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UND DAS WAR ES DANN im Wesentlichen für die nächsten Wochen. Immer die Straße entlang, vom frühen Morgen bis zum Anbruch der Nacht, immer nach Nahrung und Wasser für die Pferde Ausschau haltend. Das Eis wurde von Tag zu Tag dicker, bis es nicht mehr reichte, der dünnen Schicht auf einem Bach einen guten Schlag mit einem Ast zu verpassen, und ich die Axt auspacken und mich durch die Kruste hacken musste.
In den meisten Nächten riskierte ich ein Feuer. Ich hatte keine Menschenseele auf der Straße gesehen, und abgesehen davon behielt ich die geladenen Waffen immer in Reichweite.
In der ersten klaren Frostnacht dann sah ich die Lichter, die sich am Himmel bauschten, als würde Gott die frische Bettwäsche ausschütteln – wenn der Allmächtige denn auf grüner Gaze schläft. Später im Jahr würden die Lichter mehr Farben haben, aber sie gefielen mir jetzt schon sehr. Bewegung hat etwas Beruhigendes, und das leichte, fließende Muster der Lichter über mir fühlte sich an, als strich mir jemand durchs Haar.
Nach etwa einer Woche schoss ich einen Elch und schlug mein Lager für zwei Nächte am selben Fleck auf, um ihn richtig zerlegen zu können. Das Fell musste ich zurücklassen und aus den Innereien machte ich mir nichts, aber so ziemlich alles andere räucherte ich oder ließ es gefrieren und nahm es mit.
Während ich das Tier aufschnitt, hatte ich einen seltsamen Gedanken, der wie aus dem Nichts zu kommen schien. Einmal im Leben, sagte ich mir, wollte ich eine Orange kosten. Dieses Wort – Orange – erschien mir unglaublich schön. Ich stellte mir einen orangefarbenen Himmel vor und dann stellte ich mir seinen Geschmack vor: irgendetwas zwischen Karamell und Erdbeeren.
Unter den Sternen, während sich der Planet sanft drehte, und mit einer guten Woche Essen über dem Rauch, hegte ich die Hoffnung, dass wer immer das Flugzeug geschickt hatte, mich am Ende meiner Reise erwarten würde. Manchmal schlief ich ein und träumte, irgendwo anzukommen und von einer Frau empfangen zu werden, die wie meine Mutter war. Sie freute sich zwar, mich zu sehen, rümpfte aber wegen meines schäbigen Aufzugs und meiner schlechten Ernährung die Nase. Sie bot mir einen Korb Orangen an, und mit zufriedenem Lächeln sagte sie: »Die haben wir für dich aufgehoben.« Aber sooft ich das auch träumte, ich wachte immer in dem Moment auf, in dem ich eine davon in den Mund nahm.
Nach zwei Wochen erreichte ich Esperanza. Von der Straße aus hatte ich den Eindruck, dass dies nicht der Ort war, nach dem ich suchte. Trotzdem ritt ich hinein, um ganz sicherzugehen.
Es war eine Kopie der Stadt, die ich hinter mir gelassen hatte, ohne eine Menschenseele, geschweige denn jemanden, der ein Flugzeug fliegen konnte, und zum ersten Mal, seit ich mich aus dem Wasser gezogen hatte, begann ich an dem, was ich da tat, zu zweifeln. All die Tage auf der gefährlichen Straße – nur um einen noch schlimmeren Ort zu finden als den, von dem ich komme? Was, wenn das alles ist, was zwischen hier und Alaska existiert?
Aber das Flugzeug, das ich gesehen hatte, war echt gewesen, daran gab es keinen Zweifel – ich hatte die Crew und die Passagiere mit meinen eigenen Händen bestattet. Und so versuchte ich, mich mit der Frage zu trösten, wie es mir denn ginge, wenn das Leben einfach normal weitergelaufen wäre. Wenn ich weiter wie eine Schabe im Keller gelebt hätte – und sie hier mit, ich weiß nicht was, Schulen und Beerdigungen und Weihnachten und Orangen.
Früher, das habe ich jedenfalls gehört, gab es Kriege, in denen Soldaten im Wald verschwanden, nur um Jahrzehnte später wieder rauszukommen und festzustellen, dass die Kämpfe lange vorbei waren und ihre Familien in Frieden und Überfluss lebten, während sie Wasser aus Baumstümpfen getrunken und Egel gegessen hatten, um am Leben zu bleiben.
Der Gedanke schmerzte – die Vorstellung, dass ich von der richtigen Welt abgeschnitten worden war, und es war etwas Zeit vergangen, und in dieser anderen Welt lief alles weiter, und dann finde ich sie und stehe wie ein Wilder im Lendenschurz vor einer Stadt aus funkelndem Glas.
Aber ich glaube, mir wäre alles lieber gewesen als die ausgebrannten Häuser und der Dreck und der Verfall, der die Geschichte erzählte, in der ich schon so lange lebe. Als ich diese Nacht die Lichter sah, trugen sie kein Fünkchen Trost in sich. Sie wogten kalt über meinem Kopf, wie sie es noch in einer Million Jahren tun werden.
Die Enttäuschung nahm mir etwas an Schwung, aber trotzdem setzte ich meinen Weg fort. Die Tage wurden kürzer und kälter. Jenseits von Homerton, das wusste ich, endete der Highway, und es gab nur noch Winterstraßen bis zum Meer. Ich musste meine Jagdfelle anziehen, um warm zu bleiben, Tungusen-Kleider, die ich jeden Sommer mit aller Macht vor den gierigen Motten verteidigte: Jacke und Hose aus Vielfraßpelz, Handschuhe aus Schneeschaf, weiche Stiefel aus Rentierhaut.
Die Nächte waren meistens klar, der Schnee reflektierte das Mondlicht, und so ritt ich weiter, immer dem Schimmer in der Dunkelheit nach. Ich bemühte mich, die Pferde nicht zu überfordern, aber es war nicht einfach, sie beide satt zu kriegen. Sie wurden merklich dünner, und insgeheim wusste ich, dass ich früher oder später langsamer machen oder mir neue Tiere besorgen musste. Es gab Jakuten-Ponys in der Tundra, doch sie zu finden und zu zähmen konnte bis zum Frühjahr dauern. Nicht, dass ich keine Zeit gehabt hätte, auch wenn ich mir das einredete – ich hatte Angst bei dem Gedanken, langsamer zu gehen. Vorwärts, vorwärts, sagten die Hufe im Schnee. Und nicht zurückblicken. Hinter mir – näher, als mir lieb war – lagen der dunkle Schatten des Sees und die Erinnerung an Ping und ihr Kind, und mir fehlte immer noch der Mut, mich dieser Erinnerung zu stellen.
Und dann, an einem Tag im Dezember, im Halbdunkel des Morgens, kam ich zu einem gefällten Baum am Straßenrand. Zuerst glaubte ich, er sei von alleine umgestürzt, doch als ich näher kam, waren die frischen Axtspuren am Stamm nicht mehr zu übersehen. Der Baum war erst kürzlich gefällt worden. Und ein Stück weiter noch einer. Und noch einer.
Trotzdem: Nur weil jemand schlau genug war, Holz zu fällen, machte ihn das noch lange nicht zu einem Freund. Ich stieg also ab und führte die Tiere zu Fuß neben der Straße weiter, stolperte in den frischen Schneeverwehungen, schwitzte meine Felle nass. So ging es zwar langsamer, doch man lief weniger Gefahr, überrascht zu werden. Und nach und nach näherte ich mich einem unverkennbaren Klang: das Geräusch einer Holzsäge, die in einem Baumstamm vor- und zurückgezogen wird.
Ich band die Pferde an und ging alleine weiter, kroch auf dem Bauch unter den Ästen hindurch, bis ich die Füße der beiden Arbeiter ausmachen konnte. Sie trugen Filzstiefel, was bedeutete, dass sie keine Tungusen waren.
Und während ich da mit Schnee im Gesicht lag und auf ihre Füße starrte, dachte ich: So weit ist es also mit uns gekommen. Sich im Norden irgendjemandem zu nähern, ist eine gefährliche Sache. Und die ständige Furcht ist wie ein Nebel, der die Menschen größer erscheinen lässt, als sie wirklich sind, und alle ihre Bewegungen bedrohlich.
Eigentlich hatte ich beabsichtigt, aufzustehen, aus dem Wald zu treten und so langsam und freundlich wie möglich auf sie zuzugehen, mit einer Hand nichtsdestotrotz an der Waffe. Dummerweise verfing ich mich aber in dem dichten Gestrüpp am Straßenrand. Mein Stiefel steckte in einer Astgabel fest, und die beiden Arbeiter hörten, wie ich mich abmühte, und blickten auf.
Mein Versuch, mich zu befreien, endete damit, dass ich aus dem Unterholz krachte und dabei mit dem Gewehr herumfuchtelte, um mein Gleichgewicht zu halten. Die beiden Männer gerieten in Panik und ließen ihre Säge scheppernd auf den Baumstamm fallen. Und dann bemerkte ich einen dritten Mann, der weiter abseits stand, so dass ich ihn nicht gesehen hatte. Er wandte sich mir zu und hob sein Gewehr.
Ich lag rücklings auf dem Boden, meine beiden Waffen auf seinen Kopf gerichtet, und sagte so langsam und bedächtig wie ich konnte, dass er nicht schießen solle.
Er sagte, ich solle meine Waffen wegwerfen, und am Überschlagen seiner Stimme merkte ich, wie ernst es ihm war. Ich sprach weiter, ruhig und langsam, sagte, dass ich sie leicht hätte töten können, bevor sie mich auch nur gesehen hätten, hätte ich das gewollt.
Das Scheppern der Säge schien durch die Stille zu hallen. Ich wusste, dass er mich nicht erschießen wollte. Manche Menschen haben ein Talent für Gewalttätigkeiten, und ich sah ihm an, dass er dieses Talent nicht hatte, aber ich befürchtete, dass er mich ebenso gut aus Angst töten könnte.
Also legte ich meine Waffen weg und wartete darauf, dass er herkam.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er den Mut dazu aufbrachte, und als er dann endlich über mir stand, das Gewehr auf meine Nase gerichtet, hatte ich einen kalten Hintern und begann schon zu bereuen, dass ich die Waffen weggelegt hatte.
Auch die beiden anderen kamen jetzt zentimeterweise näher. Die Neugier in ihren Augen war nicht zu übersehen, trotzdem trauten sie sich nicht so nahe heran wie ihr Gefährte.
Der Mann mit dem Gewehr sah ziemlich verwirrt aus. Und er war älter, als ich gedacht hatte – nicht so stark wie die zwei anderen, folgerte ich, und daher nützlicher an der Waffe als an einer Säge. Er war auch wärmer eingepackt als sie – er hatte wohl damit gerechnet, Wache zu halten, während sie arbeiteten. Er hatte ein scharf konturiertes Gesicht, das mehr als einen Frost überstanden hatte, und eine große, knorpelige Nase, die an der Spitze rosig vor Kälte war.
»Was treibst du hier?«, fragte er. »Woher kommst du? Zu wem gehörst du? Wie viele von euch sind hier?«
Ich bat ihn, das Gewehr aus meinem Gesicht zu nehmen, und sagte dann, dass ich allein war und ein Gesetzeshüter aus der freien Gemeinde Evangeline und daher befugt, eine Waffe zu tragen.
Er hatte einige Schwierigkeiten, diese Informationen zu verdauen. »Evangeline?«, sagte er. »Dort lebt niemand mehr. Woher kommst du wirklich?«
Seine Stimme klang aufrichtig empört, als hätte ich ihm erzählt, dass ich vom Mond komme, und von ihm erwartet, mir das zu glauben. Aber je öfter ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass die Entrüstung, die er empfand, von Scham herrührte. Ihn dort in seinen zusammengeflickten Kleidern zu erwischen, mit seinem mehr als betagten Gewehr – für einen Mann, der alt genug war, sich an früher zu erinnern, musste das sein, als öffne man die Tür, während er gerade auf dem Klo sitzt.
»Ich komme wirklich aus Evangeline«, sagte ich, und seine Verwirrung war so groß, dass er das Gewehr zur Seite schwenkte. Ich sagte ja, er war kein Soldat.
Nun drängten sich die beiden anderen neben ihn und riefen: »Was sagt er?«
»Er sagt, er kommt aus Evangeline.«
Dass sie mich für einen Mann hielten, kümmerte mich nicht. Die Wochen auf dem Highway hatten mich bestimmt nicht hübscher gemacht.
Ich fragte, ob jemand etwas dagegen hätte, wenn ich aufstehe, und einer der Holzfäller reichte mir die Hand und half mir auf die Füße. Dann stellte ich mich vor, worauf sie mich schweigend anstarrten. Also fragte ich sie, wo sie herkamen, um irgendeine Form von Unterhaltung ins Laufen zu bringen. Der Holzfäller, der mir aufgeholfen hatte, sagte: »Horeb.«
Jetzt war es an mir, verblüfft zu sein. Ihrem Aussehen und ihrem Englisch nach konnte man sie für Siedler halten, aber im ganzen Norden gab es keine Siedlung dieses Namens, zumindest hatte ich nie davon gehört. Und die Vorstellung, dass jemand in dieser Zeit noch den Willen und die Stärke aufbrachte, eine neue Siedlung zu gründen – nun, das überstieg meine Vorstellungskraft.
Ich hatte das Gefühl, in mir zappelte etwas wie ein Fisch in einem Netz. Hoffnung. So schlecht ich für gewöhnlich über Menschen rede und nur das Schlimmste von ihnen erwarte, insgeheim hoffe ich doch darauf, dass sie mich überraschen. Ich schaffe es einfach nicht, sie völlig aufzugeben. Obwohl sie zu neunundneunzig Prozent Dreck sind, sind sie hin und wieder zu engelsgleichen Taten fähig. Ich kann nicht behaupten, dass mir das meinen Glauben wiedergibt, denn ich hatte nie einen, aber es verwirrt schon, wenn so etwas passiert.
Und doch hatten es meine neuen Freunde nicht sehr eilig, mich mit ihrer Gastlichkeit zu überwältigen. Ja, ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich wünschten, ich würde ebenso plötzlich wieder verschwinden, wie ich aufgetaucht war. Ich erklärte ihnen, dass ich zwei Pferde dabeihatte, dass ich seit Wochen unterwegs war und dass ich überaus dankbar wäre, wenn ich bei ihnen die Pferde tränken und mich waschen könnte.
Sie willigten nicht ganz so schnell oder herzlich ein, wie man erwarten könnte, und sie warfen sich eine Reihe zweifelnder Blicke zu, ehe der Mann mit dem Gewehr nickte und der freundlichere der beiden Holzfäller mit mir ging, um die Tiere zu holen.
Dann wartete ich neben dem älteren Mann, während die Holzfäller ihre Arbeit beendeten. Er musste doch einfach neugierig auf mich sein oder wenigstens wissen wollen, wo ich herkam. Und ich hatte auch genug Fragen, die ich ihm stellen wollte. Doch jedes Mal, wenn ich etwas fragte, wandte er sich ab, um sein Gewehr in den Wald zu richten, als würde er jeden Moment mit einem Angriff rechnen.
Wir blieben noch mindestens eine Stunde dort. Schließlich beluden die Männer ihren Schlitten mit dem Holz und legten sich ein Geschirr um, um ihn zu ziehen. Sie waren ein trostloser Haufen und wechselten kaum ein Wort miteinander, und ich fragte mich, ob sie immer so wenig redeten oder ob es meine Gegenwart war, die sie so schüchtern machte.
Ich ging mit meinen Pferden neben ihnen her, und nach einer Weile fragte mich endlich einer der Holzfäller, was mich nach Neu-Judäa verschlug. Es war so lange her, dass ich es jemanden so hatte nennen hören, dass ich einen Moment brauchte, um zu verstehen, was er meinte. Und dann musste ich fast über diese Männer lachen, die sich mit Mühe und Not auf diesem Stückchen Welt behaupteten und es immer noch bei seinem alten Namen nannten.
Ich sagte ihm, seine Frage erinnere mich an diese alte Geschichte von dem Jäger, der zu seinem Freund im Wald geht und unterwegs von einem Bären angefallen wird.
Der Holzfäller schüttelte den Kopf, offenbar kannte er die Geschichte nicht, und da unser gemeinsamer Spaziergang nicht gerade viel Unterhaltung bot, beschloss ich, sie ihm zu erzählen.
Der Jäger geht durch den Wald. Es ist Winter, und der Bär ist, was die Russen einen shatun nennen – ein Bär, der aus seinem Winterschlaf erwacht ist, weil es im Sommer nicht genug Nahrung gab, die Lachse nicht sprangen, es keine Beeren gab und so weiter, und er sich deshalb nicht genug Fett hatte anfressen können.
Die Augen der drei Männer waren nun alle gespannt auf mich gerichtet, ja, es kam mir vor, als würde ich die Geschichte einem Haufen Kinder erzählen. Der, der mir die Frage gestellt hatte, hatte zwei blaue Augen, die so rund und vertrauensvoll waren wie zwei staunende Münder, und sein Gesichtsausdruck spornte mich an, die Geschichte mit allerlei Details auszuschmücken, denn mir gefiel, wie er das alles in sich aufsaugte.
»Also«, sagte ich, »wie ihr euch denken könnt, gibt es nichts Übellaunigeres als einen abgemagerten, schlaflosen Bären im Februar, dem der Pelz vor lauter Hunger schon ganz schlaff vom Körper hängt. Und was sieht dieser Bär nun? Einen kräftigen Jäger auf seinem Weg durch den Wald. Bei diesem Anblick läuft dem Bär das Wasser im Mund zusammen, und er springt den Jäger an. Der Jäger und der Bär kämpfen eine Weile, aber der Bär ist hungriger, stärker und verzweifelter. Dann, gerade als die riesigen Kiefer des Bären den Kopf des Jägers wie einen Kiefernzapfen zu zermalmen drohen, gelingt es diesem irgendwie, sich zu entwinden und zu fliehen. Ihr könnt euch ja vorstellen, wie übel zugerichtet er an der Hütte seines Freundes ankommt. Er ist mehr oder weniger mit dem Leben davongekommen, aber der Bär hat ein großes Stück seines Arms mitgenommen und sein Gesicht blutig gekratzt. Zu allem Überfluss ist dem Jäger sehr schwindlig, wegen des Blutverlusts. Also hämmert er an die Tür, denn er braucht Wasser und einen Verband, um die Blutung zu stillen. Da öffnet ihm sein Freund, blickt ihn an und sagt mit todernster Miene: ›Wie ich sehe, hast du Flossie schon kennengelernt.‹«
Vielleicht hatte ich es einfach nicht mehr drauf, Geschichten zu erzählen, schließlich hatte ich in letzter Zeit wenig Gelegenheit gehabt, in Ruhe ein Schwätzchen zu halten. Die Stille jedenfalls, die sich ausbreitete, nachdem ich fertig war, erinnerte mich an das Scheppern, mit der die beiden Holzfäller die Säge auf den Baumstamm hatten fallen lassen.
Schließlich sagte der Mann mit dem Gewehr: »Es ist schlimm mit den Bären hier in der Gegend. Je weniger es von uns gibt, desto mehr scheint es von denen zu geben.«
Und der Mann mit den großen blauen Augen sagte gar nichts, sondern blickte ein wenig enttäuscht drein, als hätte er eine ganz andere Art von Geschichte erwartet.
Also erklärte ich, dass ich ihnen diese Geschichte erzählt hatte, weil sie dieses Land Neu-Judäa genannt hatten.
Aber sie sahen mich weiterhin ratlos an.
»Ich will damit wohl Folgendes sagen: Wenn etwas schrecklich und gefährlich ist, muss man einen netten Namen dafür finden, um nachts etwas ruhiger schlafen zu können.«
Das machte es auch nicht verständlicher, und meine Erklärung raubte der Geschichte den letzten Witz.
»Wie nennst du denn die Gegend?«, fragte der Großäugige.
Darauf wusste ich keine Antwort. Ich hatte gar keinen Namen dafür. Ich war nicht wie die Tungusen, die schon so lange hier waren, dass jeder Ort eine Bedeutung für sie hatte. Für mich waren es einfach die Stadt, das Land, der Schnee, der Himmel, die Bären. Wenn es überhaupt etwas für mich war, dann war es der Norden.
Mein Vater hatte einen Ausdruck dafür, wenn etwas ein schlechtes Ende nahm. Er sagte, es sei »westwärts gegangen«. Allerdings klang »nach Westen gehen« für mich immer ziemlich gut, schließlich zieht auch die Sonne nach Westen, und in dem bisschen, was ich an Geschichte kenne, sind Menschen immer wieder nach Westen gezogen, um zu siedeln und in Freiheit zu leben. Unsere Welt dagegen war nach Norden gewandert, im wahrsten Sinne, und wie weit genau, begann ich gerade erst zu begreifen.
Wir bogen von der Straße auf einen schmalen Waldweg ab. Wir waren seit etwa fünfzehn Minuten unterwegs. Ich sagte: »Ihr Gentlemen seid ja ziemlich wählerisch, was für Holz ihr schlagt.«
Der Mann mit dem Gewehr wusste, worauf ich hinaus wollte, also war er zumindest nicht begriffsstutzig. »Wir schlagen es nicht gerne allzu nah bei der Siedlung. Wir führen ein ruhiges Leben, und wir wollen von niemandem dabei gestört werden.«
Das klang sinnvoll. Diese Straße konnte einem Ärger ohne Ende bescheren, und ich hatte vermutlich bisher einfach Glück gehabt.
Wir gingen noch ein wenig weiter durch den Wald, bis wir schließlich zu dem Ort kamen, den sie Horeb nannten.
Es war nicht im Geringsten das, was ich erwartet hatte. Sie hatten eine Menge Arbeit in die Siedlung investiert, keine Frage, aber es war kein Ort, von dem unsere Eltern eine allzu hohe Meinung gehabt hätten.
Der schmale Pfad mündete in eine Lichtung von vielleicht einem Morgen Größe, und direkt in der Mitte stand eine fünfeckige Einfriedung mit einem Tor, die etwa ein Viertel der gesamten Lichtung einnahm. Offenbar gab es im Inneren einige Gebäude, denn ich sah Rauchfahnen aufsteigen.
Die Männer bedeuteten mir, zu warten, und verschwanden dann mit dem Holz im Inneren.
Sie blieben ziemlich lange weg, und ich konnte Augen sehen, die mich durch die Ritzen in der Palisade anstarrten, also begann ich mich zu fragen, ob sie nicht einen Hinterhalt vorbereiteten. Bestimmt vergingen zwanzig Minuten, ehe sich das Tor wieder öffnete und ein halbes Dutzend Männer herauskam, angeführt von einem in einer schwarzen Robe, sowie, was noch merkwürdiger war, einer Frau in etwa meinem Alter. Die Frau stellte einen Korb zu meinen Füßen ab, in dem sich etwas graues Salz und der kleinste Laib Brot, den ich je gesehen hatte, befanden.
Es war ein reichlich seltsames Begrüßungskomitee, und einige der Gesichter sahen auch nicht gerade freundlich drein. Der Mann in Schwarz, der vorneweg ging, starrte mich mit einem heiligen Gesichtsausdruck an, bei dem ich am liebsten gekichert hätte. Dann umarmte er mich plötzlich, und ich verkrampfte mich, weil ich eben nicht gerne von einem Mann angefasst wurde. Ich bemerkte, dass er eine Art Parfüm aufgetragen hatte.
»Willkommen, Bruder«, sagte er. »Unser verlorener Sohn. Das, was von uns geblieben ist.«
Und ehe mir etwas einfiel, was ich darauf hätte erwidern können, waren sie schon alle auf den Knien und sprachen ein Erntedankgebet. Ich stand da und kam mir reichlich dumm vor, aber ich wusste, dass ich mir noch dümmer vorgekommen wäre, wenn ich mit ihnen gebetet hätte, also nahm ich einfach den Hut ab, um meinen Respekt zu bezeugen, und wartete darauf, dass sie zum Ende kamen. Und statt mir jetzt nur dumm vorzukommen, kam ich mir dumm vor und fror mir dabei die Ohren ab.
Als das Gebet vorbei war, standen sie wieder auf, und es gab eine Pause, als ob sie etwas von mir erwarten würden. Mir wurde einmal mehr klar, dass bei aller Mühsal, mit der ich mich in meinem Leben herumschlug, betretenes Schweigen nur sehr selten vorkam. Ich sah sie an und entdeckte die Gesichter der drei Männer, die ich im Wald getroffen hatte, und auch sie warteten darauf, dass ich etwas sagte.
Also räusperte ich mich und sagte, wie ich hieß und wo ich herkam, und dankte ihnen für ihre Freundlichkeit. Das schien ihnen allerdings nicht zu reichen, und so fügte ich hinzu, dass sie, obwohl ich bis zum heutigen Tag nie von einer Ortschaft namens Horeb gehört hätte, ihren Vätern alle Ehre machen würden.
»Amen«, sagte der parfümierte Mann in Schwarz darauf und nahm meinen Arm, um mich hineinzuführen. Der Frau bedeutete er, den Korb mit dem Brot und dem Salz mitzunehmen.
Dann sagte er: »Bruder, wir können deine Pferde zu unseren in den Stall bringen. Als Zeichen des Friedens aber ersuche ich dich, deine Waffen abzulegen, solange du unser Gast bist.« Als er mein Zögern bemerkte, fügte er hinzu: »Ich verbürge mich persönlich für sie.«
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, weshalb ich ihm vertraute, aber irgendetwas an ihm erinnerte mich an einen meiner Onkel. Er musste so um die fünfzig sein, und ich ahnte, dass er nicht ganz so bierernst war, wie es den Anschein hatte. Außerdem gefiel es mir, wie er seine Leute herumscheuchte, ohne dabei laut werden zu müssen.
Also legte ich den Waffengurt ab und gab ihn ihm, und dann gingen wir durch das Tor.
Die Siedlung wirkte von innen größer als von außen. Es gab jede Menge Unterkünfte und kleinere Verschläge, die direkt an die Außenwand gebaut waren. Dreißig bis vierzig Leute lebten dort drinnen, darunter Kinder, wenigstens ein Säugling und einige, die zu jung zum Laufen waren. Es war lange her, seit ich das letzte Mal ein Kind gesehen hatte, jedenfalls ein lebendes. Ihre Augen fixierten mich, während ich meinem Gastgeber über den Innenhof zur größten der Behausungen folgte. Sie sahen alle ziemlich gesund aus, vielleicht ein wenig schmuddelig und schmal.
Im Windfang kämpften wir uns aus den Stiefeln und der Winterkleidung und betraten dann einen langen, schlichten Raum, der mich an unser altes Versammlungshaus erinnerte, nur dass am hinteren Ende ein Kreuz hing und es einige Bilder von Maria und dem Jesuskind gab, wie man sie dort, wo ich herkam, nicht geduldet hätte.
Reverend Boathwaite – so stellte er sich vor – lud mich ein, meine Beine an einem flachen, runden Tisch auszustrecken, unter dem ein Kessel heiße Holzkohle stand. Die dicke Tischdecke war aus Baumwolle und hatte etwas Asiatisches. Sechs oder sieben von uns ließen sich dort nieder, die Füße unter dem Tisch von der Kohle gewärmt. Der Reverend legte meine Waffen in eine Kiste, verschloss sie, stellte sie unter den Altar zurück und gesellte sich dann zu uns.
Der Alte mit den Frostbeulen an der Nase stellte einen verschrammten Samowar und einen Teller Süßkram auf den Tisch, der aussah, als wäre er zehn Jahre alt. Der Reverend goss den Tee ein und reichte die Tassen an uns weiter.
»Ich werde nicht so tun, als wären dies gute Zeiten für meine Gemeinde«, sagte er.
»Nein«, erwiderte ich, »aber verglichen mit anderswo geht es euch prächtig.« Die Emailletasse, die man mir gab, war allenfalls halb ausgespült und roch nach Karibu-Eintopf.
»Ist es schlecht bestellt um Evangeline?«
Die Männer am Tisch beendeten ihren Kampf um die Süßigkeiten und warteten gespannt auf meine Antwort.
»Weder gut noch schlecht. Dort ist niemand mehr.« Und dann erzählte ich dem Reverend, was er auf ähnliche Weise schon wissen musste. Die Jahre des Unglücks und der Wanderschaft, als die Flüchtlinge aus dem Süden kamen. All die Hungrigen und Verzweifelten, die kamen, um über die herzufallen, die ein allzu weiches Herz hatten. Ich erzählte, wie wir einige von uns zu Gesetzeshütern ernannten und es uns zur Aufgabe machten, den Frieden zu wahren, aber zu diesem Zeitpunkt war es längst zu spät. »Jedenfalls waren die Stadtbewohner selbst mit die Schlimmsten. Offenbar besteht das Gute nur, wenn die Zeiten es zulassen.«
»Nun, wir gestatten uns mehr Hoffnung als das«, sagte der Reverend.
»In Esperanza war es dasselbe«, fuhr ich fort. »Ich bin auf dem Weg hierher durchgekommen. Und ich schätze, mit Homerton ist es nicht anders.«
»Wenn das dein Ziel ist, Bruder, kannst du dir die Reise ersparen. Was du hier siehst, ist alles, was von Homerton noch übrig ist.«
»Aber ich dachte, dieser Ort heißt Horeb.«
»Man könnte ihn auch New Homerton nennen.« Im Grinsen des Reverend lag kein bisschen Komik. Er rieb sich mit einer Hand die müden Augen, während er mit der anderen nach den Süßigkeiten griff. Und wie ich so in all die dunklen Rauchfleischgesichter um mich herum sah, dachte ich, wie sehr sie doch den Tungusen ähnelten. Als wären sie mit ihren Europäergesichtern, so ausdruckslos wie weiße Seife, hierhergekommen, und die Kälte und der Wind hätten neue, asiatische Gesichter daraus geschnitzt.
»Was ist mit Homerton geschehen?«
Boathwaite schüttelte träge den Kopf. »Ganz ähnlich, wie du sagtest. Am Ende waren wir gezwungen, uns eine schlagkräftigere Variante unserer Glaubensgrundsätze anzueignen. Wir mussten vieles von dem, was uns teuer war, aufgeben.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Vater diese Worte sagte. Für ihn aber wäre das einer völligen Niederlage gleichgekommen, aus seinem Mund hätte es bedeutet: Wir kamen hierher und haben alles verloren.
»Allen Dingen ist eine gewisse Lebensspanne gegeben«, sagte Boathwaite dann. »Man erwartet nur nie, am Ende von etwas dabei zu sein. Man rechnet nie damit, unter den Letzten zu sein.«
Um ihn herum nickten die Männer oder schlürften munter ihren Tee – wie Kinder, deren Vater ihnen die Sorgen abnahm.
»Es ist ein großer Segen«, fuhr Boathwaite fort, »dass ich, da unser Leben so viel härter und einfacher wird, eine solche Nähe zu meinem Gott verspüre.«
Der Mann mit den großen blauen Augen schluckte seinen Tee rechtzeitig runter, um die Worte des Reverend mit einem »Amen« zu krönen, worin die Übrigen einstimmten.
Dann erhob sich der Reverend und sagte, ich sei so lange bei ihnen willkommen, wie ich wollte.
Ohne die Waffen fühlte ich mich etwas leichter um die Hüften, wie jemand, der nach einem langen Tag zu Fuß seine Stiefel auszieht.
Sie stellten mir einen Platz zum Schlafen zur Verfügung in einer Hütte, die einer Frau namens Violet gehörte. Violet briet mir Kartoffeln mit etwas fettem Fleisch und sah mir dann beim Essen zu. Die Hütte hatte einen komischen Geruch, der mir das Essen etwas erschwerte, aber nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt.
Zunächst schien es, als wären nur wir beide hier, aber hinter einem Tuch, das eine Ecke der Hütte abschirmte, rief auf einmal eine heisere alte Stimme: »Ich sterbe!«
Violet hob das Tuch an und sagte: »Sei still, Mutter. Wir haben Besuch. Ein junger Mann.«
Was in doppelter Hinsicht nicht stimmte.
Aus Höflichkeit stand ich auf und machte einige Schritte auf den abgetrennten Bereich zu. Eine winzige, zahnlose alte Frau saß dort in ihrem säuerlich riechenden Bett. Sie sah aus wie ein Sack Stöcke. »Ich sterbe!«, rief sie mir zu.
Violet verdrehte die Augen und ließ das Tuch wieder fallen. »Hör einfach nicht auf sie«, sagte sie.
Das Bett, das sie mir gab, war ihr eigenes – nicht mehr als eine Pritsche eine Handbreit über dem Boden. Das Holz ächzte, als ich mich darauf niederließ. Violet teilte sich das Bett mit ihrer Mutter, die die ganze Nacht über weiterstöhnte und ständig »Ich sterbe!« rief.
Mitten in der Nacht erwachte ich, als Violet aufstand, um einen Scheit in den Ofen zu legen. Die Ofenklappe quietschte, und das Licht in der Hütte wurde etwas heller, als der Scheit Feuer fing. Violet schloss die Klappe nicht sofort, sondern machte einige Schritte in meine Richtung und blieb dann neben mir stehen. Ich tat so, als würde ich schlafen. Das Feuer aus dem Ofen fiel orange auf meine Augenlider, und ich konnte ihren Atem hören, der seufzend ihrer Nase entwich, während sie auf mich herabblickte.
Und dann fühlte ich eine Art Kitzeln und begriff, dass sie meinen Kopf berührte. Sie war ganz sanft, aber mir war überhaupt nicht wohl dabei.
»Was machst du da?«, fragte ich.
Sie erschrak nicht und nahm die Hand auch nicht weg. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte sie.
»Jemand hat es verbrannt.«
»Armes Ding!« Sie streichelte noch eine Weile über mein Gesicht, dann wandte sie sich wieder ab, schloss die Ofenklappe und tappte leise zurück zum Bett der alten Frau.
Ich habe mich nie selbst bemitleidet. Nie. Aber Violets zarte Geste wühlte mich auf eine Weise auf, wie ich es lange nicht mehr erlebt hatte, und ich lag für einige Stunden wach und dachte an Ping und das Baby, und jede Stunde rief die alte Frau wie eine Kuckucksuhr »Ich sterbe!« mit ihrer hohen, heiseren Stimme, die für uns alle zu sprechen schien.