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BEIM ERSTEN LICHT des Tages waren wir schon wieder unterwegs, die Wolken über uns ein Gebirge aus Schwarz und Rot.

Ich weiß nicht, ob es die Stimmung unter den Männern an diesem Morgen war oder die Grabesstille dieses vergifteten Landes, ich hatte jedenfalls eine böse Ahnung, was unser Ziel anbelangte. Und ich hatte Angst, dass Tolya den Jungen töten würde, um sich die Mühe zu sparen, ihn mitzuschleppen, also übernahm ich die Verantwortung für ihn und ließ ihn hinter mir hertrotten. Er fügte sich in sein Schicksal wie ein Herdentier.

Es dauerte etwa zwei Stunden, bis wir den Kamm eines flachen Hügels erreicht hatten. Der Junge und ich waren die Letzten, die oben ankamen. Die anderen standen schweigend da und blickten ins nächste Tal hinunter.

Dort waren die Ruinen einer Stadt – und keine Stadt wie meine mit ihren kleinen putzigen Häusern, die vom Wasserturm überragt wurden, sondern eine Stadt aus Glas und Beton, mit Bauwerken, die bis in den Himmel zu reichen schienen, und einer Brücke, die einen riesigen Abschnitt des Flusses überspannte. Grau und reglos lag all das da, und Vögel kreisten über den stillen Häusern und Plätzen und Straßen.

Auch wenn einige der Gefangenen die Gelegenheit ergriffen hatten, einen Schluck Wasser oder einen Bissen Brot zu sich zu nehmen, so hatte sie der Anblick doch ebenfalls in den Bann geschlagen.

Tolya reichte sein Fernglas herum, und durch das Glas betrachtet sah die Stadt wie ein Mund voll verrotteter Zähne aus. Aber ihre Ausmaße waren wirklich atemberaubend. Weit hinten, auf einer Anhöhe über der Stadt, stand ein Turm, der an die hundert Meter hoch sein musste. Er sah zu dürr aus, um nicht umgeweht zu werden, und doch war da auf seiner Spitze eine große Scheibe mit Fenstern angebracht, die sich über alle Naturgesetze lustig zu machen schien. An der östlichsten Biegung des Flusses erhoben sich aus einem riesigen rechteckigen Kasten drei Schornsteine, jeder mit roten und weißen Streifen markiert. Aus dem Gebäude selbst entsprang ein Netzwerk aus Kabeln, das von stählernen Beinen zur anderen Seite des Flusses getragen wurde, wo es sich dann in der Ferne verzweigte.

Nachdem wir uns ausgeruht hatten, stiegen wir zum Fluss hinab und ritten am Ufer entlang zur Brücke. Wir brauchten etwa eine Stunde, um dorthin zu gelangen, doch je näher wir kamen, desto langsamer wurden wir. Nicht aus Furcht, sondern weil es so viel zu sehen gab. Jeder reckte seinen Kopf hierhin und dorthin, saugte all das in sich auf. Ja, die Gefangenen, die ins Herz der Stadt gehen würden, schienen geradezu begeistert.

Die Ufer des Flusses waren mit Betonplatten belegt, die sein ursprüngliches Bett verschmälert hatten, und so war er selbst im Winter nicht gefroren.

Auf der anderen Seite des Flusses erhoben sich gigantische Türme. Wie viele tausend Menschen hatten in diesen Türmen gelebt, als die Stadt noch bewohnt gewesen war? Und wie viele tausend Städte wie diese hatte es auf der ganzen Welt gegeben? Früher mussten die Flugzeuge in der Lage gewesen sein, eine solche Stadt aus der Luft zu erkennen: die Umrisse der Straßen, das Leuchten der Fenster.

Bestimmt war mein Flugzeug von einer Stadt wie dieser losgeflogen – ja, vielleicht sogar einer noch größeren – , von einem Ort, der sein Wissen bewahrt hatte, einem Ort, an dem die Menschen jeden Tag erwachten, um ihren Beitrag zu jenem großen Werk zu leisten, das seit undenklichen Zeiten andauerte – anstatt jeden Tag wie Adam zu erwachen und sich Nahrung und Kleidung aus dem Garten nehmen und sich Namen für die Bäume ausdenken zu müssen.

Wir gingen bis zur Mitte der Brücke, wo eine einsame Straßensperre aufgestellt war. Etliche Rollen verrosteter Stacheldraht lagen im Schnee herum. Ab hier würden die Gefangenen alleine weitergehen. Sie waren aufgeregt wie Kinder, einer von ihnen pinkelte sogar von der Brücke hinunter, nur weil er das noch nie gemacht hatte. Der Strahl beschrieb einen Bogen und wurde zu einem feinen Sprühnebel, ehe er die Betonpfeiler in der Tiefe traf.

Dann sahen wir ihnen nach, wie sie die Brücke entlangtrotteten – wie eine Trauerversammlung, die ihre Plätze bei einem Begräbnis einnimmt. Und doch: In diesem Augenblick beneidete ich sie um das, was sie finden würden.

Beim Anblick der Himmelslichter werde ich jedes Mal von Ehrfurcht und Staunen ergriffen, aber ich weiß, dass sie ein Werk der Natur sind. Auf dieser Brücke stehend, den Blick auf die Stadt gerichtet, war alles in meinem Gesichtsfeld von Menschenhand errichtet worden. Menschen hatten diese Türme errichtet und diese Dächer verkleidet. Menschen hatten diese Leitungen zwischen den Masten verlegt. Ich weine nicht so leicht, aber meine Augen wurden feucht, als ich auf die Ruinen dessen blickte, was wir einmal gewesen waren, und verfolgte, wie diese kleine, in Lumpen gehüllte Gruppe von Männern darauf zuging, um wie Vögel auf dem Kadaver eines Riesen daran herumzupicken.

Nachdem sie die Brücke überquert hatten, gelangten die Gefangenen auf einen großen Platz, von dem drei Straßen abzweigten – zwei führten rechts und links am Ufer entlang, die dritte verlief einen Boulevard hinab, der von verdorrten Kastanien gesäumt war, mitten ins Herz der Stadt.

Einige von ihnen gingen in die Knie und überlegten offenbar, was sie als Nächstes tun sollten. Dieses ungewohnte Gefühl – niemand, der ihnen im Nacken saß, die Weite um sie herum – musste ihnen wie ein Hauch von Freiheit vorkommen.

Die Wachen jedoch gaben grelle Pfiffe von sich, und Tolya hob sein Gewehr und rief, sie sollten weitergehen, wir würden in vierundzwanzig Stunden an der gleichen Stelle auf sie warten.

Und so bewegte sich einer nach dem anderen die Straße in die Stadt hinab, bis sie außer Sicht waren und nur noch kleine Wölkchen gefrorenen Atems verrieten, dass dort jemand entlanggegangen war.

Tolya sah ihnen lange nach, völlig reglos, nur sein mahlender Kiefer verriet seine Anspannung. Dann, als die Gefangenen außer Sicht waren, setzte er sein freundlichstes Gesicht auf und holte Fleischdosen, einige Flaschen Schnaps und einen Laib Brot aus seinen Taschen.

Es waren zehn Dosen, und wir waren nur acht, also gab er eine der Konserven dem Tungusenjungen. Einige der Wachen waren gar nicht so versessen darauf, uralte Konserven zu essen, aber als sie den Rest von uns zuschlagen sahen und rochen, dass das Fleisch noch gut war, putzten sie es ebenfalls weg. Der Tungusenjunge schaffte nur einen kleinen Teil seiner Portion.

Das Fleisch lag in einer Art Gelee und war auch nicht gerade mein Geschmack, doch dies schien nicht der Zeitpunkt, wählerisch zu sein.

Tolya schüttete ein wenig Schnaps in den Schnee, dann füllte er unsere Blechtassen. »Auf die Zone!«, rief er, und alle leerten ihre Tassen und rochen dann an ihren Brotstücken, um den scharfen Geschmack zu mildern.

Ich setzte meine Tasse ab, ohne daraus getrunken zu haben, was einigen von ihnen nicht passte. Denn das brachte angeblich Unglück – so, wie sich mit leeren Tassen zuzuprosten oder eine leere Flasche aufrecht stehen zu lassen oder zu essen, wenn man sich dabei im Spiegel sah, oder oder oder.

Stepan schimpfte und verlangte, dass man noch mehr in meine Tasse füllte. Auf seinen Wangen glänzte das Dosenfett, und seine Augen leuchteten schon vom Schnaps.

Ich hielt die Hand über meine Tasse, so dass sie nicht mehr hineingießen konnten, trank aber, was ich hatte, um der Kameradschaft willen. Ich hatte seit Jahren keinen Alkohol mehr angerührt.

Dem Jungen boten sie nichts davon an – Schnaps war zu wertvoll, um ihn zu verschwenden.

Als Tolya die zweite Flasche öffnete, beschloss ich, dass ich hier nicht länger bleiben wollte, weder um mich selbst zu betrinken noch um ihnen dabei zuzusehen. Ich richtete mich auf und schlug mir den Schnee von den Hosen.

»Wohin willst du?«, fragte Tolya.

Ich sagte, ich wolle die Brücke überqueren und mich drüben einmal umsehen.

Da nahm mich Tolya beiseite und sagte, ich solle dort drüben ja nicht weiter als fünfzig Meter gehen. Etwas in seiner Stimme machte mir Angst, und ich wünschte, ich hätte nie den Schnaps getrunken.

Der Himmel ließ die ersten Anzeichen des Abends erkennen: Das Grau über uns wurde schwerer, die Schatten länger. Tolya und ich standen so weit von den anderen entfernt, dass uns niemand hören konnte.

Er legte mir den Arm um die Schultern und drehte mich so, dass wir auf das Ende der Brücke sahen – nicht grob, aber kräftig genug, dass ich wusste, es war ihm ernst. Er deutete auf zwei Laternen beiderseits der Straße, die ins Zentrum führte. »Wenn du weiter als zu denen gehst, kann ich dich nicht mit zurücknehmen. Hast du das kapiert?«

In diesem Moment brachen die anderen in schallendes Gelächter aus.

Tolya senkte seine Stimme, und seine Finger griffen fest ins Fleisch meiner Oberarme. »Die Stadt ist vergiftet«, sagte er. »Keiner verlässt die Zone.«

Ich sagte, das wäre ja ziemlich hart für die Jungs, die wir da reingeschickt hatten.

Er erwiderte nichts, und es schien mir, als ob er noch genug vom alten Leben in sich trug, um sich wegen alldem schuldig zu fühlen. Bestimmt gefiel ihm dieser Auftrag nicht, aber immerhin war er einer der Glücklichen, die ihr Schicksal selbst in der Hand hatten, im Gegensatz zu den Gefangenen.

Stepan rief mit lauter Stimme, dass wir uns doch wieder zu ihnen gesellen sollten.

Ich deutete auf die fröhliche Trinkgesellschaft und sagte zu Tolya: »Wissen sie Bescheid?«

»Die, die schon einmal dabei waren, ja. Die anderen noch nicht.« Mein Gesicht musste wohl meine Gefühle verraten haben, denn er fügte hinzu: »Manche sind verdammt, und manche werden errettet. Sei froh, dass du zu den Erretteten gehörst.«

Dann ließ er meinen Arm los und ging zurück zu den anderen, wo er bald eine schmutzige russische Ballade sang und überhaupt seine gute Laune zur Schau stellte. Ihre Witze und Flüche folgten mir über die Brücke.

Der Wind hatte den Schnee über die Straße verteilt und die eigenartigsten Muster erzeugt. Hier und da hatten die Gefangenen Spuren hinterlassen, die allerdings mehr an Hufe als an menschliche Füße erinnerten.

Sei froh, dass du zu den Erretteten gehörst.

Ja, man hatte mich errettet, um dies zu sehen: eine Stadt ohne Leben, auf ewig konserviert von der Macht des Gifts, das man über ihr ausgestreut hatte. Ein toter Ort, so groß und gewaltig, dass er ebenso gut von Göttern erbaut hätte sein können. Ein Ort, der unsere zusammengeflickten Kleider und unser zusammengeräubertes Essen zum Gespött machte.

Was für eine Art Errettung sollte das sein?

 

Ich ging bis zu dem Platz am Ende der Brücke und sah, dass sich die Gefangenen hier weniger ausgeruht als erleichtert hatten. Offenbar hatten sie angesichts der Strahlung, vor der man sie gewarnt hatte, Angst gehabt, sich dafür einen geschützteren Platz zu suchen, aber irgendwie lag es auch an der Größe dieser Stadt, die man bis in seine Eingeweide zu spüren meinte. Die paar Male, die ich einen Einbruch hatte aufklären müssen – als Einbrüche noch etwas waren, wegen dem man sich Sorgen machte –, hatten die Diebe immer direkt vor das Haus geschissen, in das sie eingebrochen waren. Was wie eine Geste der Verachtung wirkte, waren eher Angst und die Aufregung vor der Tat. Und so ging es auch den Dieben, die wir losgeschickt hatten. Sie hatten die Straßen dieser einst so sauberen Stadt beschmutzt.

Ihre Spuren führten die große Straße hinab, zu welchem Ziel auch immer sie Apofagatos Karte führte. Die Bäume und die großen Häuser verschluckten das Licht, aber etwa fünfzig Meter weiter war eine Lücke zwischen den Gebäuden, und etwas Sonnenlicht fiel auf die Straße. Ich konnte Möbel erkennen – Stühle, Tische, Schubladen –, die umgekippt im Schnee lagen, aus einem der Häuser gequollen wie die Innereien aus einem geschlachteten Tier. Etwas näher, an der nächsten Straßenecke, stand ein kreisrunder Kiosk, verklebt mit Postern, die zu verblasst und zu weit weg waren, als dass ich sie hätte lesen können. Ich wünschte, ich hätte Tolyas Fernglas dabei gehabt. Diese Poster und die Arbeit, die darin steckte – das Papier, die Tinte, die Druckerpresse – , erzählten ebenso wie die asphaltierte Straße und die hohen Gebäude eine Geschichte von Überfluss und ameisenhaftem Ehrgeiz.

 

Als ich zu den anderen zurückkam, waren sie bereits ziemlich betrunken.

Sie wollten wissen, was ich gesehen hatte, also erzählte ich ihnen von der Größe der Stadt. Ihrer Neugierde und ihrem ungezwungenem Lachen nach zu urteilen, hatte Tolya ihnen noch nicht von seinem Plan berichtet, die Gefangenen zu töten.

Als ich von den Straßen und den Möbeln und den Postern sprach, wurden sie nachdenklich, und einige äußerten den Wunsch, das alles selbst zu sehen, aber Tolya sagte, es sei schon viel zu spät, und zog eine weitere Schnapsflasche hervor.

Diese Flasche machte sie wieder gesprächig, und sie taten etwas, was die Männer im Lager nur äußerst selten taten: Sie redeten von ihrer Heimat, ihren Familien, ihrem früheren Leben.

Sie alle hatten Krieg und Unruhen erlebt, etwa die Hälfte von ihnen war früher auf die eine oder andere Art Soldaten gewesen. Das war nicht überraschend – es schien, als würde das Soldatendasein einen Mann ziemlich gut auf das Leben im Lager vorbereiten.

Ein Mann namens Osip erzählte, sein Vater sei Ingenieur gewesen und hätte ihn einmal mit nach Paris genommen. Das befeuerte unsere Fantasie – es klang wie der exotischste Ort, den man sich nur denken konnte, und so hatten wir eine Million Fragen zum Essen dort und zum Wetter und zu den Frauen. Aber Osip schien nicht viel mehr darüber zu wissen als wir oder als das, was man aus einem Buch erfahren konnte. Er sagte ein paar Worte in einer Sprache, von der er behauptete, sie wäre Französisch, doch was uns anbelangte, hätte es alles Mögliche sein können.

Stepan sagte, er sei als Kind einmal in einem Flugzeug geflogen und hätte das Schwarze Meer gesehen. Das Wasser sei so warm wie in einer Badewanne gewesen, und dort hätte es Felder voller Weinstöcke gegeben, so weit das Auge reichte. An den Flug konnte er sich nicht mehr richtig erinnern, außer dass seine Ohren davon geschmerzt hätten.

Tolya war einst zum Priester ausgebildet worden. Er hatte in einem orthodoxen Priesterseminar im Westen des Landes studiert und war dann zu einer Gemeinde in seiner Heimatregion Burjatien geschickt worden. Er sagte, diese Gemeinde sei so lange ohne Priester gewesen, dass sie ihm praktisch alles an Kochen und Putzen abgenommen hatten. Er hatte dort wie ein Fürst gelebt und seine Zeit vor allem mit Ikonenmalerei verbracht. Während er das erzählte, griff er in seine Tasche und zog einen Lederbeutel hervor, in dem ein von ihm gemaltes Heiligenbildchen war. So wie zuvor die Flasche, ging dieses Bild von Hand zu Hand. Osip sah es sich ziemlich lange an und küsste dann den Rahmen, bevor er es an mich weiterreichte.

Das Bild zeigte Maria mit dem Jesuskind und war bestimmt nicht größer als fünf auf fünf Zentimeter. Ich bin kein Experte für diese Art von Malerei, doch es musste eine ruhige Hand gebraucht haben, um es anzufertigen.

Tolya sagte, seinem Dorf sei es noch einigermaßen gutgegangen, als die Zeit des Hungers anbrach. Die Bewohner waren mit Essen eingedeckt, das Wetter, das dem Süden die große Dürre gebracht hatte, hatte ihre Ernte eher begünstigt.

Das Dorf lag etwa hundert Meilen von Ulan-Ude entfernt, und Händler kamen aus der Stadt und boten ihnen horrende Preise für ihre Lebensmittel. Doch die Dorfbewohner waren gierig, sie beschlossen zu warten, bis die Preise ihren Höchststand erreichen würden. Tolya sagte, er hätte sie gewarnt, aber es hätte nichts bewirkt. Die Leute, die als Nächstes auftauchten, waren voller Zorn darüber, dass die Dorfbewohner ihre Kinder Hunger leiden ließen, und sie holten sich Verstärkung und nahmen sich das Essen und brachten alle um, die ihnen Widerstand leisteten.

Felix fragte, wie viele von uns denn in einer richtigen Stadt aufgewachsen seien. Niemand war das. Und niemand außer mir hatte Eltern, die aus einer richtigen Stadt gekommen waren. Auch das war keine Überraschung – ohne Strom und sauberes Wasser waren die Stadtbewohner wie die Fliegen gestorben.

»Was ist mit dir, Makepeace?«, fragte Osip und lächelte mich an. Ich hatte als Einzige noch nicht von meinem früheren Leben erzählt. »Wie ist es dir ergangen? «

»Jemand hat Lauge über mich geschüttet«, sagte ich.

Sie alle blickten mich an, erwarteten, dass ich fortfuhr, aber ich hatte keine Lust, ihnen von Eben Callard zu erzählen und davon, was mir Schlimmes passiert war.

Nach einer Weile gab Tolya eine Kerze in eine verbeulte Laterne, zündete sie an – wir mussten ohne ein Feuer auskommen, weil das ganze Holz in der Gegend verseucht war – und stellte die Laterne so neben sich, dass sie ihn in ein bronzefarbenes Licht tauchte. Und auf einmal schien es mir, als ob er das alles genau so geplant hatte: der Schnaps, die Geschichten, jetzt die Laterne wie ein Licht auf einem Altar. Ganz so, wie er früher seine Gottesdienste geplant hatte.

Er blickte uns an, einen nach dem anderen, und dann sagte er, er wisse, wie sehr wir unser altes Leben vermissen, aber es gäbe leider keine Hoffnung, es in unserer Zeit wiederzuerlangen. Das läge in der Natur der Dinge: Zivilisationen stiegen auf und fielen wieder, und man konnte nichts dagegen tun. Aber wir hätten Glück – wir seien Teil eines Planes, die Welt wieder auf den rechten Weg zu bringen.

Inzwischen war die Ikone einmal ganz herumgereicht worden, und Tolya hielt sie wieder in der Hand. Und er sprach von seinem Leben im Priesterseminar. Davon, wie die Mönche, indem sie die alten Schriften immer wieder neu abschrieben, all das Wissen bewahrten, das sonst verloren gegangen wäre.

Eines musste man ihm lassen: Er hatte eine wundervolle, tiefe Stimme und strahlte eine priesterliche Ruhe aus. Der Alkohol tat sein Übriges, und so lauschten wir Tolyas Geschichte – denn es war die Geschichte, die wir hören wollten.

 

Vor langer Zeit, erzählte Tolya, war die Zone genau das gewesen, wonach sie von der Brücke aus aussah: eine große Industriestadt mit mehr als hunderttausend Einwohnern namens Polyn.

Der Teil von Polyn, der auf der anderen Seite des Flusses lag, war mindestens dreihundert Jahre alt und einst als Hafen für den Flussverkehr gegründet worden. Felle, Holz und Gold aus dem Norden wurden von hier zu den Verladebahnhöfen im Süden gebracht. Einen Teil des Jahres wurden die Güter mit Frachtkähnen transportiert und in den Wintermonaten – bevor die Ufer befestigt wurden und der Fluss nicht mehr zufror – auf dem Eis.

Doch jenseits dessen, was man von der Brücke aus sah, war die Stadt sehr viel jünger, ja, dort lag sozusagen eine zweite, eigenständige Stadt, kein halbes Jahrhundert alt und zu ihrer Zeit einer der fortschrittlichsten Orte der Welt. Und sie war hier errichtet worden, weil man geheim halten wollte, was in ihr vorging.

Man wollte keine Stadt mit zu vielen Verbindungen zur Außenwelt und auch keine, die weit abgelegen irgendwo in der Wildnis lag – beides hätte eine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich gezogen –, also richtete man es so ein, dass es einfach wie ein Ausläufer von Polyn aussah. Diese neue, »geheime« Stadt hatte nie einen eigenen Namen, und die ersten zehn, zwanzig Jahre gab die Regierung nicht einmal zu, dass sie existierte. In den Akten war sie als Polyn 66 verzeichnet – nach dem Breitengrad, auf dem sie lag.

Die Regierung schickte die begabtesten Fachleute der damaligen Zeit nach Polyn 66 – Ärzte, Professoren, Wissenschaftler – und ließ sie in den dortigen Fabriken und Schulen arbeiten. Man brauchte einen speziellen Ausweis, um Polyn 66 zu betreten, den gewöhnlichen Bürgern Polyns war es verboten, dorthin zu gehen, und wer dort ohne die richtigen Papiere angetroffen wurde, wurde schwer bestraft.

Abgesehen davon, dass es in der Stadt viel kälter war, als es die meisten der zugezogenen Wissenschaftler gewohnt waren, bot das Leben dort doch etliche Annehmlichkeiten: große Wohnungen, üppige Gehälter und gutes Essen, das man auch außerhalb der Saison einflog.

Kein Zug fuhr in die Stadt, und es gab keine Straße hinaus. Damals war der einzige Weg, sie zu erreichen, durch die Luft. Von drei Seiten umgab die Taiga die Stadt wie ein Burggraben aus Bäumen, und auf der vierten Seite lag Polyn.

Man erzählte sich, dass Polyn 66 in jenen Tagen ein wahres Sodom war. Wenn man sich nicht gerade für die Jagd und das Eisfischen begeisterte, bot einem der Norden nicht viel Freizeitangebote. Zwar gab es einige Theater und sogar ein Opernhaus, aber die meisten Bewohner verbrachten ihren Feierabend lieber mit Trinken und sexuellen Eskapaden.

Was diese Menschen allerdings zu etwas Besonderem machte, war ihre Tätigkeit bei Tage. Gleichsam wie das Gehirn einer ganzen Gattung versuchten sie sich an der Lösung von Problemen, die die Menschheit plagten, seit sie gelernt hatte, Funken aus Feuerstein zu schlagen. Man kann die Summe ihrer Leistung heute nicht auch nur ansatzweise ermessen, aber man kann mit Fug und Recht sagen, dass es keinen Zweig menschlichen Wissens gab, zu dem sie nicht etwas beitrugen. Sie stellten verbesserte Brennstoffe her, tödlichere Waffen, ertragreicheres Saatgut. Sie blickten durch riesige Fernrohre zu den Sternen und schmiedeten Pläne, die Menschheit in den Weltraum zu tragen. Sie hatten einen völlig anderen Blick auf die Dinge als gewöhnliche Menschen. Sie dachten in Kategorien von Genesis und Apokalypse, rangen mit Geburt und Tod ganzer Zivilisationen – wie man das Leben auf einem Planeten vernichtete und wie man es später einmal wieder dorthin zurückbrachte.

Womöglich rührten sie an Dingen, die zu verstehen wir kein Recht haben: Wie man einem Leichnam wieder Leben einhaucht, wie man die Lebensspanne eines Menschen verdoppelt, wie man ein Kind ohne Liebesakt zeugt … Aber das, was sie am meisten interessierte, war etwas, das »Danielsfeuer« hieß. Außer dem Namen konnte uns Tolya nicht mehr darüber sagen.

Wegen der großen Bedeutung von Polyn 66 hatte die Regierung die Versorgung der Stadt immer aufrechterhalten. Erst als Krieg und Chaos ausbrachen, wurden die Bewohner in Flugzeuge gesetzt und nach Westen in Sicherheit gebracht, und die Stadt wurde dem Verfall preisgegeben.

Zurück blieb die Frucht all dieser jahrelangen Arbeit.

»Erinnert ihr euch«, sagte Tolya, »wie Gott im Buch Genesis den Garten Eden nach der Vertreibung von Adam und Eva von einem Engel mit einem flammenden Schwert bewachen lässt? Im Garten stehen zwei verbotene Bäume: der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Gott will nicht, dass Adam und Eva von beiden essen, sonst würden sie selbst zu Göttern, also versperrt er ihnen den Weg und schickt sie in die Verbannung. Nun, die Regierung fällte dieselbe Entscheidung. Es gibt Dinge in Polyn, die – wenn man weiß, wie man sie verwendet – einen wahrlich zum Gott machen können. Also hängten sie ein flammendes Schwert über die Stadt. Und dieses Schwert hatte einen Namen.«

Als Tolya den Namen sagte, bekreuzigten sich einige der Männer. So wie sie sich im Lager gaben, hätte man nie gedacht, dass sie eine religiöse Ader hatten. Sie hatten Gott in ihrem Inneren vergraben – wie Leute, die während einer Hungersnot Essensvorräte vergraben und ihren Nachbarn die leeren Handflächen zeigen.

Der Name ist mir im Gedächtnis geblieben, weil er so merkwürdig schön war: Anthrax. Ich hatte dieses Wort noch nie gehört, es klang für mich wie einer jener Götter, die die Tungusen anriefen, oder wie eine uralte, sagenumwobene Stadt in Asien mit Minaretten und Mosaikbogen.

Was es mit einem anstellte, war jedoch alles andere als schön. Es tötete die Menschen, aber es tötete auch, wovon sie lebten. Es ließ Wunden auf der Haut aufbrechen und fraß sich in die Lunge. Es war ein Lebewesen, nur viel einfacher als wir, mit seinem eigenen, unersättlichen Appetit auf Leben. Man fragt sich wirklich, an welchem Tag ein liebender Gott etwas Derartiges geschaffen hat.

Tolya sagte, dass die Sporen dieses Gifts im Schutt von Polyn 66 überdauert hatten und dass wir nur dank Apofagato davon wussten – Apofagato war früher Wissenschaftler gewesen, und seine Familie hatte hier gelebt. Er kannte sich aus mit der Struktur der Stadt, und genau aus diesem Grund hatte ihn Boathwaite zu sich geholt.

Ich fragte mich, ob Apofagato wohl genauso in den Norden geflohen war wie Shamsudin. Er war also auch einer jener »Wissenden«, nur hatte er Glück gehabt, jemandem zu begegnen, der den Wert dieses Wissens erkannt hatte. Anhand seiner Instruktionen förderten die Gefangenen gerade zutage, was uns irgendwann einmal wieder ein angenehmes und sicheres Leben verschaffen sollte.

Darauf wollten die Männer anstoßen, aber Tolyas Miene wurde ernst, und er kam zum eigentlichen Kern seiner Ansprache: Obwohl wir brauchten, was die Gefangenen dort in Polyn 66 fanden, konnten wir es nicht zulassen, dass sie die Zone je wieder verließen. Das gefiel ihm so wenig wie uns, aber so war es nun einmal. Der Ort war vergiftet, und das Gift musste eingesperrt bleiben.

Die Männer hörten ihm aufmerksam zu, und als er fertig war, platzten sie mit ihren Fragen heraus – nach dem Gift in der Zone und den Dingen, die wir von dort mitnahmen, und wie man das, was man aus der Zone mitbrachte, sauber bekam.

Tolya beantwortete ihre Fragen und dann sagte er, dass wir das Richtige taten und dass die Gefangenen ihr Leben für eine gute Sache gaben, und seine Worte erinnerten mich an die seltsamen Mitteilungen des Allmächtigen, die früher zu Hause unser gemeinsames Schweigen unterbrochen hatten. Vielleicht bin ich allzu einfach gestrickt, doch in meinen Ohren klangen sie so hohl wie ein Stein, den man auf eine leere Kaffeedose wirft.

Aber hatte sich die Welt nicht auf einige einfache Tatsachen reduziert? Und kamen die Leute nicht viel besser zurecht, je einfacher sie waren? Mein Vater sprach sechs Sprachen, aber er konnte keinen Nagel gerade einschlagen. Er erörterte Rechtsfragen mit Präsidenten und Regierungen, als es solche Dinge noch gab, er handelte die Verträge aus, in denen uns das Land hier überantwortet wurde, ja, er hatte pfundweise Wörter auf Lager, um seine Vision vom Leben weit im Norden zu verkünden – aber er konnte nicht einmal die Faust ballen, als die Zeit kam, dieses Leben zu verteidigen. Er sprach unablässig davon, Gutes zu tun, aber ich glaube nicht, dass das Gute, das er tat, auch nur einen Penny wert war. Es braucht keine Worte, um Gutes zu tun.

Wie Tolya redete, erinnerte mich allzu sehr daran, wie mein Vater geredet hatte. Wo mein Vater Gottes Werk gesehen hatte, hatte ich das Glitzern der Sonne auf dem Eis oder zwei blaue Eier in einem Nest gesehen. Und wo Tolya in uns heilige Männer sah, die die verlorenen Juwelen menschlichen Wissens bewahrten, sah ich lediglich einen Haufen Diebe, die sich anschickten, ihre Gefährten zu erschießen.

 

Irgendwann nach Mitternacht wachte ich durstig auf. Der Mond war groß und bleich wie ein Entenei und so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste, während ich nach der Wasserflasche griff. Leider war das Wasser darin gefroren, also steckte ich mir eine Handvoll Schnee in den Mund.

Dann blickte ich auf die schlafenden Männer in der Dunkelheit und beschloss, dass sich unsere Wege hier und jetzt trennen würden. Ihr könnt eure neue Welt ohne mich bauen, dachte ich. Noch vor August werde ich in meiner Hütte am See sein und mir einen Jagdhund zulegen und Moltebeeren sammeln und Ackerbohnen pflanzen. Es gibt viel schlimmere Dinge als ein Leben allein.

Ich rüttelte den Tungusenjungen an der Schulter. Er wachte ganz leise auf, wie ein vorsichtiger Waldbewohner, und ich gab ihm den Deckel einer der Fleischkonserven, damit er seine Fesseln durchschneiden konnte.

Dann schlich ich zu Osip, nahm sein Gewehr und legte ihm dafür meines hin. Dem rostigen alten Ding wollte ich mein Leben nicht länger anvertrauen. Osip murmelte irgendetwas, aber der Schnaps in ihm verhinderte, dass er aufwachte.

Inzwischen hatte sich der Junge befreit. Ich reichte ihm die Zügel meines Pferdes und deutete auf den Weg, den wir gekommen waren. Wenn er schlau war, würde er sich an den ausgetretenen Pfad halten und keine Spuren hinterlassen. Er schwang sich in den Sattel und verschwand, ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen.

Ich packte meine Sachen zusammen, steckte noch das Fernglas dazu und machte dann Tolyas Pferd los, das das Schnellste von allen war – als plötzlich von den Betonufern des Flusses schallendes Hufeklappern ertönte. Ich hatte gehofft, der Junge würde den tieferen Schnee nutzen, um die Geräusche zu dämpfen, aber offenbar hatte seine Ungeduld die Oberhand gewonnen.

Noch weckte der Lärm keinen der Männer auf, doch er machte die Stute so nervös, dass sie mich nicht aufsitzen ließ. Verzweifelt versuchte ich, sie zu beruhigen und in die entsprechende Richtung zu schieben. Aber es half nichts, ganz im Gegenteil: Die Stute stieß ein Wiehern aus – und die Männer öffneten ihre müden Augen.

Als ich dann endlich im Sattel saß, hatte ich meinen Vorsprung verspielt. Ich sah, wie die Männer nach ihren Waffen griffen und dachte nicht lange über das nach, was ich als Nächstes tat. Es war wie in diesem Bruchteil einer Sekunde, bevor man zieht, in dem all die Jahre des Trainings die Kontrolle übernehmen, und dann ist die Waffe in deiner Hand und raucht schon, ehe der Verstand es mitkriegt. Sollte logisches Denken dabei irgendeine Rolle gespielt haben, dann hatte ich wohl zwischen zwei Möglichkeiten abgewogen: es auf den Versuch ankommen zu lassen, sie auf einer Strecke abzuhängen, die sie besser kannten als ich, oder eine Richtung einzuschlagen, in die sie mir nie folgen würden.

Ich hielt auf die Straßensperre zu, vorbei an den Stacheldrahtrollen, und dann trat ich die Stute in die Flanken, und sie legte die Ohren an, und wir galoppierten geradewegs in die Zone hinein. Der Mond war so hell, dass wir ein deutliches Ziel abgaben, also drückte ich mich so flach wie möglich an den Hals des Pferdes.

Ich machte am Kiosk nicht Halt. Ja, ich machte für eine lange Zeit nicht Halt. Ich presste meine Knie fest zusammen und schoss die schneebedeckte Straße hinab, flog durch die arktische Luft, über den Schutt, die kaputten Möbel, die Straßenbahnschienen, das Anthrax und Gott weiß was noch alles hinweg, und die Straßen verzweigten sich, die Häuserreihen fächerten sich auf wie Bäume in einem Wald, und die dreckige, vergiftete, tote Stadt umarmte, umfing, verbarg mich. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren wusste ich, was es hieß, frei zu sein.