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SIE BRAUCHTEN NOCH anderthalb Tage, um das Ethanol für den Reservetank des Flugzeugs herzustellen. Der Plan war, so viel Treibstoff wie möglich mitzunehmen, um auf dem Rückweg keinen Zwischenstopp beim Lager einlegen zu müssen.

Sie ließen mich zurück auf mein altes Zimmer, und bei Tagesanbruch war ich bereits auf den Beinen und wartete im karamellfarbenen Sonnenlicht am Flugzeug, während die Pferde über eine Rampe am Heck verladen wurden.

Die Tiere scheuten etwas bei dem Geruch nach Öl und Alkohol, aber die Wachen schoben sie hinein und steckten sie in Schlingen, die sie die Reise über festhalten sollten. Ich wusste, dass früher manchmal auch die Tungusen ihre preisgekrönten Karibus durch die Luft transportiert hatten.

Dann nahmen wir selbst unsere Plätze ein, manche auf Kisten, andere auf den Sitzen, die zu beiden Seiten von wackligen Befestigungen baumelten. Das Innere der Maschine war himmelblau gestrichen, mit schablonengemalten russischen Worten darauf. Ich kam mir wie in einem Schuppen vor. Es schien unmöglich, dass wir je in der Lage sein sollten, den Boden zu verlassen.

Wir mussten noch fast eine Stunde warten, bis sich die Propeller zu drehen begannen, so hatte ich genügend Zeit, darüber nachzudenken, welche Wahl ich getroffen hatte. Ich war mir sicher, dass Shamsudin den Handel, den ich geschlossen hatte, gutgeheißen hätte. Zivilisation und Städte sind ein und dasselbe … Ich wünschte, er hätte mit mir kommen können – ich war noch nicht zu alt für Veränderungen.

Callard stieg als Letzter ein. Er nahm im Cockpit neben dem Piloten Platz und zog sich etwas über den Kopf, womit er mit diesem sprechen konnte.

Beim Start rumpelten wir so langsam über das Gras vor dem Lager, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie wir abheben sollten, bevor wir die Bäume rammten. Doch dann, gerade, als es schien, als ob sich der Pilot verschätzt hätte, änderte sich der Klang der Motoren, das Flugzeug stieg in die Luft, und ein unsichtbares Gewicht presste mich in den Sitz.

Die Pferde schien die Vorstellung, zu fliegen, weit kälter zu lassen als mich. Sie schwankten ein bisschen, als wir abhoben, ließen sich aber beim Fressen aus den Futtersäcken in keinster Weise stören.

Ich musste mich etwas verrenken, um aus dem Fenster zu blicken. Während wir einen weiten Bogen um das Lager zogen, konnte ich den Boden unter uns wegfallen sehen. Die Barracken lagen wie eine Spielzeugfestung unter uns ausgebreitet. Die Männer, die gerade zur Arbeit rausmarschierten, verharrten wie ein kollektiver Körper und blickten auf. Die Felder um sie herum waren braun und ausgeblichen wie ein abgenutztes Bärenfell. Sommer und Winter sind die beiden Gemütslagen des Nordens – aber so verschieden, dass man sie für unterschiedliche Länder halten könnte.

Und dann waren wir über der Taiga – eine einzige grüne Weite bis zum Horizont, hier und da von kleinen weißen Wasserrillen durchschnitten. Ihre Größe ließ meinen Nacken kribbeln. In der Ferne konnte ich die sanfte Krümmung des Globus ausmachen.

Es war viel zu laut in der Kabine, um sich zu unterhalten, und ein paar der Männer dösten. Die Wachen neben mir waren den ganzen Flug über ziemlich angespannt. Sie ließen mich nicht aus den Augen – offenbar nicht überzeugt davon, dass ich ihnen aus freien Stücken helfen würde.

Tatsächlich wäre es mir leicht gefallen, die Steuerung zu packen und uns alle in die Bäume zu stürzen. Aber ich hielt mich an die Vereinbarung.

Wir brauchten einen halben Tag, um dieselbe Strecke zurückzulegen, für die ich etliche Wochen gebraucht hatte. Schon gegen Mittag bekamen wir ein Zeichen aus dem Cockpit, dass wir über der Zone waren.

Man musste Polyn aus der Luft sehen, um zu ermessen, was für ein gigantisches Werk die Stadt war.

Wie die Teile einer zerbrochenen Maschine lag sie unter uns in der Sonne. Die Straßen, die sich vom Zentrum ausgehend auffächerten. Der Fluss daneben wie ein Streifen gehämmerten Bleis, das die Sonne mit einem dumpfen Glühen reflektierte. Und dann der große Kopf – nicht mehr als ein Bronzepickel.

Der Pilot brachte uns direkt neben dem Flussufer runter, wobei wir uns bei der Landung immer schneller zu bewegen schienen, bis die Bäume an uns vorüberrauschten und es sich anfühlte, als würden wir gleich zerschellen, aber das Flugzeug sprang ein paarmal wie ein flacher Stein auf dem Wasser und kam schließlich zum Stehen.

Die Sonne war blendend hell, als ich ausstieg. Die Propeller erstarben nach und nach, bis alles, was man in der Stille hören konnte, das stürmische Gesumm der Insekten war. Und tatsächlich suchten uns die Moskitos von dem Moment an heim, in dem wir den Fuß auf den Boden setzten. Wir trugen Kopfnetze, um sie abzuwehren, doch auf jedem Stück unbedeckter Haut ließen sie sich in Sekundenschnelle nieder und saugten sich voll, bis man sie erschlug oder sie davonflogen, fett und schwindlig vor Blut.

Es dauerte eine ganze Weile, das Flugzeug zu entladen. Die Pferde mussten wieder die Rampe heruntergebracht werden, und dafür war jede Menge gutes Zureden notwendig. Währenddessen rauchten die Männer unablässig und stritten sich. Der Ort, an dem wir uns befanden, machte sie sichtlich nervös.

Wir schlugen unser Lager ein gutes Stück von der Brücke entfernt auf, weil der Leichenhaufen dort so stank.

Es war ganz anders als beim letzten Mal. Wir hatten Bettzeug, frisches Essen und sauberes Brennholz mitgebracht – nicht, um es warm zu haben, sondern um mit dem Rauch die Insekten zu vertreiben.

Callard hatte ein eigenes Zelt und zwei Männer, die ihn beschützten. Wie er gesagt hatte, musste er seine Geschäfte vorsichtig führen. Der Pilot schlief als Einziger im Flugzeug, die Übrigen verbrachten die Nacht im Freien und achteten darauf, dass immer jemand ein Auge auf mich hatte.

Gut, ich hatte ein paar Werkzeuge, aber sonst keine nennenswerten Waffen, und ich wusste, dass es nichts gab, was ich tun könnte, sollten sie ihrerseits ein doppeltes Spiel mit mir spielen. Falls sie beschlossen, mich zu töten, hoffte ich nur, dass es schnell geschehen würde.

 

Apofagato hatte mir geraten, möglichst keinen Staub mit aus der Zone zu bringen. Also schnitt ich mir bei Tagesanbruch das Haar mit einer Schere kurz und erledigte den Rest mit einem Rasiermesser. Schließlich lag mein Haar in Büscheln überall um mich herum. Es war dunkler, als ich gedacht hatte, und ich konnte auch etwas Grau darin erkennen. Ich strich mir mit den Fingern über den nackten Schädel – er fühlte sich eigenartig an. Doch irgendwie war es tröstend, ihn zu halten. Er war warm und hatte einen Puls. Es erinnerte mich an Ping.

Dann warf ich das Andenken weg, das ich mir aus dem Flugzeugflügel gemacht hatte. Ich hatte es so lange getragen, dass es einen grauen Schmutzfleck auf meiner Haut hinterließ. Ich nahm es ab und schleuderte es in den Fluss. Es hob und senkte sich wie ein Vogel im Flug, dann verschwand es. Und ich dachte, dass, welche Hoffnungen und Überzeugungen Makepeace auch gehegt hatte, sie lediglich eine Maske von vielen war, die das Leben trug, während es um seine Erneuerung kämpfte – unsentimental, schonungslos, schmutzig in der Wahl seiner Waffen.

Ich zweifelte nicht daran, dass Callard mir die Wahrheit gesagt hatte. Bill Evans hatte eine Faustregel, nach der er Verdächtige einschätzte. Sie war nicht narrensicher – was ist das schon? –, aber sie half, sich einen Eindruck von Leuten zu verschaffen. Er nannte sie das »Gesetz des Gegenteils«. Er sagte, die Wahrheit über einen Menschen ist das Gegenteil dessen, was er dir preisgibt. Wenn du jemanden verstehen willst, musst du seinen Schatten zu fassen bekommen. Bills Auffassung nach war der Mensch, den man am meisten zu fürchten hatte, jener, der immerzu die alte Leier der Tugend anstimmte.

Mein Vater fühlte sich von dem Gedanken an die Dinge, die er geopfert hatte, um dieses Leben hier zu führen, erhöht. Er glaubte fest, dass er ein besserer Mensch war als jene, die sich an Reichtümer und Städte und all das klammerten, jene, die länger gebraucht hatten, um die Veränderungen in der Welt wahrzunehmen. Die Wahrheit aber war: Er war nicht einmal ein so guter Mensch wie Eben Callard.

Callard war brutal und pragmatisch. Er nannte sich selbst einen Christen, doch seine wahren Überzeugungen rückten ihn eher in die Nähe der Tungusen. Es gab kein »Richtig« in den frühen Religionen, kein »Gut sein« – es gab nur die Art und Weise, wie die Dinge eben getan wurden, nur, was dem Leben diente und was nicht. Und es gab keinen Raum für Heuchelei.

Die Gebete, die mein Vater darbrachte, waren die Gebete der Pharisäer. Er redete von Gott und Opferbereitschaft. Aber sein Gott war seine eigene Eitelkeit, und das Opfer war, wie sich gezeigt hatte, ich.

 

Und so kehrte ich, einige Stunden nach Sonnenaufgang, in die Zone zurück. Die Stadt wirkte zu dieser Jahreszeit völlig anders. Auf den Hauptstraßen blühten die Kastanien, und die Bürgersteige waren von einer Art klebrigem Saft bedeckt, der von den Ästen herabtroff. Und doch schien Polyn im Sommer beinahe noch kränker, noch toter. Im Winter war die Stadt wie gefroren gewesen – als läge sie in einem tiefem Schlaf wie die Prinzessin im Märchen. Im Sommer aber konnte man sehen, dass sie nicht nur tot war – ihr Leichnam war fliegenübersät.

Ich brauchte bis zum frühen Nachmittag, um den Ort zu finden, von dem Shamsudin erzählt hatte, und ich verbrachte eine weitere Stunde damit, mit meinem Werkzeug Halterungen an der Wand anzubringen und ein Seil festzumachen. Dann quetschte ich mich durch das zerbrochene Fenster und ließ mich hinunter.

Es war nicht ganz so, wie Shamsudin es beschrieben hatte. So wie er es erzählt hatte, hätte der Lagerraum nahe der Einstiegsstelle sein müssen, aber da war nichts dergleichen. Die Anlage war viel größer, als ich erwartet hatte. Da war ein Gang fast von der Größe einer Straße, der von versteckten Dachfenstern erhellt wurde, und Abzweigungen etwa alle zehn Meter. Es war ein richtiges Labyrinth, doch auf den weißen Fliesen auf dem Boden entdeckte ich Spuren von Schmutz und getrocknetem Blut, das nur von Shamsudin stammen konnte.

Seinen Spuren zu folgen, war, wie ein verwundetes Tier zu jagen – die Art und Weise, wie sie kehrtmachten, keine bestimmte Richtung kannten, erschöpft an einer Stelle zu ruhen schienen, ehe sie weiterführten. Der Mann, der diese Spuren hinterlassen hatte, hatte nur noch wenige Tage zu leben gehabt. Und während ich ihm tiefer in das Labyrinth folgte, fragte ich mich, wie viel Zeit mir noch blieb, und dachte wieder an das doppelte Spiel. Ich schätzte, es stand fünfzig-fünfzig, dass sie mich auf der Brücke erschießen würden.

Auch der Lagerraum lag viel tiefer, als Shamsudin es beschrieben hatte – mehrere Rampen und Treppen nach unten. Ich bezweifelte, dass irgendwer außer ihm diesen Raum hätte finden können. Nur jemand, der jede Hoffnung darauf verloren hatte, einen anderen Ausweg zu finden, wäre so tief in die Anlage gestolpert. Von allen Kombinationen an Abzweigungen und Gängen war er auf diese eine gestoßen. Das hatte beinahe etwas Göttliches – wenn man außer Acht ließ, was aus ihm geworden war.

Tief in den Eingeweiden des Betonmonsters entdeckte ich schließlich einen blutigen Handabdruck an einer Doppeltür – und dahinter den Lagerraum.

Er war vollgestellt mit Regalen, und in den Regalen die Gläser, gefüllt mit ihrer züngelnden blauen Essenz. Erst sahen sie alle identisch aus, aber als ich sie mir genauer betrachtete, entdeckte ich winzige Variationen in Form und Ausgestaltung, bis ich nicht mehr sicher war, ob auch nur zwei davon gleich waren.

Ich bin in meinem Leben an einigen seltsamen Orten gewesen, aber irgendetwas an diesem Raum war völlig anders als alles, was ich bisher gesehen hatte. Es fühlte sich an wie ein Grab, wie etwas Gottgeweihtes, nur in einer mir unbekannten Religion. Ich musste an den Schamanen denken, der die Knochen seiner Vorfahren besuchte. Hätte man mir in diesem Moment erzählt, dass jedes dieser Gläser die Seele eines Menschen enthielt, hätte ich es womöglich geglaubt.

Ich hatte nicht vor, hier länger zu bleiben. Ich packte vier der Gläser in meine Tasche und machte mich aus dem Staub.

 

Die Gefangenen im Lager rissen immer gern Witze darüber, einen Plan »überzuerfüllen« – das sagten sie, wenn ein Neuling in ihrer Gruppe zu hart arbeitete und allgemein den Eindruck machte, als könnte er sie schlecht aussehen lassen. Die ersten paar Mal sagten sie es für gewöhnlich im Spaß, aber wenn derjenige weiterhin grub oder drosch, als hinge sein Leben davon ab – meist in der Hoffnung, die Wachen zu beeindrucken –, dann konnte es Prügel oder Schlimmeres geben. Einmal sah ich, wie sie einem mit einer Schaufel die Zehen abtrennten. Die langjährigen Insassen wussten, dass man sich keinen Gefallen damit tat, die Erwartungen zu übertreffen.

Und so gab ich mir große Mühe, den Plan nicht überzuerfüllen. Da unten waren gut und gerne ein Dutzend Flugzeugladungen an wundersamen Dingen, aber ich hatte den Verdacht, dass es einen Punkt gab, an dem ich zu viel herausgebracht haben würde. Und dann würden sie mein Ticket nach Barrow vermutlich stornieren.

 

Das Abendlicht zerschmolz zu Karamell, als ich die Allee mit den Kastanien erreichte und nach links auf die Brücke bog. Der Klang von Hufen und Gelächter hallte die Betonwand des Flusses hinab – so wie letztes Mal die Gewehrschüsse.

Kurz vor der Brücke stieg ich ab und ging das letzte Stück zu Fuß. Zwei Wachen erwarteten mich. Ich warf die Tasche über die Straßensperre, wo sie die Wachen absprühten. Dann band ich das Pferd fest und ließ mein Werkzeug vor der Absperrung liegen, so wie wir es vereinbart hatten. Ich hatte noch einen Apfel vom Mittagessen, den ich dem Pferd hinhielt. Es beschnüffelte ihn unsicher, mit zitternden Nüstern, dann zog es die Lippen zurück und biss hinein. Schließlich zog ich mich aus, ganz sachte wegen all der Insekten, und bald stand ich nackt da, schlug mir die Moskitos von der Haut und wartete darauf, dass die Wachen mich rüberriefen.

Nach und nach tauchten immer mehr Männer auf, aber es war keine Spur von der Kleidung zum Umziehen zu erkennen. Wenn sie mich töten, dann jetzt, schoss es mir durch den Kopf.

Ich hörte ein Rufen. Callard und Apofagato ritten langsam vom Flugzeug zur Brücke. Die Wachen warteten ganz offensichtlich auf ein Zeichen ihres Anführers.

Callard ritt locker und entspannt und ließ das Pferd einen Weg durch den herumliegenden Schutt suchen.

»Wie ist es gelaufen?«, rief er.

»Ich habe einen Anfang gemacht«, sagte ich.

»Bloß vier, aber sie sehen richtig gut aus«, rief die Wache und hielt eines der Gläser hoch in die Sonne. Die Augen des Mannes fuhren wie Harken über meine bloße Haut.

Callard nahm das Gewehr von seinem Sattel.

»Es gibt noch jede Menge da drin«, sagte ich. »Vielleicht Hunderte. Wird aber brauchen, sie da rauszuholen. « Meine Stimme klang dünn und ängstlich. Es fühlte sich wie die größte Demütigung von allen an, nackt vor ihren Augen zu sterben.

Callard deutete mit dem Gewehr in meine Richtung. »Du tötest besser das Pferd, wie wir es vereinbart haben.«

Das war die Mathematik des Überlebens. Pferde gab es genug. Eines krank werden und die restlichen sich anstecken zu lassen, war ein Risiko, das sich nicht lohnte einzugehen. Sie konnten ein neues Pferd züchten, aber eine neue Makepeace aufzutreiben, die die Stadt kannte und wusste, wo die Gläser versteckt waren, würde sehr viel länger brauchen. Zumindest war es das, worauf ich hoffte.

Ich trat über die Absperrung. Die Wachen spritzten mich mit Karbolseife ab und reichten mir dann die neuen Kleider. Die Seife stach in meinen Augen, trotzdem zog ich mich so schnell wie möglich an. Die Stiefel, die sie mir gaben, waren zu groß, und meine Füße schwammen ein wenig darin, aber das war ganz egal: Ich wurde von einer so starken Woge der Erleichterung überrollt, dass ich fast zu weinen anfing. Das Abendlicht schien Leben zu versprechen, und ich wollte leben und all die wunderbaren Dinge, die ich gesehen hatte, in Ehren halten. Polyn vom Flugzeug aus. Das Mädchen in seinem Erinnerungsstein. Evangeline ohne eine Menschenseele darin. Wenn ich zum Nachthimmel hochsah, an dem sich Nadelstiche aus Licht zusammendrängten, bildete ich mir manchmal ein, ich könnte auf einem anderen Stern eine andere Makepeace sehen, eine Makepeace, die ihre letzten Tage umgeben von Enkelkindern verbringt. Das war jetzt Alaska für mich. Ein anderes Leben. Das Leben, das ich so vermisst hatte. Ein Gefühl des Friedens breitete sich in mir aus.

»Es wäre doch schade, das Pferd zu erschießen«, sagte ich dann zu Callard. »Ich dachte, vielleicht kann ich es morgen noch gebrauchen.«

Callard zuckte mit den Achseln. »Was sagt Apofagato? «

Apofagato schüttelte den Kopf. »Es kann Symptome geben. Zwölf Stunden lang. Wir sollten töten.«

»Du hast den Mann gehört.« Callard drehte das Gewehr in seinen Händen und hielt mir den Schaft hin.

Es war ein wunderschönes Repetiergewehr mit einem Hebel auf der Unterseite des Laufs, mindestens hundert Jahre älter als ich, grau leuchtend das Metall, das Holz so kastanienbraun wie das Pferd. Bill Evans hatte ein ganz ähnliches gehabt.

»Schöne Waffe«, sagte ich, als ich sie entgegennahm.

»Es ist eine Winchester«, sagte Callard. »Es gibt eine Geschichte dazu, die ich dir eines Tages erzählen werde.«

Das Pferd hatte einen weißen Stern auf der Stirn. Ich legte das Gewehr darauf an – und ließ es wieder sinken. »Ihr solltet vielleicht absteigen, für den Fall, dass die Pferde sich erschrecken«, sagte ich.

Apofagato schwang sich aus dem Sattel, aber Callard blieb, wo er war, sich seiner Sache wie immer völlig sicher. »Kümmere dich nicht um mich, Makepeace«, sagte er. »Mach es einfach. Ich will, dass die anderen Tiere sauber bleiben.«

Ich hob das Gewehr wieder und drückte ab. Die Waffe schlug mir gegen die Schulter, das Pferd schwankte, knickte mit den Vorderfüßen ein und ging zu Boden.

Beim Knall des Gewehrs bäumte sich Callards Pferd auf und rutschte aus. Einen Moment lang kämpfte er darum, sich im Sattel zu halten, doch dann fiel er ab. Stürzte in den Staub Polyns. Ich dachte zuerst, er hätte sich das Bein gebrochen, aber er war in Windeseile wieder auf den Füßen.

Apofagato nahm die Zügel des Pferdes und versuchte es zu beruhigen, doch Callard riss sie ihm weg, schnappte sich seine Peitsche vom Sattel und schlug auf das Tier ein. »Du verdammtes Miststück«, schrie er und peitschte es, bis es mit den Augen rollte. Man hätte meinen sollen, ein paar Schläge hätten gereicht, seinen Zorn zu besänftigen, aber dieser Zorn hatte seine Wurzeln anderswo. Dieser Zorn war etwas Uraltes. Callard schlug blindwütig auf das Tier ein, mit einer Bewegung, die mit einem Mal so vertraut schien, dass ich beinahe das Scheppern des Bettgestells hören konnte. Speichel stand auf seinen Lippen, als sie sich zu einem weiteren Fluch verzerrten: »Du Isebel!« Dann wandte er sich in die Richtung, in der, wie er wusste, ich stand. »Gib mir das Gewehr, Makepeace«, keuchte er. »Gib es mir!«

Isebel … Das Wort brannte sich durch meine Erinnerung wie ein Säureschwall. Da war ein Vogelruf in der Stadt, die ich gerade verlassen hatte, und das wirbelnde Wasser unter uns schien eine Sekunde lang zu gefrieren. Meine Füße in den übergroßen Stiefeln bewegten sich furchtbar langsam, als ich nach rechts trat, um freie Sicht zu haben. Ich hörte Bill Evans’ Stimme in meinem Kopf, wie er mir beibrachte, die richtige Position einzunehmen: Beweg dich nach rechts, Gewicht auf das rechte Bein, nie über Kreuz.

Eine der Wachen grinste vor sich hin, die andere hatte sich abgewandt, um sich eine Zigarette anzustecken. Callard sah mich mit seinen leeren Augen an und wartete auf das Gewehr.

Ich jagte zwei Kugeln in seinen Körper, ehe er noch die Augenbrauen heben konnte.

Die zweite Kugel warf ihn über den Rand der Brücke, er landete mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und Sekunden später hatte ihn die Strömung schon davongetragen. Ich tötete noch eine der Wachen, als sie nach ihrer Waffe griff. Der anderen klappte lediglich ungläubig die Kinnlade herunter, und Apofagato überließ mir sein Pferd ohne Widerrede.