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SO WIE DIE DINGE STANDEN, musste ich also zu Fuß weiter. Ich begrub Shamsudin, dann wanderte ich südostwärts, durch die Taiga, auf der Suche nach dem Beginn des Highways, der mich nach Hause bringen würde.
Es war die denkbar schlechteste Jahreszeit, um zu reisen. Schmelzwasser machte selbst die kleineren Flüsse nahezu unpassierbar. Und wenn man nass wurde und die Temperaturen dann fielen, hatte man am Ende einen Eispanzer über der Hose.
Ich war immer der zähe Typ gewesen, vier Stunden Schlaf ließen mich nach einem Tag Arbeit wieder zu mir finden. Aber jetzt hatte ich Schmerzen und bekam kaum noch Luft. Ich hielt erst jede Stunde, dann jede halbe Stunde, dann alle fünfzehn Minuten. Schließlich ging ich immer hundert Meter und ruhte mich dann fünf Minuten aus. Ich trug meine Sachen auf einem Birkenholzgestell, das mir in die Arme schnitt.
Schon bald war ich auch zu schwach zum Jagen. Der Boden war durchgeweicht, also hackte ich mit letzter Kraft die Äste von einer Lärche und breitete sie zu einem Lager aus. Dann ließ ich mich darauf nieder und wartete auf den Tod.
Ich muss etliche Tage dort gelegen haben, während sich die Krankheit durch mich fraß. Tag und Nacht wirbelten über den Himmel.
Dann, am dritten – vielleicht auch vierten – Morgen, stand ich auf und trank einen Liter Wasser aus dem Fluss.
Jahre später hörte ich, dass die Seuche in Polyn künstlich erzeugt worden sei, maßgeschneidert, um Männer zu töten, Frauen aber zu verschonen. Und das aus ganz praktischen Gründen: um die Soldaten zu töten und die Frauen in Erwartung der siegreichen Armee zu Hause Kinder gebären zu lassen. Es klingt verrückt, aber nicht verrückter als viele andere Dinge, von denen ich weiß, dass sie stimmen.
Als ich wieder kräftig genug zum Gehen war, schulterte ich meine Sachen und stolperte weiter. Ich pflückte junge Farne und aß sie. Auf einigen von ihnen saßen Raupen, und ich verdrückte auch die, so hungrig war ich. Ich dachte gerade darüber nach, meine Patronen zu zählen – ob ich ein paar für die Jagd übrig hatte –, als ich einen süßlichen Geruch wahrnahm.
Etwa zweihundert Meter weiter dann entdeckte ich den Leichenhaufen. Sie waren aufgestapelt wie Holzstämme. Einige waren noch halb bekleidet, aber die meisten hatte man ausgezogen, und ihre Glieder schimmerten wächsern im Sonnenlicht. Auf einmal schmeckte die Raupe bitter in meinem Mund.
Man hatte sie mit langen Messern umgebracht, manche waren nur noch Rümpfe. Tolyas Kopf lag obenauf, mit hängenden Mundwinkeln, und blinzelte unter schlaffen Lidern hervor. Ameisen machten sich geschäftig über die Münder und Augen her.
Ich schätzte, dass sie seit zwei oder drei Tagen tot waren. Die Spuren der Angreifer waren mit dem Schnee weggeschmolzen, aber hier und da hatten sie etwas fallen gelassen – einen Stiefel, eine Satteltasche, einen Kochtopf –, was mich vermuten ließ, dass der Kampf im Dunkeln stattgefunden hatte. Die Wachen waren gut bewaffnet gewesen, und es hatte wohl eine große Zahl Männer gebraucht, sie zu überwältigen. Vielleicht hatten die Erleichterung, die Zone überlebt zu haben, und ihre Feuerkraft sie aber auch unvorsichtig gemacht. Wenn sich ihnen jemand heimlich genähert, sich bei Nacht angeschlichen hatte, waren sie vielleicht zu betrunken oder zu müde gewesen, um sich zu verteidigen.
Ich schwärzte mein Gesicht mit nasser Erde, lud das Gewehr mit den restlichen Patronen und ging bis Einbruch der Dunkelheit abseits des Weges.
Es war die bisher mildeste Nacht. Das Land streifte den Winter ab wie ein nasser Hund, der sich trocken schüttelt. Hin und wieder fiel in großen Haufen Schnee von den Ästen und machte dabei ein Geräusch wie Schritte. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich eine Ladung fallen hörte.
Einige Stunden vor Sonnenaufgang dann setzte ich mich unter einen Baum und döste ein. Als ich die Augen wieder öffnete, war es noch dunkel. Und ich spürte eine Klinge an meinem Hals und eine Hand auf meinem Mund. Die Hand roch nach Erde und Karibu-Fleisch.
Das Messer an meinem Hals zwang mich auf die Beine. Ich war mir zwar nicht bewusst, Angst zu haben, trotzdem machte ich mir in die Hose, so wie damals im See. Langsam breitete sich ein wenig Licht über den Himmel aus, aber es war kein großer Trost, zu meinem Kinn herabschielen und sehen zu können, dass der Kerl, der mich erwischt hatte, Tolyas Armbanduhr trug.
Er führte mich zurück zum Weg und stieß dann einen leisen Pfiff aus. Pferde und weitere Männer tauchten zwischen den Bäumen auf.
Sie unterhielten sich leise in einer kehligen Sprache, die ich für Jakutisch hielt. Ich hatte nie viel mit den Jakuten zu tun gehabt, aber ich wusste, dass sie ein zähes Volk von Pferdezüchtern waren. Die Männer hatten dunkle, flache Gesichter wie Kasachen und trugen ein ganzes Sammelsurium von Kleidungsstücken. Ich erkannte ein paar Mützen und Jacken wieder, die den Wachen gehört hatten, und obwohl sie dick eingepackt waren, konnte ich immer noch die Frauen unter ihnen ausmachen.
Ich kniete im Matsch und hörte ihrem Geschnatter zu. Es klang wie eine Unterhaltung, die man vielleicht auf einem Markt führte, nur dass sie offenbar um mich feilschten. Ich konnte mir denken, was sie sagten: Verschonen oder nicht verschonen? Hier umbringen oder dort drüben? Wer darf ihre Sachen behalten?
Meine Hände fühlten sich wund und feucht an. Ich hatte einen Handschuh verloren, als ich aus dem Wald gestolpert war, aber darauf kam es ja nun auch nicht mehr an.
Von Zeit zu Zeit schaltete sich der Mann, der mir das Messer an den Hals hielt, in die Unterhaltung mit ein. Und jedes Mal, wenn ich seine schrille, hohe Stimme in meinem Ohr hörte, bekam ich es mit der Angst zu tun, denn er drückte dann fester mit dem Messer zu, und ich musste meinen Kopf zurücklegen, damit er mich nicht schnitt.
Ein schwacher blauer Schimmer erhellte inzwischen den Himmel von Osten her. Makelloses arktisches Blau. Und plötzlich wusste ich, dass dahinter nichts auf mich wartete. Keine andere Welt. Keine Mutter, kein Vater, kein Charlo, kein Shamsudin. Keine Ping. Und doch ertappte ich mich dabei, wie ich die Worte des Vaterunsers murmelte, als wären sie etwas zum Draufbeißen, damit ich nicht vor Schmerzen schrie.
Da tauchte plötzlich ein anderer Mann neben mir auf. Er wischte grob den Schmutz aus meinem Gesicht, dann sagte er etwas zu dem Mann mit dem Messer – und unvermittelt lockerte sich der Griff um meinen Hals, drückte das Messer nicht länger in meine Luftröhre, und ich fiel bäuchlings zu Boden.
Dort lag ich dann, den erdigen Geruch von Pilzen in der Nase, während sie über mir hitzig diskutierten. Nach einer Weile rappelte ich mich auf – niemand hinderte mich daran – und erblickte den Tungusenjungen, den Tolya gefangen hatte. Der Mann, der mit ihm stritt, wandte sich jetzt zornig ab.
Der Junge hatte mich gerettet. Er begegnete keine Sekunde meinem Blick oder zeigte in irgendeiner anderen Weise, dass er mich kannte.
Ich sah mich um. Eine Frau mit rotem Gesicht stillte ein Baby. Auf einem Pony neben ihr saß ein blasshäutiges Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Ihre Augen waren zu hell für eine Einheimische, und sie hatte blondes Haar, das in Locken aus der buschigen Fuchsfellmütze fiel. Beinahe hätte ich einen Laut der Überraschung ausgestoßen, doch sie sah direkt durch mich hindurch, mit dem steinernen Blick eines Schützen. Tolyas Marienbild steckte am Aufschlag ihrer Jacke.
Schließlich gingen die Jakuten einer nach dem anderen zu ihren Pferden, und ich sah zu, wie sie davonritten. Die Frau mit dem Baby ritt hinter dem Mann, der Tolyas Jacke trug. Das weiße Mädchen warf keinen Blick zurück.
Nach einer Weile waren nur noch zwei von ihnen mit ihren Pferden auf der Lichtung, der Junge und der Mann mit dem Messer. Der Junge tätschelte die Flanke seines Pferdes, aber anstatt sich in den Sattel zu schwingen, drückte er mir die Zügel in die Hand und stieg dann auf dem Pferd des anderen mit auf.
Für einen Moment blickte er mit dem ausdruckslosen Gesicht eines Fremden zu mir hinunter. Seine Züge zeigten weder Freundlichkeit noch irgendeine Art Einvernehmen. Ich hätte nicht sagen können, was er in diesem Augenblick dachte. Es wäre schön, zu glauben, dass er mir einen Gefallen tat – für den, den ich ihm getan hatte. Aber wer weiß das schon. Keine Ahnung, ob die Jakuten überhaupt ein Wort für Mitleid haben.
Das Bild seiner leeren Augen begleitete mich noch, als er sich längst abgewandt hatte. Er zog den Kopf ein, als die beiden unter einem Ast durchritten, der Schnee auf seinen Rücken rieseln ließ. Gleich darauf waren sie verschwunden, und der Wald verschluckte den Klang der Hufe.
Ich dachte daran, wie ich ihn auf der Brücke befreit hatte. Und ich dachte an jene Augenblicke auf der Jagd, in denen ich einfach aus einer Laune heraus nicht geschossen hatte oder Fische zurück ins Wasser geworfen hatte, weil sie zu klein waren. Was interessierten sie schon meine Motive?
Natürlich wäre es tröstlich, zu glauben, dass Gerechtigkeit einem bestimmten Muster folgt, aber ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass dem nicht so ist. Mein Vater hätte die Tat des Jungen als jenen Teil seiner menschlichen Natur bezeichnet, dem Erlösung widerfahren würde. Nun, vielleicht war es ja so, wahrscheinlicher aber findet man eine Kaulquappe in einem Hagelkorn. Wenn ich zehn Karibus töte, sie ihres Fleisches und Fells wegen schlachte und dann ein Kaninchen aus der Schlinge befreie, nur weil ich Lust habe, seinen flauschigen Hintern in den Farnen verschwinden zu sehen – macht mich das vielleicht zu einem Franz von Assisi? Ich würde mir etwas vormachen, wenn ich das glaubte.
Das Pferd leckte meine Hand. Meine Sachen lagen noch unter dem Baum, wo sie mich entdeckt hatten. Ich holte sie, dann zog ich meinen steifen Körper auf das Pferd und ritt Richtung Sonnenaufgang.