Wisconsin, ohne Ziel und Zuflucht, mit einem riesigen Glas voll eingelegter Eier.
»Und was jetzt?«, fragte ich, während ich nach Atem ringend weiterstolperte und mir das Glas beinahe entglitt. Lee versuchte, es festzuhalten, mir dabei zu helfen, es wieder besser zu fassen zu kriegen. Wir liefen so schnell wir konnten die Hauptstraße hinunter, weg vom VFW und in Richtung der paar hundert Häuser, die es in Little Wing gab und von denen die meisten nun dunkel waren. Nur in ein paar Fenstern flimmerte noch das blaue Licht eines Fernsehers, vor dem irgendjemand eingeschlafen war, in einem abgewetzten Lehnstuhl und mit hochgelegten Füßen.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Lee. »Aber ich will grad nicht zu viel darüber nachdenken.«
Wir überquerten die Hauptstraße und trotteten die Elm Street hinunter, wo es schon seit ziemlich vielen Jahren keine Ulmen mehr gab, abgesehen von ein paar hartnäckigen Baumstümpfen, die erst noch vollständig verrotten mussten. Es war schon viele Jahrzehnte her, dass eine Krankheit alle Ulmen entlang der Straßen von Little Wing ausgelöscht hatte. Lee blieb einen Moment lang stehen, hob den Glasdeckel von dem Behälter und warf ihn in den Vorgarten eines der Häuser, neben denen wir standen.
»Los!«, befahl er. »Schnapp dir ein Ei.«
»Jetzt mal langsam, halt, halt! Das ist doch jetzt die Gelegenheit, um die Dinger zu zählen«, nuschelte ich, während ich immer noch das Glas festhielt. Ich war plötzlich sehr betrunken. »Scheiße«, sagte ich dann. »Äh, ich setz das Ding mal ab, okay?«
»In deinem Zustand kannst du doch nicht mehr zählen«, sagte Lee.
»Ich kann immer noch besser zählen als du.«
»Jetzt hör auf mich und hol dir einfach ein Ei da raus, okay? Schnapp dir eins, so lange sie noch warm sind.«
»Das ist echt bescheuert.«
Er lachte und wies mit dem Finger auf mich. »Aber es ist kein Trauerspiel, oder?«
Ich setzte das Glas ab, steckte meinen Arm in das Meer aus eingelegten Eiern und grapschte mir vier von den schlüpfrigen Dingern.
»Stimmt’s?«, beharrte er.
Ich zog meine Hand aus dem Glas und sie glänzte im Dämmerlicht der Nacht, als hätte man sie lackiert.
»Das war eine saublöde Idee«, sagte ich. »Wir hätten diese stinkenden Eier nicht klauen sollen.«
»Schmeiß eins auf das Auto da drüben.«
»Das ist Eddys Auto«, sagte ich. »Ich kann doch kein Ei auf Eddys Auto werfen. Er ist unser Freund.«
»Ach ja? Aber wenn hier jemand gut versichert ist, dann er. Wenigstens heutzutage.«
Lee hörte auf zu reden, nahm mir eines der Eier ab, wog es prüfend in der Hand, strich über die gepökelte, klamme, graue Haut, holte aus und pfefferte es dann mit aller Kraft auf Eddys Ford Taurus.
Das Ei spritzte zwar nicht auseinander, aber es war nahe dran. Mit einem lauten Knall prallte es auf den amerikanischen Stahl der Fahrertür und drückte eine Delle ins Metall. Lee lachte. Anscheinend war es nicht sehr schwer gewesen, das Ei zu werfen, es wog nicht viel und hatte eine Form, die sich perfekt dazu eignete, es mit Daumen, Mittel- und Zeigefinger zu greifen und dann hinaus in die Nacht zu schleudern. In diesem Augenblick tauchten am anderen Ende der Straße zwei Scheinwerfer auf, die über den nassen Asphalt gleitend auf uns zukamen.
»Versteck dich da hinter dem Baum«, zischte Lee und hievte sich das Glas auf die Hüfte. Seine Hose war von der Lake vollkommen durchtränkt und wir stanken nun beide ganz fürchterlich. Wir hechteten hinter ein paar junge Ahornbäume, die kaum groß genug waren, um uns Deckung zu geben, hörten, wie das Auto sich näherte, und ließen es vorbeifahren. Dann sprang Lee hinter dem Baum hervor, holte aus und warf. Das Ei segelte durch die Luft, während es sich auf seiner krummen Flugbahn unablässig um sich selbst drehte, und traf den sich von uns entfernenden Toyota Camry an der Stoßstange. Wir sprangen zurück in die Dunkelheit und sahen zu, wie das Auto abrupt stoppte, eine Weile mit laufendem Motor dastand und dann weiterfuhr.
»Können wir jetzt bitte nach Hause gehen?«, fragte ich. »Bist du jetzt fertig? Ich habe schließlich Kinder, verdammt noch mal. Ich kann mich nicht bei so einer hirnrissigen Scheiße erwischen lassen.«
»Ach, jetzt hab dich nicht so! Lass einfach mal die Sau raus!« Er hob das Glas auf und ging weiter die Elm Street hinunter, von der Hauptstraße fort. »Komm schon, vertrau mir!«
»Wo zum Teufel willst du hin?«, brüllte ich und weigerte mich, ihm einfach hinterherzutraben. Aber als er keine Antwort gab, folgte ich ihm doch, in einem Abstand von fünf oder sechs Metern. Ich sah meinem Freund dabei zu, wie er vor sich hin stolperte, über Risse im Bürgersteig oder hartnäckige Baumwurzeln, die sich durch den Beton gegraben hatten. »He, okay, nun warte doch. Lass mich das Ding da tragen. Ich bin stärker als du.«
Er gab mir das Glas und nahm dann acht Eier heraus, genug, um beide Hände zu füllen. »Ich will mich auf die Eisenbahnbrücke setzen. Die, die über die Schnellstraße geht«, sagte er.
»Okay«, sagte ich. Und so wankten wir sehr betrunken in die angegebene Richtung.
Das Stahlgerüst der Brücke war im Lauf der Zeit von einem rostigen Schorf überzogen worden. Generationen von Highschoolschülern hatten sich mit bunter Sprühfarbe darauf verewigt, hatten ihre Namen und ihre heiligsten Liebes- und Hassschwüre daraufgemalt. Wir saßen über der Schnellstraße, ließen unsere Stiefel über der Tiefe baumeln und hatten das Glas zwischen uns gestellt. Die Eier schienen in der dunklen Nacht zu leuchten.
»Jetzt sind nur noch wir übrig«, sagte Lee.
»Was meinst du damit?«
»Alle anderen sind gegangen. Ronny und Lucy. Kip und Felicia. Nur wir sind noch übrig. Die letzten Mohikaner.«
Ich zuckte mit den Schultern und ließ ein Ei von der Brücke fallen. Es zerplatzte auf dem Asphalt unter uns. Es war keine besonders nasse Explosion – eher so, als hätte man ein wenig Wackelpudding fallen gelassen. Die Eipartikel kapitulierten einfach und zerstreuten sich über eine kleine Fläche. Ich ließ ein zweites Ei fallen, und dann noch eins und noch eins und trotzdem war das Glas immer noch so gut wie voll.
»Ich bin der Einzige, der an dieses Land gebunden ist«, sagte ich. »Ihr anderen – euch kann ich’s gar nicht mal verdenken. Und du«, fügte ich hinzu, »du wirst auch wieder weggehen. Du wirst eine andere Frau finden und sie wird auch nicht hier leben wollen. Sie wird dich nach Los Angeles schleppen oder Paris oder wieder nach New York. Du wirst schon sehen. Leute wie du«, sagte ich und warf noch ein Ei in die Nacht, während ich ein wenig nüchterner wurde und auch ein wenig gehässiger, »die gehören hier nicht her. Du passt nicht mehr rein. Jedenfalls nicht richtig. Du hast zu viel Geld.«
Lee schaute auf die nasse Straße und schälte ein großes Stück Farbe von der Brücke. Ich konnte sehen, dass meine Worte ihn verletzt hatten.
»Da irrst du dich«, sagte er. »Ich bleib jetzt hier, Kumpel. Endgültig. Ich hab die Mühle gekauft. Habe sie Kip abgekauft. Hab meinen Einsatz auf den Tisch gelegt, sozusagen. Gut möglich, dass ich damit mein Geld in den Wind geschmissen hab, wer weiß, aber ich hab mehr als eine Million investiert und werde also auf keinen Fall von hier weggehen. Ich gründe ein Aufnahmestudio und dann werd ich noch ein kleines Theater aufmachen. Diese verschlafene kleine Stadt hier kriegt jetzt ihre Livemusik, ob sie will oder nicht. Und es ist mir egal, ob die Farmer zu den Shows kommen. Wir werden unser Publikum aus Minneapolis und St. Paul hierherlocken, und aus Eau Claire und La Crosse und aus dem gottverdammten Milwaukee, und sie werden schon kommen, weil es nämlich meine Mühle ist – meine Mühle in dem urigen kleinen Ort Little Wing. Und wer weiß, vielleicht finde ich ja auch nie wieder eine Frau. In New York werde ich jedenfalls nicht nach ihr suchen, da kannst du Gift drauf nehmen.«
Er biss gedankenverloren in eins der Eier, spuckte es dann sofort wieder aus und wischte sich die Zunge mit einem Zipfel seines Hemdes ab. »Scheiße.«
Ich saß da und war sprachlos. »Du hast die Mühle gekauft?«
Er zuckte mit den Schultern. »Das war das einzig Richtige. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Kip vor die Hunde gehen lassen? Ich würde dasselbe für dich tun, Kumpel, wenn du mich nur lassen würdest. Wir könnten Partner sein.«
»Ach ja? Darauf kannst du lange warten.«
Er heftete seinen Blick auf ein Paar Autoscheinwerfer in der Ferne, die in unsere Richtung kamen. Der Wagen fuhr ziemlich schnell und geriet auf der nassen Fahrbahn immer wieder leicht ins Schlingern. Wir konnten es beide sehen, konnten hören, wie die Reifen bei jeder Kurve kreischten. Es war die Art von schlampigem, viel zu schnellem Fahrstil von jemandem, der nachts betrunken auf der Landstraße unterwegs ist; jemand, der viel zu spät in die Kurven lenkt, weil seine Reflexe verlangsamt sind und seine Sicht vom Bier vernebelt ist.
Lee schnappte sich flink ein Ei. Seine Finger gruben kleine Vertiefungen in die glatte, graue Haut. Mit gehobenem Arm wartete er, bis das Auto nur noch ungefähr zehn Meter von uns entfernt war, holte aus und warf dann das Ei – fest und gerade und genau ins Ziel. In den wenigen Millisekunden, die das Ei auf seinem Flug brauchte, konnte man das Fahrzeug immer deutlicher erkennen. Es war ein aufgemotzter kleiner Mazda, den keiner von uns beiden kannte, mit blitzenden Felgen und einem Fahrgestell, das in einer seltsam ätherischen violetten Farbe leuchtete. Laute Musik dröhnte zu uns hoch, die Windschutzscheibe war dunkel getönt, und dann – klatsch! – breitete sich ein Netz aus Rissen über die gesamte Glasscheibe aus, die Reifen gerieten ins Rutschen und es sah fast so aus, als würden die Bremsen Funken schlagen, während das fremde Fahrzeug abrupt zum Stillstand kam.
»Scheiße«, sagte ich. »Wahnsinn, du hast sie echt erwischt, Kumpel. Mitten ins Schwarze.«
Es wurde ganz still um uns herum und wir standen auf und schauten nach unten, wo das Fahrzeug unbeweglich auf der Straße stand. Dann öffnete sich eine der Türen und ein dürrer junger Typ stieg aus, der fast noch ein Kind zu sein schien. Seine Kleider waren viel zu groß für ihn, er hatte mehrere Goldkettchen um den Hals hängen und seine weite, seidig glänzende Hose ging ihm gerade mal bis zu den dünnen Knöcheln. Und in der Hand hielt er eine sehr eindrucksvolle, verchromte Beretta-Pistole. Zuerst bemerkte er uns nicht, denn die Scheinwerfer seines Mazda leuchteten unter der Brücke hindurch und auf die dahinterliegende Straße hinaus. »Eh, Scheiße, eh, wer war das? Welches verfickte Arsch hat meine Windschutzscheibe geschrottet?«, brüllte er in die Nacht hinaus. Der Junge klang unsicher, und ich konnte erkennen, dass er sich verzweifelt bemühte, der grenzenlosen Dunkelheit der Nacht etwas entgegenzusetzen, indem er sich für uns in Pose warf und versuchte, seine Stimme tiefer klingen zu lassen. Und obwohl er noch ein halbes Kind war, ein Teenager, hatte ich Angst vor ihm, vor ihm und seiner Pistole.
»Und was jetzt, du Schlaumeier?«, flüsterte ich Lee zu.
»Scheiße«, sagte Lee und klang plötzlich ganz nüchtern. »Scheiße. Das war nicht geplant, dass der ’ne Pistole hat.«
»Nee, verdammt, überhaupt nicht. Er sieht aus, als hätte er sich hierher verirrt.«
Der Junge stand nicht weit von uns entfernt, in einem flatternden weißen T-Shirt. Er hatte die Arme herausfordernd ausgebreitet und die Pistole glänzte im Scheinwerferlicht. Die Baseballkappe, die er auf dem Kopf trug, saß schief und wir konnten sehen, dass er leicht zitterte. Auf seinem fliehenden Kinn, das ebenfalls ein wenig bebte, spross ein dünner blonder Spitzbart und seine langen blonden Haare fielen ihm in geflochtenen Strähnen den Rücken hinunter.
Dann sagte Lee laut: »Ich bin hier oben« und hielt als Geste der Kapitulation seine Hände hoch.
Der Junge schaute hoch, zielte mit seiner Pistole und schoss. Das Glas mit den eingelegten Eiern explodierte und sein Inhalt ergoss sich in einem ekelhaften Wasserfall aus Lake und Eimasse in die Tiefe. Der Junge wurde zwar nicht direkt getroffen, aber die Eier zerplatzten mit gewaltiger Kraft auf dem Asphalt und durchtränkten seine Basketballschuhe, seine Hose und sein weißes T-Shirt.
Wir hielten den Atem an. Lee hatte seine Hände immer noch in die Luft gestreckt. Ich kauerte mich tief in den Schatten und tastete mit meiner Hand nach den kühlen, nassen Bahnschienen.
»Was für eine Scheiße!«, rief der Junge entsetzt.
Wir schauten zu, wie er stocksteif dastand, mit ausgestreckten Armen und aufgerissenem Mund, während er an sich selbst heruntersah. Die Luft war plötzlich mit dem Geruch nach Eiersalat erfüllt.
Der Junge schaute zu uns hoch, verzog höhnisch das Gesicht und schoss zum zweiten Mal.
Lee wurde getroffen und stürzte mit einer Kugel im Bein zu Boden. Er schrie nicht, aber er rang verzweifelt nach Atem. Befriedigt steckte der Junge die Pistole in den Bund seiner Unterhose, stieg wieder in sein Importauto und rauschte davon. Wir blieben allein in der Dunkelheit zurück. Ich ging zu Lee, zu meinem Freund, und beugte mich zu ihm herunter.
»Verdammt, tut das weh«, stöhnte er. »Ich sag’s dir, Hank – es brennt wie Feuer.«
»Ich geh jetzt den Wagen holen, Kumpel«, sagte ich. »Ich lauf sofort los. Wir fahren dich ins Krankenhaus.«
»Ja, hol den Wagen.«
»Darauf kannst du wetten, Lee. Ich hol den Wagen und wir fahren dich ins Krankenhaus.«
Seine Hand schnellte durch die Dunkelheit und packte mich. »Nein«, sagte er. »Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
Er saugte die Luft laut durch die Zähne ein und stieß sie dann mit einem pfeifenden Geräusch wieder aus. »Weil das erstens wahnsinnig schlechte Publicity wäre.« Er holte erneut schmerzhaft Atem. »Und zweitens, wenn da so jemand wie ich im Spiel ist, dann werden die Bullen die Sache so richtig unter die Lupe nehmen wollen. Und drittens, Scheiße, Mann – wir haben das Ganze doch selbst angefangen. Wir haben geklaut.«
»Also, was soll ich jetzt tun?«
»Hol einfach nur den Wagen und komm wieder her.«
»Okay, halt durch, Kumpel. Ich bin bald wieder da.«
»Ich schlepp mich irgendwie zur Straße runter.«
»Scheiße, nein, rühr dich bloß nicht von der Stelle«, rief ich und lief los in Richtung Hauptstraße.
Als ich mit dem Pick-up zurück zur Brücke kam, war er noch nicht sehr weit gekommen. Er hatte sich nur wenige Zentimeter die Böschung zur Straße hinuntergewälzt und seine bleiche Stirn war schweißüberströmt.
»Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen«, sagte ich. »Das ist doch lächerlich.« Ich legte mir seinen Arm um die Schultern und wir stiegen auf wackligen Beinen den Hang hinunter.
»Nein! Nicht ins Krankenhaus! Es blutet nicht mal so besonders stark. Das schaffen wir auch selbst.« Er schielte zu seinem Bein hinunter. »Ich glaube, die Kugel ist hinten nicht wieder rausgekommen, also nehmen wir uns, äh, wir nehmen uns einfach eine Pinzette oder so was und pulen diese Kugel wieder raus, und dann verbinden wir das Ganze. Kein Problem. Das wird später mal ’ne tierisch gute Geschichte abgeben. Vielleicht schreib ich ja sogar ein Lied drüber. Das gibt den scheiß Journalisten dann noch was, worüber sie schreiben können. Wenn sich der Staub erst mal gelegt hat.« Er versuchte zu kichern, aber sog dann wieder scharf die Luft ein, griff mit beiden Händen nach seinem Bein und kniff die Augen zu.
»Das kommt davon, wenn man andere Leute beklaut.«
»Scheiße«, sagte Lee. »Das hätte ich nie gedacht. Dass das so brennt.« Er atmete mit lauter Zisch- und Keuchgeräuschen; die Schmerzen waren so stark, dass er immer wieder Flüche in die Nacht hinausschrie oder sogar über sich selbst lachte – egal was, nur damit er irgendwie tief Atem holen und wieder ausstoßen konnte. Sein eines Hosenbein war von dem Blut dunkel burgunderrot, fast schon schwarz getränkt. Mit seiner Hilfe zog ich ihm das Hemd aus und knotete es um seinen Oberschenkel. Dann setzte er sich neben die Straße, betrachtete die Sterne, um sich abzulenken, und verfolgte die Bahn eines Satelliten, der vorüberzog. Ich gab ihm eine Minute, um zu verschnaufen, half ihm dann auf und verfrachtete ihn in meinen Wagen. Dann rannte ich um die Motorhaube herum und setzte mich vors Steuer.
»Wohin?«, fragte ich.
»Scheiße, ich blute doch jetzt deinen Wagen nicht voll, oder?«
»Nein, ich hab ein paar Mülltüten auf den Sitz gelegt. Komm, jetzt sag schon – wohin soll ich fahren?«
»Zu mir«, keuchte er. »Ich hab da ein paar Tabletten. Und Schnaps. Und da kann ich hinbluten, wo ich will. Das Haus könnte sowieso mal neuen Teppichboden gebrauchen.« Und nachdem er einen Moment das Gesicht vor Schmerz verzerrt hatte, sagte er: »Scheiße. Scheiße, scheiße, verdammte Scheiße! Okay, fahr los!«
»Wie du willst«, sagte ich. »Ist ja nicht mein Begräbnis.« Und dann presste ich sein verwundetes Bein so fest ich konnte. Er schrie laut auf und starrte mich dann fassungslos und wütend an. Dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder etwas weicher und er lehnte den Kopf gegen das kühle, beschlagene Fenster.
»Scheiße«, sagte er. »Das hab ich wohl nicht anders verdient.«
Ich nickte und trat aufs Gaspedal.