2

DIE GESICHTER DER TUNGUSEN, die früher zum Handeln oder auf der Suche nach Arbeit in unsere Stadt gekommen waren, hatten häufig einen Ausdruck bäuerlichen Staunens und Unglaubens gezeigt. Zwar hatten viele von ihnen, besonders die Älteren, schon bessere Städte als die unsere gesehen, aber manche der Jüngeren waren nie gereist und hatten uns nur vom Hörensagen gekannt.

Stellt euch das vor: Ein Kind der Tundra, das alles über den Zug der Karibus wusste, das siebenundneunzig Sachen kannte, die man aus Weidenholz und Sehnen machen konnte, das ewig von den kargen Böden des Nordens leben konnte – und nun geht es eine Betonstraße entlang und starrt ein Kind mit einem Luftballon an oder eine Frau mit einem Einkaufskorb oder die großen Glasscheiben der Bäckerei, verwirrt von all diesen unterschiedlichen Dingen, angerempelt von Passanten, verspottet von irgendwelchen frechen Gören.

Dieser arme verwirrte Tunguse war ich in meinen ersten Tagen im »Stützpunkt«. Dieser Ort hatte eine Vitalität, wie ich sie außer in der Stadt meiner Kindheit nie erlebt hatte, und ich war so erschöpft, dass ich all die Eindrücke kaum aufnehmen konnte: den Geruch schmutziger Männer und Tiere, die lauten Stimmen, die vielen verschiedenen Gesichter von braun bis gelb, die Enge in den Baracken, das Gedränge zu den Essenszeiten, dichter als ein Schwarm Lachse.

Es dauerte Tage, ja Wochen, bevor dieses neue Leben in meinem armen überlasteten Kopf Gestalt anzunehmen begann, und bis dahin hielt ich einfach den Ball flach, tat, was die anderen taten, versuchte, mich aus jeglichem Ärger rauszuhalten.

Wir waren in zwei Baracken untergebracht – etwa dreihundert Seelen. Die Baracken waren für viel weniger gebaut worden, aber das schien hier niemanden zu kümmern. Die Alteingesessenen hatten die normalen Betten in Beschlag genommen, während die Neuankömmlinge sich mit übereinander an der Wand angebrachten Brettern begnügen mussten. Beinahe drei Jahre waren diese Holzbohlen über meinem Kopf alles, was ich an Privatsphäre hatte. Ich zitterte unter ihnen im Winter und schwitzte in der Hitze des Sommers oder wenn mich ein Fieber gepackt hatte. Noch jetzt könnte ich jedes Muster in diesen Brettern aus dem Gedächtnis zeichnen – ich kenne sie besser als das Gesicht meiner Mutter.

Praktisch alle Gefangenen wurden für landwirtschaftliche Tätigkeiten eingesetzt: vom Pferde beschlagen zum Kühe melken, vom Futter säen und ernten zum Kohl einsalzen und Gras für den Winter silieren. Jeden Morgen und jeden Abend mussten wir zum Appell antreten.

Diesen ersten Sommer bündelte ich tagsüber Heu in der heißen Sonne, und abends molk ich die Kühe im Stall. Seit Jahren hatte ich nichts dieser Größe gesehen – es waren bestimmt mehrere tausend Morgen bestelltes Land. Und es war diese reiche, schwarze Erde, über die die Russen immer Witze machten: Wenn du einen Löffel im Boden vergisst, sagten sie, wächst eine Schaufel daraus. Ich glaube, sie nannten sie chernozem, Schwarzerde.

Eine Gruppe musste in den Küchen arbeiten, und dorthin wollte jeder. Es wurde als die angenehmste Arbeit gesehen: jede Menge zu essen, den ganzen Tag drinnen. Doch dafür nahm man die ältesten Gefangenen. Mir machte es allerdings nichts aus, draußen zu arbeiten. Wir hatten auch genug Essen, und ich muss sagen: Die Gefängnisbäckerei machte die weichsten Brote, die ich je gegessen habe.

In den ersten Wochen hatten alle neuen Gefangenen immer leichte Schwindelgefühle, was vom regelmäßigen Essen und den langen Tagen in der Sonne kam – und von der Erleichterung, dass sie ihr Ziel erreicht und sich ihre schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheitet hatten.

Der Abendappell war nie später als um fünf.

»Mein Bauch tut weh!«, rief einer der Gefangenen einmal erstaunt, während er seinen Teller mit einer dicken Scheibe Schwarzbrot säuberte.

In den Baracken wurde fröhlich geschnarcht, und als es dann auch noch Eier zum Frühstück gab, dachten diese Narren, sie seien gestorben und im Himmel gelandet. Und sie dachten: Wenn es uns schon so gutgeht, wie muss es dann erst bei unseren Wächtern sein, bei Boathwaite und seinen Männern?

 

Nachts ging es in den Baracken zu wie in einer geschäftigen Kleinstadt. Die meisten von uns hatten mindestens ein Handwerk gelernt und erledigten mehr oder weniger heimlich kleinere Arbeiten für die Wachen: Schneider- oder Tischlerarbeiten. Einer baute aus Holzresten und Draht Banjos und verkaufte sie. Ein anderer, der für sein plov bekannt war, musste es immer wieder für die Wachen kochen, wenn eine von ihnen Geburtstag hatte, und stets kam er betrunken von den Feiern zurück. Üblicherweise wurden sie mit Alkohol, Tabak oder Essen bezahlt.

Es gab einige Gerüchte über Frauen im Lager, aber ich war die einzige unter den Gefangenen, von der ich wusste, und tatsächlich bekam ich auch zwei Jahre lang keine andere zu Gesicht.

In diesen zwei Jahren war ich kaum eine Sekunde allein. Selbst die Latrinen boten keine Rückzugsmöglichkeit, ständig waren dort andere Gefangene. Und zugleich war da nichts, was ich Kameradschaft nennen würde.

Ich hatte sehr gehofft, mich weiter gut mit Shamsudin zu verstehen – ich mochte ihn, er schien ein anständiger Mann zu sein –, doch meine Freundschaft mit ihm und Zulfugar überstand das Frühjahr nicht.

Hin und wieder mussten wir gemeinsam eine Arbeit verrichten, und ich spürte einen Hauch der alten Herzlichkeit, aber die meiste Zeit kümmerten sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Es gab etliche Moslems unter den Gefangenen, und sie beteten und aßen zusammen, und im Herbst fasteten sie vierzig Tage lang gemeinsam. Als Frau war es mir unmöglich, ihnen näherzukommen – und unter den übrigen Gefangenen gab es niemand, mit dem ich befreundet sein wollte.

 

Letztlich war das Leben im Lager jedoch alles andere als ein Zuckerschlecken. Es gab jede Menge Schlägereien und Tote und Saufgelage und übles Gerede. Und trotzdem hatten wir nie einen, der sich selbst das Leben nahm, und was mich betraf – so kurz ich davor gewesen war, mir mein Leben zu nehmen, so wenig kam es mir hier in den Sinn, es selbst zu beenden.

Als Ping und ihr Mädchen starben, war es, als wäre die Luft aus meinem Leben entwichen. Für jemanden wie mich, der schon beim Aufstehen nichts gegen einen guten Kampf einzuwenden hat, war das eine seltsame Erfahrung. Es schien keinen sinnvollen Unterschied mehr zwischen einer Sache und einer anderen zu geben. Bei keiner Sache. Als ich in den See sprang, war ich in gewisser Weise bereits tot und wollte einfach nur zu atmen aufhören.

Natürlich: Wenn ich mich, auf meinem stinkenden Schlafplatz liegend, zwischen all den übereinandergestapelten Körpern im Lager, an mein Leben in der Hütte erinnerte, schien es die schönste Zeit überhaupt gewesen zu sein – die Weite, das Wasser und nur ich, dem ich es recht machen musste. Und doch hatte ich dort sterben wollen. Hier hingegen wachte ich jeden Morgen auf und freute mich, am Leben zu sein.

Ja, ich brannte geradezu nach Leben. Ich aß so gut wie nur möglich. Hielt mich bei Kräften. Legte warme Sachen für den Winter zurück. Und wenn ich grub oder Heu bündelte oder Kartoffelsäcke schleppte, tat ich das mit der Hingabe einer Betenden, und mein Gebet lautete: Halte meinen Körper jung. Lass mich diesen Ort überstehen. Lass mich nicht hier im Gestank dieser Männer sterben …

Häufig dachte ich an Flucht. Es gab Gelegenheiten. Aber das beste Mittel der Wachen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, waren die Gefangenen selbst. Wir waren so eng zusammengepfercht, dass wir nie auch nur an das Minimum der Dinge gekommen wären, die man zum Überleben außerhalb des Lagers gebraucht hätte, ohne dass einen jemand verraten hätte. Es gab eine ganze Reihe Spitzel unter den Gefangenen, die sich den Wachen lieb Kind machen wollten. Sie wurden für ihr Getratsche bezahlt, aber die meisten von ihnen hätten es auch umsonst gemacht.

Eine Besonderheit unseres Gefängnisses war es, dass immer mal wieder jemand, den man aus der Baracke oder von der gemeinsamen Arbeit her kannte, für ein, zwei Wochen verschwand – und plötzlich wieder auftauchte, mit einem Gewehr, auf einem Pferd, zur Wache befördert.

Das war eine ziemlich geschickte Strategie von Boathwaite. Menschen brauchen Hoffnung. Etwas, von dem sie träumen können. Und für die Gefangenen war das besser als der Himmel: Sie kamen wieder, in dieses Leben, aber mit allen Rechten und Vorteilen einer Wache. Das war der Hauptgrund, warum es so viele eifrige Spitzel gab.

Also hatte Boathwaite immer Männer, die die Stimmung im Lager so gut kannten, dass sie jeden Störenfried aufspüren und sich um ihn »kümmern« konnten, bevor er dazu kam, sich mit anderen zu organisieren. Was den Auswahlprozess betraf, so schien er keiner ersichtlichen Logik zu folgen. Die Gefangenen, denen man eine Chance gab, fielen in keinerlei Weise auf. Jedoch wurde nie jemand zur Wache, der sich zu sehr fürs Beten begeisterte – und davon gab es einige –, und sie nahmen auch nie einen Moslem.

Ich würde aber lügen, wenn ich sagte, dass ich im Lager nur unglücklich gewesen wäre. Schließlich konnte ich mich an etwas festhalten. Ich hatte noch etwas zu erledigen dort draußen – ich hatte mir dieses Flugzeug nicht nur eingebildet.

Und auch davon abgesehen war es möglich, ein wenig Freude in jedem Tag zu entdecken. Ich hatte Feldarbeit immer gemocht, die Farben, die Gerüche, das Wunder, wenn etwas aus dem Boden sprießt. Wir Menschen sterben für immer, aber eine Pflanze stirbt zurück zu ihrer Wurzel. Auch das war eine Art Trost für mich: Wenn die Zeiten hart sind, begünstigt die Natur das Kleine, Einfache.

Ich war von der Kraft dieser Erde überwältigt. Wir bauten so viel an, dass wir im Herbst gar nicht alles ernten konnten. Einige Felder überließen wir einfach sich selbst, andere pflügten wir unter. Im August und September kamen uns die Tomaten, die Kürbisse, der Mais, die Milch und die Butter zu den Ohren heraus. Und das mit Sklavenarbeit – man stelle sich vor, was freie Menschen aus diesem Ort gemacht hätten.

Etwas Derartiges kam natürlich keinem der Gefangenen über die Lippen. Wir hatten ungeschriebene Regeln, strenger als die zehn Gebote. Nur der unbedarfteste Neuling ließ erkennen, dass er von all dem Essen beeindruckt war. Alle anderen nörgelten und beschwerten sich und schlugen wild um sich, wenn ihnen jemand zu sehr auf die Pelle rückte – und auch, wenn nicht, solange man sich bei den Wachen nur in ein gutes Licht rücken konnte –, und zeigten niemals Überraschung oder Zweifel und waren niemals neugierig.

 

Es gab einen Stall, in dem die Wachen ihre Schweine züchteten, und einmal wurden Shamsudin und ich dort hingeschickt, um Teile des Dachs mit Schindeln zu bedecken. Es war Hochsommer und furchtbar heiß dort auf dem Dach, aber als relativ neue Gefangene gab man uns die anstrengendsten Arbeiten. Außerdem hielten es die Wachen offenbar für witzig, eine Frau und einen Moslem auf dem Dach eines Schweinestalls schuften zu lassen.

Wir begannen also mit der Arbeit, und nach etwa fünfzehn Minuten machten sich die Kerle, die uns eigentlich bewachen sollten, aus dem Staub und ließen uns allein. Die Sonne brannte vom Himmel, und der Geruch nach Teer und Schindeln trug mich weg von diesem Ort, ließ mich an zu Hause denken.

Shamsudin war etwas abseits zu meiner Linken zugange. Nach einer Weile blickte ich zu ihm hinüber. Er sah nicht auf, sondern saß weiter zusammengekauert auf der Dachschräge. Ich fragte mich, weshalb er so still war, und aus irgendeinem Grund kam mir in den Sinn, dass er sich schuldig fühlte, weil er mir nach unserer Ankunft im Lager als Freund den Rücken zugewandt hatte. Dann bemerkte ich, wie langsam er sich bewegte. Vorsichtig näherte ich mich ihm und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sein Gesicht war grau, und der Hammer in seiner Hand zitterte.

Er stand kurz davor, umzukippen, offenbar machte ihm die Höhe zu schaffen. Das Dach war etwa sieben Meter hoch. Ich traute mir nicht zu, ihn allein festzuhalten, sollte er wirklich fallen, also wandte ich mich um und rief nach den Wachen. Shamsudin aber legte mir die Hand auf den Arm, und sein Blick bat mich, still zu sein.

Auch auf Bodenhöhe hätte er sich mit der Arbeit sehr schwergetan. Etwas von meinem Vater steckte in Shamsudin – er gehörte nicht in die raue Welt des Nordens, seine Hände ähnelten mehr denen einer Frau als meine.

In einer anständigen Welt braucht man sich für seine Schwäche nicht zu schämen, doch das Leben im Lager hatte nichts Anständiges. Die Arbeit nicht ordentlich zu verrichten, bedeutete hier mindestens eine Woche Einzelhaft. Und im schlimmsten Fall würde es Shamsudins Reputation genau die Art von Schaden zufügen, die andere dazu ermutigte, ihn fertigzumachen. So lief das hier.

Ich half ihm, damit er sich am Dachfirst festhalten konnte, und reichte ihm dann die Nägel. Doch er wirkte weiter steif und unsicher und bemühte sich, nicht nach unten zu sehen. Um ihn abzulenken, schlug ich vor, dass wir uns unterhalten sollten.

»Worüber sollen wir uns denn unterhalten?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Sag mir, wie wir in dieses Schlamassel geraten sind.« Ich meinte eigentlich, wie wir auf dieses Dach geraten waren, aber Shamsudin neigte stets zum Spekulieren, und er teilte die Leidenschaft vieler Gefangener, über die Katastrophen zu reden, die uns heimgesucht hatten, und warum sie sich ereignet hatten.

Ich war der Meinung, dass nichts unsere Ahnungslosigkeit deutlicher unter Beweis stellte als das Gerede der Gefangenen über diese Dinge. Man bekam so viele Erklärungen, wie man Leute fragte, und die meisten erzählten Märchengeschichten, bei denen sich selbst Kinder geschämt hätten: Ein Stück vom Mond war ins Meer gefallen und hatte eine Flutwelle verursacht … Winzige Maschinen hatten das Sonnenlicht aufgefressen … Und dergleichen.

Natürlich wusste ich, was ich gesehen hatte – verzweifelte Menschen, die über unsere kleine Stadt hergefallen waren –, und ich konnte erraten, vor was sie geflohen waren – Missernten, Städte ohne Wasser, marodierende Banden –, doch was hinter diesen Plagen lag, wusste ich nicht.

Während sich Shamsudin also mit einer Hand an den Schindeln festhielt und versuchte, nicht hinabzusehen, und mir mit der anderen die Nägel reichte, erklärte er mir seine Sicht der Dinge.

Er sagte, die Erde sei fast fünf Milliarden Jahre alt, und schilderte, wie sie vom Weltraum aus aussah, von einem Wolkenschleier umgeben, und wie sie im Laufe der Jahrmillionen erst blau, dann weiß, dann wieder blau geworden war. Es hatte lange Sommer gegeben, in denen es in den Ozeanen vor Leben nur so gewimmelt hatte, und Winter, in denen selbst das Meerwasser gefroren war. Fünf Mal in dieser Zeit, immer wenn es zu dunkel oder zu heiß geworden war, war alles Leben von der Erdoberfläche gefegt worden. Und das eine Mal – ein großer Mond war aus dem All auf Mexiko gekracht – hatte es die Dinosaurier erledigt.

Für mich klang das wie ein weiteres Märchen, und ich fragte ihn, ob das alles in seinem Heiligen Buch geschrieben stünde, aber er schüttelte den Kopf und sagte, das sei »wissenschaftlich erwiesen«.

Fünf Mal also – und nun waren wir an der Reihe. Wir waren aus dem Schlamm gekrochen, hatten den Planeten bevölkert, hatten jede Ecke besiedelt, egal ob Eis oder Wüste, und waren dabei immer schlauer und einfallsreicher geworden. Und dann hatten wir begonnen, die Erde umzugestalten. Vom Weltraum aus konnte man sehen, wie Raketen und Satelliten aus dieser kleinen Kugel herausschossen wie Popcorn. Seit wir die Landwirtschaft erfunden hatten, befand sich die Erde in einer ihrer Warmzeiten – wir waren also an vorhersagbare Jahreszeiten und ein passendes Anbauklima gewöhnt. Nun aber gab es so viele von uns, und wir wollten so viel, und wir alle waren mit den Erfindungen voriger Jahrhunderte bewaffnet. Einst waren wir lediglich ein Haufen nackter Affen gewesen, die im Hinterland eines afrikanischen Ozeans nach Essbarem gesucht hatten – jetzt waren wir eine gewaltige Armee, ein Termitenhügel voller Riesen, die den Planeten zum Erzittern bringen konnten, wenn wir gemeinsam aufstampften, und die die Luft allein durch ihren Atem wärmten.

Shamsudin sagte, der Planet hätte sich aufgeheizt. Also schaltete man die Schornsteine ab, schloss die Fabriken und hörte zu fliegen auf, und einige, wie meine Eltern, änderten ihre Lebensweise radikal.

»Du hast mich nach dem Koran gefragt«, sagte Shamsudin. »Ich sehe es aber wie ein Arzt. Trotz all unseres Wissens geschehen Dinge, die wir nicht verstehen. Manchmal stirbt der Patient nicht an seiner Krankheit, sondern an der Medizin.«

Es stellte sich nämlich heraus, dass der Rauch der ganzen Feuerstätten wie ein Schirm gewirkt und die Welt einige Grade kühler gehalten hatte, als sie sonst gewesen wäre. In dem verzweifelten Versuch, das Richtige zu tun, hatten wir den Ast abgesägt, auf dem wir saßen. Die Dürren und Stürme der folgenden Jahre führten zu allem Weiteren.

Das Leben in Städten war Geschichte.

Ich fragte Shamsudin nach der Welt jenseits des Nordens und dachte dabei an das Flugzeug, doch er zuckte nur mit den Achseln. »Der ganze Planet ist ein karger und uninteressanter Ort geworden«, sagte er. »Menschliches Elend kennt nur wenige Spielarten: Zeltstädte, Zwangsarbeit, Hunger, Brutalität, Männer, die sich Essen und Sex mit Gewalt nehmen. Du hast das alles selbst gesehen.«

Als er zu Ende geredet hatte, war ich mit dem Dach fertig, aber wir blieben beide noch ein bisschen und verschnauften in der Sonne. Offenbar war Shamsudins Höhenangst vorüber. Wir waren noch immer dort oben, als die Wachen kamen und uns zum Abendappell trieben.

 

Anfänglich ging ich bei den meisten Gefangenen noch als Mann durch. Ich hielt mich am Rande, duschte allein und hortete diskret die Kleider, die ich für einen Monat brauchte. Aber früher oder später, das war mir klar, würde die Wahrheit herauskommen – so, wie wir lebten, konnte es nicht anders sein. Und ich war darauf gefasst, dass es hart werden würde. Die Männer im Lager dürstete es geradezu nach den Schwächen anderer.

Ich war im Badehaus, als es passierte. Zwei Kerle kamen hereingestolpert und zogen mir zum Spaß die Hosen runter. Sie waren von dem, was sie sahen, zu verdutzt, um spontan darauf zu reagieren, aber als ich an diesem Abend von den Feldern kam, merkte ich an den Blicken, die man mir zuwarf, dass sie es rumerzählt hatten.

Ich war gerade dabei, in der Baracke meine Arbeitshandschuhe zu flicken, als mich der Größere der beiden, die mich überrascht hatten, ansprach.

»Komm heute Nacht doch zu mir, Makepeace. Ich habe vierzehn Zoll kolbasa für dich.«

Ich hörte, wie er seine Hose öffnete und seinen Schwanz rausnahm. Ich sah auf, und ich schätze, meine Augen verrieten die ganze Verachtung, die ich für ihn empfand.

Es schien, als ob sich die ganze Baracke mit ihm amüsieren würde.

»Zieh ihr lieber was über den Kopf. Ich habe schon Elche mit hübscheren Gesichtern gesehen.«

»Ach was, ich dreh sie einfach um.«

Und so weiter. Vor allem die beiden aus dem Badehaus überboten sich darin, was sie alles mit mir tun würden. Ich spürte, wie die Neugierde überall um mich herum wuchs. Einer nach dem anderen unterbrach seine Arbeit oder legte die Karten zusammen, um zuzusehen. Von den weiter entfernten Betten, wo die muslimischen Gefangenen unter sich waren, verfolgten Shamsudin und Zulfugar mit ernsten Gesichtern das Geschehen.

Nun beteiligten sich auch einige der anderen Gefangenen an dem Wettstreit der beiden aus dem Badehaus und stachelten sie an. Man merkte, dass es diese Männer, die einander sonst mit Angst und Misstrauen begegneten, ungemein erleichterte, eine gemeinsame Zielscheibe zu haben.

Ich entschied, mich ruhig zu verhalten. Ich wollte keine Schwäche zeigen oder gar feige wirken, aber ich durfte auch keine dicke Lippe riskieren. Das war wie Sachen auf Pump zu kaufen – früher oder später musste man die Rechnung zahlen. Ruhig biss ich den Faden ab und zog den Handschuh über, um die neue Naht zu prüfen.

Der Größere der beiden Kerle riss noch immer das Maul auf. Offenbar genoss er seine neue Popularität. Aber die anderen Gefangenen begannen sich bereits zu langweilen und drängten ihn, seinen Worten endlich Taten folgen zu lassen.

Und so näherte er sich langsam, von einem Chor aus Gejohle und Gepfeife begleitet, meinem Bett. Es war das unterste von drei Brettern, und er musste sich zu mir hinunter bücken.

Ich sagte, er stünde mir im Licht, er solle aus dem Weg gehen.

Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Er streckte die Hand nach mir aus, um mich zu packen, und ich jagte ihm die Stopfnadel zwischen die Beine.

Keine Ahnung, ob er dort unten so groß war, wie er behauptete, oder ob ich nur einen Glückstreffer landete, jedenfalls rannte er kreischend ans andere Ende der Baracke, und das Gelächter, das ihn begleitete, war so laut, dass ich dachte, es würde uns das Dach wegblasen.

Shamsudin allerdings lachte nicht. Er hatte den Blick zu Boden gerichtet, und als er aufsah, war nichts als Kälte in seinen Augen.

Ich fand nicht, dass er für mich hätte eintreten sollen, aber vielleicht sah er das so. Wie auch immer, wir beide wussten, dass die Sache damit noch lange nicht erledigt war.

 

Am nächsten Abend nach dem Appell rempelte mich Shamsudin auf dem Weg zum Essen an. Ich war zu überrascht, um etwas zu sagen. Er entschuldigte sich sofort und bückte sich dann. »Hier, das hast du verloren«, sagte er und drückte mir etwas Kaltes in die Hand.

Es war die Hälfte einer Schöpfkelle, an einem Ende abgebrochen, etwa sechs Zentimeter lang. Ich wusste seine Hilfe zu schätzen – die Wachen filzten uns regelmäßig nach Messern, und wenn man das bei ihm gefunden hätte, hätten sie ihm das Leben ziemlich schwergemacht.

Ich schärfte das Metall an einem Stein und brachte mit Fensterkitt einen Griff aus Stoff an. Jeden Morgen versteckte ich es in einer Ecke in der Latrine, und jeden Abend nahm ich es wieder mit und legte es unter die Jacke, die ich als Kissen verwendete.

Es zerrte ziemlich an meinen Nerven, auch nachts ständig wachsam bleiben und auf das Atmen in der gedrängten Baracke hören zu müssen, aber ich fand dieselbe Befriedigung darin, wie ich sie früher beim nächtlichen Jagen empfunden hatte oder wenn ich in der Werkstatt ein neues Gewehr gebastelt hatte, all meine Aufmerksamkeit auf eine einzige Sache gerichtet. Und mehr als einmal bereute ich in diesen schlaflosen Nächten, dass ich damals keine Klinge zur Hand gehabt hatte, als Eben Callard und seine Freunde über mich hergefallen waren.

 

Sie warteten eine Woche, bevor sie mich zu überrumpeln versuchten, und als sie schließlich kamen, war ich bereit.

Ich hörte ihre Füße über den Boden huschen, als sie aus ihren Betten schlüpften und zu mir herüberkamen. Natürlich hatten auch sie Klingen, aber ich war nüchterner und schneller und wütender und erwischte einen von ihnen am Hals und einen anderen am Rücken und dann am Hintern, als er kreischend davonrannte. Und als dann die Wachen mit ihren Laternen hereingerannt kamen, stellte sich heraus, dass er sich in seiner Panik auch noch tief in den eigenen Finger geschnitten hatte.

Die Wachen brachten mich in eine Zelle, und auf dem Weg dorthin verfluchte ich die ganze Bande und rief, dass jeder, der so etwas mit mir probierte, dieselbe Behandlung erwarten konnte. Die beiden Männer hatten überlebt, was ein Jammer war, aber zumindest der Finger war nicht mehr zu retten.

 

Ich musste ein paar Tage in der Zelle verbringen, doch das war keine große Unannehmlichkeit. Im Gegenteil war ich ziemlich zufrieden mit dem Verlauf der Dinge und ging davon aus, dass man von nun an den nötigen Abstand zu mir halten würde. Außerdem wusste ich, dass die Wachen mich nicht töten würden, besaßen wir doch für sie einen nicht zu geringen Wert – warum uns sonst den ganzen Weg hierherbringen und uns Essen und ein Dach über dem Kopf geben? Und ich freute mich auf die Feldarbeit, wenn sie mich wieder rausließen.

Ein, zwei Wochen später – ich bündelte gerade Heu – machte Caleb Boathwaite seine Runde auf den Feldern und hielt neben dem Wagen, auf dem ich stand.

»Ich habe gehört, es gab da ein kleines Missverständnis mit Stavitsky und Maclennan«, sagte er.

Ich zuckte nur mit den Schultern.

»Offenbar hat Maclennan seinen Finger verloren.«

Ich zuckte wieder mit den Schultern und versuchte erst gar nicht, so zu tun, als ob mir das leid täte.

Boathwaite auch nicht.

 

Weil ich meine Mitgefangenen nicht ausstehen konnte und Shamsudin es nicht wagte, seine Stellung in der muslimischen Gemeinschaft durch unsere Freundschaft zu gefährden, kamen die allerneuesten Gerüchte immer etwas später bei mir an als bei den anderen. Was mir nichts ausmachte, da das meiste davon ohnehin Unsinn war und ich genug mitbekam, wenn ich vor dem Schlafengehen den Gesprächen in der Baracke lauschte. So wurde mir zwar schon recht früh klar, dass Boathwaite diesem ganzen Aufwand mit dem Arbeitslager äußerst skeptisch gegenüberstand, aber es brauchte ein wenig, bis ich den wahren Grund für unsere Gefangenschaft erkannte.

 

Etwa acht Monate nach unserer Ankunft, irgendwann im Februar, ertönte in aller Frühe das Wecksignal, und sie ließen uns noch vor dem Frühstück auf dem Appellplatz antreten.

Es war noch halb dunkel, und in der frostigen Stille konnte man unseren Atem sehen und das gedämpfte Stampfen unserer Füße hören, mit dem wir uns aufzuwärmen versuchten.

Neben den üblichen Wachen waren diesmal noch einige mehr da, manche von ihnen ganz neu dabei, alle für eine Winterreise ausgerüstet. Jede Wache ging die Reihen ab und wählte jeweils zwei Gefangene aus. Ihr Anführer war ein Kerl namens Tolya, ein Halbrusse, Boathwaites rechte Hand im Lager, und während er langsam die Gefangenen abschritt, nahmen diese Haltung an und neigten sich leicht vor, als hofften sie, ausgewählt zu werden.

Schließlich blieb Tolya vor mir stehen, und ich hörte die Männer rechts und links von mir flüstern: »Mich, Tolya, mich.« Tolya sah sie sich beide an, dann lächelte er und nickte einem von ihnen zu. Der Bursche war sichtlich erfreut, dass man ihn genommen hatte. Er grinste uns zu, während er sich entfernte.

So ging es weiter – bis zwanzig Gefangene ausgewählt waren und davonmarschierten.

Auf dem Weg zurück in die Baracke fragte ich den Mann, der neben mir gestanden hatte, was es mit all dem auf sich hatte.

Er sah mich verblüfft an. »Na, diese Glücklichen gehen jetzt in die Zone.«

Das war das erste Mal, dass ich dieses Wort hörte. Fakten waren wie alles andere Wertvolle im Lager – schwer zu kriegen.

Dann sagte der Mann, dass die Zone eine Fabrikstadt nordwestlich von hier war. So wie manche Gefangenen zu Wachen befördert wurden, brachte man andere in die Zone, wo man sie für eine Art industrielle Arbeit ausbildete. Nur die Fähigsten wurden dafür ausgewählt.

Ich spürte einen Stich des Bedauerns, dass man nicht mich genommen hatte, und so hoffte ich das nächste Mal, als man uns antreten ließ, inständig, dass eine Wache vor mir stehen blieb und mir auf die Schulter tippte, doch leider kam ich der Sache auf diese Weise nie wieder so nahe.