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ES DAUERTE EINIGE TAGE, bis die Veränderung in meinem Leben Sinn ergab.

Zum ersten Mal in beinahe drei Jahren hatte ich ein Zimmer allein für mich. Mein neues Quartier hatte ein ausklappbares Bett mit einer fleckigen Matratze, einen winzigen Tisch, auf dem eine Öllampe stand, und ein Fenster, das auf den Appellplatz hinausblickte. Ein halbes Dutzend brauner Streifen verlief über die Decke, die alle in einem zerquetschten Moskito endeten, offenbar ein Überbleibsel vom letzten Sommer. Es gab keine Heizung, aber ich hatte einen ganzen Stapel Armeedecken, die nach Naphthalin stanken.

Dreimal am Tag brachte man mir Essen, und so schwitzte ich langsam mein Fieber aus.

Eigentlich wollte ich am liebsten zur Tür hinaus und auf den Highway, der silbrig im Mondlicht schimmerte und mich dorthin zurückbringen würde, von wo ich gekommen war. Ziemlich wahrscheinlich, dass mein Haus immer noch verlassen war, mit dem Pianola, das in seine Einzelteile zerfiel, den staubigen Büchern, den Bettgestellen, der Garten inzwischen wild wuchernd. Dorthin wollte ich, an einen Ort, den ich gut kannte, zu den Erinnerungen an jene Menschen, die ich einmal liebte.

Aber etwas hielt mich zurück, und das waren nicht nur Bedenken wegen der Kälte und der Verpflegung.

Draußen überquerten die Gefangenen gerade den Appellplatz zur Schlafbaracke, und in der Dämmerung schien es beinahe, als blicke ich auf die alte Welt. Dort war eine Farm, und hier waren die Arbeiter, die in Zweier- und Dreiergruppen durch die kalte Nachtluft schlenderten.

Einer von ihnen war Shamsudin, ich erkannte ihn an seinem Gang. Keiner der Gefangenen hatte es besonders eilig, aber Shamsudin ging besonders langsam und seit einiger Zeit auch etwas gebeugt. Er war wohl inzwischen einer der Ältesten im Lager. Es war unser dritter Winter hier, vor uns lag unser vierter Sommer, und seit über einem Jahr hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt.

Das Leben im Lager hatte Shamsudin merklich altern lassen. In den letzten Monaten hatte ich ihn oft auf den Feldern gesehen, wie er sich auf seine Schaufel stützte und verschnaufte. Einige der Jüngeren arbeiteten fast schon provozierend langsam, als ob sie die Wachen herausfordern wollten, sie doch anzutreiben. Die Älteren aber, wie Shamsudin, arbeiteten langsam, weil sie immer schwächer wurden. Sie verbargen das hinter einer gewissen Bequemlichkeit, aber es war nichts anderes als tiefe Erschöpfung. Manchmal überraschte man einen der Älteren, wie er sich hinter einer Mauer ausruhte, die Beine weit von sich gestreckt, das Gesicht ausgezehrt wie das einer Leiche.

Es gab hier niemanden über fünfzig. Zumindest meiner Schätzung nach. Krankheiten und Kälte verhinderten das. Selbst bei den Wachen hatten nur die wenigsten graues Haar.

Die älteren Gefangenen hatten nur zwei Hoffnungen: Entweder sie wurden zur Wache befördert – doch das wurde immer unwahrscheinlicher, je älter sie wurden, und kam überhaupt nicht vor, wenn sie Moslems waren –, oder man gab ihnen leichtere Arbeit in der Zone.

Es war mitleiderregend, welche Mühe sie sich gaben, wenn sie hörten, dass wieder ein paar Männer gesucht wurden. Sie rasierten sich und kämmten sich das Haar, und einmal zog ein alter Bursche namens Tuvik sogar ein frisches Hemd an, das er irgendwie aufbewahrt hatte, heftete eine ganze Stange Orden daran und streckte seinen mageren Kiefer vor, als ihn die Wachen musterten. Letztlich gingen sie aber weiter, ohne ihn zu nehmen, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab.

Einer der Halbtungusen machte sich seinen Spaß mit ihm, als wir zur Baracke zurückgingen. »Hey Tuvik, wo hast du die ganzen Orden geklaut, du alter Dieb?«

»Ich habe zwei Jahre lang im Pazifikkrieg gekämpft«, rief Tuvik, ganz offensichtlich tief in seinem Stolz verletzt. »Ich war auf einem U-Boot und habe Schlitzaugen wie dich mit bloßen Händen umgebracht! «

Der Tunguse lachte und wehrte Tuvik mühelos ab, als dieser nach ihm schlagen wollte – Tuviks Unterarme waren dünn wie Schilf, und seine Hände waren wie kleine Vogelkrallen in den braunen Fäusten des Tungusen.

In der Nacht dann stahl der Tunguse Tuvik die Orden und verlor sie tags darauf beim Kartenspiel. Eine Woche später starb Tuvik im Schlaf.

Es waren vor allem die Wachen, die unseren Träumen von der Zone Nahrung gaben. Als ich noch in der Baracke war, machten sie ständig Bemerkungen darüber, was wir dort finden würden. Kühlschränke, Generatoren, Waffen – all das wurde dort hergestellt, sagten sie. Und einer behauptete sogar, es gäbe dort ein Kino.

Natürlich reizte es mich, die Zone einmal selbst zu sehen, vor allem aber dachte ich, es wäre gut für Shamsudin, dorthin zu kommen. Er wirkte immer mehr wie ein gebrochener Mann. Damals auf dem Dach hatte ich wohl einen kurzen Blick auf jenen Shamsudin erhascht, der er hätte sein können. Die meisten der Gefangenen fügten sich in das Leben im Lager, als hätten sie nie ein anderes gekannt – und vielleicht hatten sie das ja auch nicht oder sie hatten nur ein noch Schlimmeres gekannt –, doch Shamsudin hatte sich einen kleinen Rest an Würde bewahrt, wie ein verblassender Duft der Welt, aus der er stammte.

Ich hatte das Gefühl, dass man einen Mann wie ihn in der Zone willkommen heißen würde. Zuerst würde man ihm wohl niedere Arbeiten geben, aber bald würde man seinen Wert erkennen: ein Mann von Welt, der etliche Fremdsprachen sprach und den Namen jedes Muskels im menschlichen Körper kannte. Menschen wie mich gab es hier wie Sand am Meer: wortkarge Sturköpfe, die sich zur Not ihr Essen aus der Tundra buddeln konnten. Shamsudin aber hatte ein Wissen, das man nur aus Büchern erhalten konnte. Keine Ahnung, wie nützlich das alles war. Ja, manchmal schien es ein wenig seltsam, wie wenn einer der Gefangenen eine Seidenkrawatte um den Hals tragen würde. Doch was er wusste, war über die Jahrhunderte zusammengetragen worden, und es war wertvoll genug, dass dafür Blut vergossen worden war. Tausend Jahre Forschung, damit er diese Dinge wusste – tausend Jahre Forschung und Experimente und Menschen, die den Tod in Kauf genommen hatten, nur um sagen zu können, dass die Erde um die Sonne kreiste und nicht andersrum. Und ging dieses Wissen verloren, würde es wieder tausend Jahre dauern, es von neuem zu lernen.

Und so machte es mich traurig, mit anzusehen, wie Shamsudin immer schwächer wurde, und ich wünschte, ich könnte ihn hier irgendwie rausbringen. Er schien sich immer mehr in sich selbst zurückzuziehen und verbrachte immer weniger Zeit mit den anderen Moslems. Er erinnerte mich an diese Bücher, die ich damals in der Waffenkammer versteckt hatte. Nur dass ein Mensch immer besser war als ein Buch.

Wie viel Gutes ich doch tun könnte, wenn ich nur einen Weg fände, Shamsudin mit den Leuten zusammenzubringen, die das Flugzeug gebaut hatten!

Aber so wie es aussah, hatte er höchstens noch zwei Jahre zu leben, vielleicht weniger. Über kurz oder lang würde er auf jener Lichtung enden, auf die sie auch Tuvik gebracht hatten.

Jeden Herbst, bevor der Boden zufror, führten die Wachen ein halbes Dutzend Gefangene in den Wald und ließen sie dort ein tiefes Loch graben, und wenn es dann taute, führte man sie ein zweites Mal raus, um die fünfzehn oder zwanzig Leichen, die man über den Winter dort abgeladen hatte, mit Erde zu bedecken. Es gab keinerlei Zeremonie oder auch nur ein Gebet – die Wachen steckten die Leiche einfach in einen Sack, schoben sie auf einem Karren in den Wald, warfen sie in das Loch und streuten Kalkstaub darüber, wo sie dann unbedeckt lag, bis die nächste kam.

Hörte ich in mich hinein, so war es, als fühlte ich eine Verpflichtung, mich Shamsudin gegenüber anständig zu verhalten. Natürlich gibt es für alles immer einen Grund und einen Grund für den Grund, aber wenn man zu tief bohrt, stolpert man am Ende nur über sich selbst. Wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich etwas für Shamsudin empfand, weil er seit Ping der erste Mensch gewesen war, der mir ein Quentchen Freundlichkeit entgegengebracht hatte. Und weil er etwas an sich hatte, das mich an meinen Vater erinnerte, ja, fast schien es, als versuchte ich, die Zeit zurückzudrehen und Pa zu retten. Aber wenn ich auch das hinterfrage, stoße ich auf einen ganz einfachen Grund: Seit Ping hatte ich verlernt, allein zu sein.

Als ich ein Kind war, warnte man uns vor einem alten Mann in den Wäldern, der dort ganz allein lebte, viele Meilen von der nächsten Siedlung entfernt. Er hieß Pankov, war Russe und schnitzte große Holzfiguren, die er um seine Hütte herum aufstellte. Immer wieder schlichen wir uns zu ihm heraus, um ihn bei seinem Treiben zu beobachten, und immer wieder schrie und verjagte er uns, wenn er uns erwischte. Für uns Kinder war das wie Sport. »Der Alte ist doch völlig verrückt«, sagte mein Vater und gab uns einen Klaps mit dem Pantoffel, wenn Charlo ausplauderte, dass wir wieder im Wald gewesen waren.

Pankov starb, als ich zwölf war, und einige der Ältesten aus unserer Stadt begruben ihn im Wald. Die Hütte, in der er so lange gelebt hatte, verfiel jedes Jahr ein bisschen mehr, bis sie schließlich ganz in sich zusammenklappte, als hätte sich etwas Großes auf sie gesetzt.

In den darauffolgenden Jahren besuchte ich zwei, drei Mal die Ruine und sah mir Pankovs Holzfiguren an. Er hatte ganze Baumstämme in überbordende Säulen voller Schlangen und Dämonen und barbusiger Frauen verwandelt, die unsere Ältesten höflich ignoriert hatten, als sie seine Leiche geholt hatten.

Was immer das Haus zum Einsturz gebracht hatte – Schnee? Holzwürmer? –, es hatte die Einrichtung überall verteilt. Und neben dem ganzen Kram, den man erwartet hatte – zerrissene Bettwäsche, halb heruntergebrannte Kerzen, schimmlige Schuhe, zerbrochenes Glas –, lagen Stapel von Noten. Was mussten sie ihm bedeutet haben, die hübschen Linien und die vielen schwarzen Punkte, dass er sie all die Jahre aufgehoben hatte, gab es doch nie jemanden, mit dem er sie hätte teilen können – kein Instrument, nur die Stille des Waldes und das leise Ächzen seines Körpers, der nach und nach seinen Dienst einstellte …

Nein, ich wollte nicht wie Pankov enden, wollte mein Leben nicht in einem Wartezimmer absitzen, bis zu dem Sturz, der mich tötete, oder dem Unfall, der mich hilflos machte. Aber ich ahnte, dass es mir so ergehen könnte. Zwischen der Welt meiner Jugend und der Welt, in der ich jetzt lebte, lag eine so breite Kluft, dass es mir immer schwerer fiel, sie zu überbrücken, und sei es nur in meiner Vorstellung.

Hatte ich wirklich von einer Welt geträumt, in der die Menschen mit Flugzeugen flogen, es Essen in Hülle und Fülle gab, und wir, die Siedler weit im Norden, als Primitive galten?

Das Dasein im Lager lieferte jeden Beweis menschlicher Barbarei, den man nur brauchte. Und doch, wenn ich auf mein bisheriges Leben zurückblickte, schien es mir, als wären es die einsamen Zeiten, die am wenigsten Sinn ergaben.