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ES WAR SPÄT IM JANUAR, als ich von meinem Besuch bei den Karibu-Hirten zurückgekommen war und erfahren hatte, dass Ping schwanger war. Mit Hilfe eines Kalenders und ein paar Mondskizzen brachte ich sie dazu, den wahrscheinlichsten Zeitpunkt der Empfängnis anzugeben, und dann errechneten wir, dass das Baby um Mittsommer herum kommen würde.

Als der Frühling immer näher rückte, dachte ich darüber nach, ob ich nicht etwas mehr Land bestellen sollte, da wir ja bald zu dritt sein würden. Was ich reichlich besaß, war abgepacktes Saatgut. Im Laufe der Jahre war fast alles Nützliche aus den Läden in der Stadt geplündert worden, doch ein paar Reste waren übrig geblieben, und beim Farmbedarf in der Willow Street fand ich kistenweise abgepacktes Saatgut, das noch niemand angerührt hatte. Wenn man vor allem damit beschäftigt ist, den nächsten Tag zu überleben, dann liegt es nahe, seinen Bauch lieber heute als morgen zu füllen und sich ansonsten seiner Haut zu erwehren. Beides verlangt genug ab, so viel steht fest, und deshalb trug sich wohl auch niemand groß mit dem Gedanken, Getreide anzubauen.

Die Packen hatten Stempel mit längst überschrittenen Ablaufdaten, aber ich wusste, dass das Quatsch war. Ein Samenkorn behält seine Kraft. In der Wüste im Süden gibt es Pflanzen, deren Samen hundert Jahre und länger im Sand liegen und auf den Regen warten – auf den einen Moment, in dem sie wieder blühen können. Ich habe es nie gesehen, aber ich habe gehört, dass alle hundert Jahre der Regen kommt und die Ödnis aus Felsen und Sand zu einem wilden Durcheinander aus Blumen und Pflanzen wird.

Auf dem Dach der Feuerwache ist ein Aussichtsturm, von dem aus man früher nach Waldbränden Ausschau gehalten hat. Einmal, nachdem ich noch mehr Saatgut aus dem Laden geholt hatte, kletterte ich die Sprossen hoch und spähte den Highway entlang, nach Osten, nach Westen. Er wand sich zwischen den Bäumen hindurch wie ein weißes Seidenband.

Die Stadt sah verlassener aus als je zuvor. Ich versuchte, dankbar dafür zu sein. Natürlich vermisste ich es, wie es früher war, aber zwischen mir und »früher« lag eine unüberwindliche Kluft – ein Fluss aus Blut und Feuer.

Es sind die Gewohnheiten, die einen aufrecht halten, wenn alles um einen herum zusammenbricht. Mich einen Hüter des Gesetzes zu nennen, das Zaumzeug sauber und die Pferde in Form für den Morgenritt zu halten, war alles, was zwischen mir und der Hoffnungslosigkeit lag – zumindest, bis Ping kam. Mir war klar, dass das alles seit Charlos Tod zur Farce geworden war.

Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht die Letzte war. Das heißt, Ping und ich. Vor ein oder zwei Monaten noch hatte ich von mindestens drei Familien gehört, die sich in verschiedenen Vierteln der Stadt durchschlugen. Doch als ich da von dem alten Turm hinabblickte, konnte ich keine Spur von ihnen erkennen. Der Morgennebel hatte sich verzogen, und es war ein grauer, frostiger Tag mit etwa minus zwanzig Grad, aber man sah nicht ein Kringelchen Rauch von einem Herdfeuer aufsteigen.

Seit ich denken kann, war diese Stadt mein Zuhause gewesen. Ich dachte an die Zeit vor meiner Geburt, als meine Eltern hierhergekommen waren, zusammen mit den anderen Pionierfamilien. Nur eine Generation später war dieser Ort bereits wieder verlassen.

Von meiner Position aus konnte ich die Bäume sehen, die aus der Tribüne des Softballfelds wuchsen, das selbst nur ein Irrgarten aus wuchernden Büschen war. Die Plakatwände an der Hauptstraße waren von Wind und Wetter ganz eingeschrumpelt. Der Drugstore, wo ich früher immer Malzmilch getrunken hatte, war ein dunkles Nest aus Glas und Holz. Der Bahnhof war nie an die Strecke angebunden worden und würde es nun auch nie werden. All diese Stunden und Tage menschlichen Kampfes, all die Tausende, die Millionen, die es gebraucht hatte, diesen Ort aufzubauen – nur damit er wieder niedergetrampelt wurde wie ein Ameisenhügel von einem verzogenen Kind.

Diese Stadt war für die ersten Siedler das große Versprechen gewesen. Was war sie jetzt? Eine Geisterstadt, die zu Wildnis zerfiel.

 

Keine Seele außer uns war hier geblieben – dessen wurde ich mir von Tag zu Tag sicherer. Man stelle sich das vor: eine Stadt von ehemals dreißigtausend Einwohnern, auf zwei Frauen und einen Bauch reduziert. Und das Komische daran war: Es gefiel mir. Ich begann, zu Fuß durch die Straßen zu laufen, etwas, was ich seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Ich fühlte mich so diesem Ort verbundener – wenn ich unter meinen Füßen das Papier rascheln und das zerbrochene Glas knirschen hörte und all die weggeworfenen Sachen entdeckte, die die Geschichte meiner Stadt erzählten: eine schmutzige Puppe, ein paar Brillen, kaputte Schuhe.

Und dann die Häuser, in denen die Challoners und die Velazquezes gelebt hatten. Ich lehnte eine Leiter an die Außenwände und warf einen Blick hinein. Im Hof der Challoners war eine erbärmlich dürre Katze, aber keine Spur von Menschen. Die Velazquezes hatten ihr Haus ordentlich zurückgelassen, die Möbel waren intakt, der Garten sah aus, als habe man ihn umgegraben, doch es gab keinen Zweifel, dass auch sie weggegangen waren. Rudi, dieser Killer, und sein nicht weniger brutaler Sohn Emil.

Jetzt, da die Menschen fort waren, schien es, als hätte die Natur beschlossen, das alles wieder für sich zu reklamieren. Auf der Considine Avenue stieß ich auf eine Rotte Wildschweine, mindestens zwölf davon, die die Abfallhaufen durchstöberten. Die erwachsenen Tiere waren schwarz und kantig, wie riesige Truhen. Ich schoss vom Pferd aus beide Pistolen leer, und traf zwei von ihnen, während der Rest quiekend davonlief. Ich zerlegte sie an Ort und Stelle. Die Lunge und die übrigen Innereien schleuderte ich in den Hof der Challoners, für die Katze.

Zu Hause angekommen blickte ich auf die Blutspuren, die ich auf dem Eis der Straße hinterlassen hatte, und mich überkam ein eigenartiges Gefühl. Ich legte die leeren Pistolen auf den Küchentisch – und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich zum ersten Mal in fünfzehn Jahren ohne geladene Waffe in der Stadt unterwegs gewesen war.

Wir schlugen uns tagelang die Bäuche voll, räucherten Speck für den Sommer und versuchten dabei, nicht zu sehr darüber nachzudenken, wie die Schweine an ihr Fett gekommen waren. Später bereute ich meine Großzügigkeit der Katze gegenüber, denn Ping kannte eine Methode, Innereien zu Wurst zu verarbeiten.

Das andere, was mir auffiel, waren die Vögel. Im April machten sie morgens so einen Krach, dass ich noch im Dunkeln davon wach wurde. Und es waren so viele verschiedene geworden. Ich wusste ungefähr, welche davon essbar waren, aber die kleineren – nun, ich erkenne einen Spatz und ein Rotkehlchen, doch das hier, das war eine ganz neue Menagerie. Für die Vögel hatten sich die Dinge wirklich geändert. Sie hatten all das Fallobst und all die Beeren ganz für sich. Und so viele neue Plätze zum Nisten.

Ping und ich begannen nach Wegen zu suchen, uns zu verständigen. Ich habe nie ein richtiges Gespür für ihre Sprache entwickelt, aber wir hatten »Chai« für Tee und »Dinner« für so ziemlich jede Mahlzeit und einen Haufen anderer Wörter, die halfen, unser gemeinsames Leben zu vereinfachen, auch wenn wir weit davon entfernt waren, über Politik zu diskutieren oder uns unsere jeweiligen Lebensgeschichten zu erzählen – was mir ehrlich gesagt ganz recht war.

Als sich zum ersten Mal das Baby in ihr bewegte, schnatterte sie etwas in ihrer Sprache, griff nach meiner Hand und legte sie auf ihren Bauch, aber ich konnte ums Verrecken nichts spüren, obwohl sie mit dem Finger auf meinem Arm herumtippte und mir klarzumachen versuchte, worauf ich achten sollte. Erst sechs oder sieben Wochen später konnte auch ich ertasten, wie sich etwas in dem kleinen Melonenbauch regte, und ab April konnte ich sogar konkrete Formen ausmachen, wobei ich mir nie richtig sicher war, ob es ein Fuß oder eine Pobacke oder ein winziger Kopf war, den ich da fühlte.

Ping war sich sicher, dass es ein Mädchen war. Keine Ahnung, wieso. Sie verbrachte die Abende damit, Muster für ihre Kleider auszuschneiden. Außerdem schien die Kleine das Pianola zu mögen – sie wurde immer ziemlich munter, wenn ich eine der Rollen gespielt hatte. Ich hoffte, dass sie musikalisch sein würde und vielleicht herausbekam, wie man das Ding stimmte, denn die Lieder klangen kaum noch, wie sie früher einmal geklungen hatten.

Dieses Frühjahr war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Ping blühte geradezu auf. Sie ließ ihr Haar wachsen, und ihr Bauch wurde größer und größer. Ich verbrachte viele glückliche Stunden in dem Laden für Farmbedarf, wo ich Saatgut für unseren Garten aussuchte. Diese kleinen braunen Päckchen gaben mir ein hoffnungsvolles Gefühl, was die Zukunft betraf: Bohnen, Mais, Spinat, Kürbis, Steckrüben, Radieschen, Melonen, Erbsen, Tomaten, Zucchini, Kohl, Mangold. Beim ersten Tauwetter grub ich den Boden mit Asche und Pferdemist um, und ich dachte, zum Teufel, lass uns auch ein paar Blumen pflanzen, also holte ich mir einen ganzen Haufen: Zwergmispeln, Schleifenblumen, Ringelblumen, Stiefmütterchen. Und immer wenn ich morgens in der Früh zum Chor der Vögel erwachte und meinen Garten plante, kam es mir so vor, als ob etwas Vernunft und Farbe und Ordnung in die Welt zurückgekehrt wären.

 

Ende April war ich mit einem Fernglas wieder einmal auf dem Aussichtsturm und bemerkte, wie sich weit im Osten etwas auf dem Highway bewegte: erst Staub, dann eine Kolonne von Leuten, die langsam auf die Stadt zukam. Diese unheimliche Stille, wenn man so etwas von weit weg durch ein Fernglas beobachtet. Man weiß, dass es dort Geräusche gibt – Pferde, die unter ihrer Last ächzen, Peitschen und Stöcke, rasselnde Ketten, Männer, die auf die Nachzügler schimpfen – , aber man kann sie nicht hören. Und im Fernglas ist alles so flach wie die Bilder in einem Kinderbuch.

Der Anblick rief mir diese große Farbtafel in meiner Kinderbibel in Erinnerung, auf der Moses das Rote Meer teilt. Man sah die Wasserwände zu beiden Seiten, glatt wie Glas, und die Fische, die auf dem trockenen Meeresgrund um sich schlugen und unter den Füßen der flüchtenden Israeliten starben. Im Hintergrund bereitete sich die Armee des Pharaos gerade darauf vor, zwischen die hohen blauen Wände zu treten. Der Streitwagen des Pharaos wurde von einem Paar großer, schnaubender Rappen gezogen, und ich hatte Alpträume, in denen ich hörte, wie ihre Hufe immer weiter zu mir aufholten und ich zwischen den erstickenden Fischen auf die Knie fiel und dachte: Lass es schnell geschehen, lass es schnell geschehen, ehe ich zum Geräusch von Charlos Atem erwachte, der mit offenem Mund schlief, und dieses wässrige frühe Morgenlicht erfüllte wie immer das Zimmer.

Normalerweise wäre ich Ärger ja aus dem Weg gegangen, aber seit Ping und ihrem Baby war ich weniger vorsichtig mit meinem eigenen Leben. Immerhin war ich der einzige Vertreter des Gesetzes in der Gegend hier, und es schien mir nicht richtig, wie ein Dieb auf einer Hochzeit herumzuschleichen, während diese riesige Karawane direkt auf meine Stadt zukam.

Der Highway verlief am Nordrand der Stadt. Eine Schotterstraße führte dorthin, aber zehn Jahre ständiger Wechsel von Frost und Tauwetter hatten sie praktisch unpassierbar gemacht. Ich wollte nicht die Gesundheit der Stute riskieren, also galoppierte ich über das freie Feld. Die Kolonne musste fast zweihundert Seelen umfassen. Als man mich sah, machte der Tross langsam Halt. Ich hatte nicht vor, zu nahe zu kommen, also hielt ich etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt an und wartete ab, ob sich irgendjemand nähern würde.

Die Stute scharrte im Schmutz, während ich wartete. Ich konnte heiße Blicke auf mir spüren. Fünf oder sechs Männer zu Pferde schikanierten die Gefangenen. Ich zählte mindestens drei Gewehre und begann schon, meinen Mut zu bedauern. Da scherte ein großer, schlanker Kerl aus der Reihe aus, ritt nahe an mich heran und tippte sich an den Hut. Er hatte ein scharfgeschnittenes, ledriges Gesicht, blaue Augen, und die Finger, die die zusammengelegten Zügel hielten, waren lang und dünn.

Er leckte sich die gesprungenen Lippen und spuckte in den Schmutz. »Sieht aus, als ob der Regen auf sich warten lässt«, sagte er.

»Kommt drauf an, wie lang man unterwegs ist«, erwiderte ich.

»Noch gut vier Wochen.«

Die Waffe an seiner Hüfte hatte einen langen, silbernen Lauf, so dünn und elegant wie seine Finger. Ich spürte, dass er befürchtete, es könne noch mehr von mir geben, Leute, die sich irgendwo in der Nähe verbargen. Natürlich war er nach außen ruhig und entspannt, wie es sich für einen Pharao gehörte, aber was ihn verriet, waren die Augen seiner Männer, die unruhig umherzuckten und nach Männern in ihren Verstecken suchten.

»Mit was handelt ihr?«, fragte ich.

Seine blauen Augen verengten sich zu Stahlsplittern. Er erwiderte nichts.

Ich studierte die mürrischen Gesichter in der Kolonne, die schmutzigen Menschen, die die Chance ergriffen, sich hinzuhocken und zu verschnaufen: Bauernmädchen, einige Chinesinnen, manche mit gesprungenen roten Wangen, manche dunkler, asiatisch, Einheimische.

»Sehe euch zum ersten Mal hier vorbeikommen«, sagte ich und wusste, wenn er wieder still blieb, bedeutete das Ärger.

Er sah auf seine Hände hinab, die er auf dem Sattelhorn gefaltet hatte, und hob dann den Blick wieder langsam, wie um mich spüren zu lassen, dass er es nicht eilig hatte, meine Frage zu beantworten.

»Wir sind vor einigen Monaten hier durchgekommen. «

»Na, was sagt man dazu«, murmelte ich, um die Pause zu füllen. Ich überschlug, wie schnell ich einen Schuss auf ihn abgeben und dann der Stute die Sporen geben könnte, um von hier wegzukommen. Mein Herz hämmerte, die Zeit schien sich zu dehnen, und meine Augen hatten diese Schärfe, mit der man alles wahrnimmt, wenn der Körper nur genug Kampfhormone ins Blut schüttet. Auf den Pferden hinter ihm konnte ich einzelne grinsende Gesichter ausmachen.

»Um genau zu sein«, sagte er, »habe ich hier in der Gegend ein Mädchen verloren. Du bist wohl kaum auf eine Streunerin gestoßen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»So ein Pech. Ich hatte Gefallen an ihr gefunden.« Leder quietschte, als er sein Gewicht im Sattel verlagerte. »Na schön, war nett, mit dir zu plaudern.« Er tippte sich an den Hut und gab seinem Pferd die Sporen, ritt den Weg zurück, den er gekommen war, und seine Männer scheuchten die sitzenden Gefangenen wieder auf die Beine.

Ich blieb noch eine ganze Weile stehen und sah ihnen nach, teils aus Neugier – woher kamen sie wohl, Herren wie Sklaven, und was für ein Leben hatten sie geführt? –, aber auch für den Fall, dass es einem von ihnen vielleicht einfiel, auf gut Glück einen Schuss abzugeben, sobald ich den Blick abwandte.

Es gab Zeiten, in denen ich mich fragte, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, zurückzubleiben, während alle anderen weggezogen oder gestorben waren. An diesem Tag, als ich die Menschenkolonne im von ihren Füßen aufgewirbelten Staub verschwinden sah, befiel mich eine tiefe Angst, was während meiner Abwesenheit mit der Welt dort draußen geschehen war.