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ICH HIELT MICH fernab des Weges, den wir gekommen waren – für den Fall, dass Boathwaite einen Trupp schickte, um nach uns zu suchen. Das hieß zwar, dass ich langsamer vorankam, aber ich hatte ja den ganzen Sommer für den Heimweg.

Nachts sah ich meinen Weg am Himmel, eingebettet in ein Muster aus Sternen. Ich hatte beschlossen, nicht den Fluss entlang, sondern direkt nach Südosten zu reiten, bis ich auf den Highway stoßen würde. Solange ich ungefähr in die richtige Richtung ritt, konnte ich ihn nicht verfehlen – er beschrieb eine gerade Line von Ost nach West. Und hatte ich ihn erst erreicht, lagen weniger als tausend Meilen zwischen mir und Evangeline. In sechs Wochen konnte ich zu Hause sein.

An manchen Abenden nahm ich Shamsudins blau leuchtendes Glas aus der Tasche. Es war ziemlich durchgeschüttelt worden, aber hatte keinen Kratzer davongetragen. Einmal schlief ich ein, während ich es hielt. Ich träumte schlecht, und meine Stirn und Wangen brannten am nächsten Tag, als ob ich zu lang in der Sonne gewesen wäre.

 

An einem anderen Abend fing ich einen Zander und fand vier Enteneier in einem Nest. Ich machte ein Feuer und kochte eines der Eier mit dem Fisch.

Über mir kamen Kraniche von ihrem Winterrevier im Süden zurück. Ihre langen, weißen Körper schienen rosig im Abendlicht. Den Tungusen sind diese Vögel heilig. Sie gebrauchen ihre Knochen als Kalender, markieren darin die Mondphasen. Die Schamanen sagen, sie reiten sie hoch bis zum neunten Himmel, wo die Geister leben und Schabernack mit den Seelen der Menschen treiben.

Für mich sind das alles Märchen, aber ich habe einmal gesehen, wie ein Schamane eine kranke Frau geheilt hat. Eine Tungusin, die eine Fehlgeburt gehabt hatte, wodurch ihre Gebärmutter in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Der Schamane trug einen schweren Umhang aus Fellen mit klingenden Metallperlen daran. Die Perlen bildeten eine Sternenkarte – lange, bevor es Bücher gab, waren diese Umhänge ein Himmelsatlas gewesen. Er tanzte fast eine Stunde um die Frau herum, bis sich auf dem Fell seiner Trommel ein merkwürdiges Netz ausbreitete, das wie Blut aussah.

Ich konnte mich nicht direkt mit dem Schamanen unterhalten, aber ich befragte ihn später mit Hilfe eines halbtungusischen Führers.

Der Schamane sagte, er hätte während des Trommelns gespürt, wie er sich in die Lüfte erhob. Wie die Luft um ihn dick und wässrig wurde. Er sagte, es sei gewesen, wie sich im Nebel zu verlaufen, und hin und wieder hätte sich der Nebel gelichtet und er sei sich des lebendigen Atems um ihn herum bewusst geworden. Dann sei er durch eine letzte Wolkenbank emporgestiegen und auf einer Lichtung gelandet.

Dort folgte er einem Pfad entlang einer Bergflanke, vorbei an einem Skelett, von dem er sagte, dass es das seines Vaters gewesen sei, auf ein erleuchtetes Zelt zu. In dem Zelt lag der Körper der kranken Frau in Form eines Steinhaufens, aus dem eine Rebe wuchs. Der Schamane riss die einzelnen Ranken ab, und je näher er dem Zentrum der Pflanze kam, desto dicker wurden sie. In der Mitte schließlich waren sie mehrere Zentimeter dick und pelzig und heiß wie der Schaft eines jungen Geweihs. Und im Herz der Pflanze war ein verschrumpeltes Etwas: das totgeborene Kind, dessen Seele auf dem Weg verloren gegangen war …

Ich weiß nicht, ob er sich das alles ausgedacht hatte, um mich zu veralbern, oder ob er wirklich daran glaubte. Jedenfalls klang es wie ein Haufen Unsinn. Aber ich habe gehört, dass die Frau nach diesem Tanz wieder Kinder bekommen konnte.

Es scheint, als ob meine Gedanken immer wieder um tote Babys kreisen.

Das tote Baby der Tungusin.

Pings totes Baby.

Mein totes Baby.

Mein Baby kam nach dreitägigen Wehen tot auf die Welt. Es war der schlimmste Schmerz, den ich je erlebt habe, und in dem Chaos, das über die Stadt hereingebrochen war, war an keinen Arzt zu kommen.

Sie brachten es fort und begruben es irgendwo. Wir erwähnten es nie wieder. Ich war sechzehn damals, und danach bin ich keinem Mann mehr nahe gekommen, obwohl es durchaus Gelegenheiten gab. Aber ich war nicht mehr derselbe Mensch.

 

Nach etwa zwei Wochen kam ich durch ein Dorf mit einer alten Kirche. Die Häuser darum herum waren alle verfallen und überwuchert, aber die Kirche war intakt – in ihrer hölzernen Kuppel hing noch immer eine Glocke.

Auch die Tür ließ sich öffnen, und als ich eintrat, schlug mir ein Geruch aus Weihrauch und frischer Tünche entgegen.

Plötzlich rief jemand aus dem Keller etwas auf Russisch. Ich war zu überrascht, um mich an mehr als an »bog« zu erinnern, was ihr Wort für Gott ist. Dann kam schon ein Mann mit etlichen Büchern im Arm die Treppe heraufgestapft. Er hielt verdattert inne, als er mich bemerkte.

Ich wäre nicht viel überraschter gewesen, einen chuchunaa anzutreffen, und tatsächlich sah er auch ein wenig wie ein Schneemensch aus, so riesig wie er war, mit seinem langen, weißen Bart.

Unser gemeinsamer Wortschatz war nicht allzu groß, aber wir konnten uns mit einer Art Pantomime verständigen.

Er war der Priester hier im Dorf, und hatte einen Helfer, eine Art Juniorpriester namens Yuri. Yuri hatte auch einen Bart, aber seiner war pechschwarz. Und er roch stark nach Zwiebeln. Ich schätzte ihn auf fünfzig und den Priester auf fünfundsiebzig.

Keine Ahnung, wie sie es geschafft hatten, zu überleben – mit Boathwaite auf der einen Seite und den Tungusen auf der anderen – und dabei die Kirche so gut in Schuss zu halten. Vermutlich hatten sie sich einfach dort festgesetzt wie die Kletten.

Sie wohnten in einem kleinen Gehöft neben der Kirche. Ich stellte mein Pferd in die Scheune, und sie gaben mir zu essen: eine Art Kohlsuppe und etwas Wurst. Während ich aß, zeichnete ich ihnen meinen Weg auf der Tischdecke auf. Sie verdrehten die Augen, als ich ihnen zeigte, wo ich hinwollte.

Es war wirklich ein Jammer, dass wir uns nicht besser unterhalten konnten. Ich hatte so viele Fragen.

Nach dem Essen führten sie mich in das Kirchengewölbe hinunter und zeigten mir die Bücher, die sie dort gehortet hatten. Der alte Priester drückte mir ein Buch nach dem anderen in die Hand, murmelte etwas und sah mich dann scharf an, wie um zu sehen, ob ich verstanden hatte. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach, aber was immer es war, er war stolz darauf.

Yuri merkte, dass ich reichlich verwirrt war, und versuchte das Thema zu wechseln, aber der alte Priester wollte nichts davon wissen. »Sieh her«, schien er zu sagen. »Alles am rechten Platz. Hier die Marmelade, dort das Gelee.« Während er ein weiteres Buch oder Manuskript abstaubte.

Nach einer guten Stunde sperrten sie die Kirche ab, und wir gingen zurück ins Haus, wo Yuri eine Art Kräutertee aufbrühte. Wir konnten uns zwar nicht unterhalten, aber als ich da bei ihnen saß, fühlte ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich. Ich wünschte, ich hätte ihnen dafür etwas geben können … Doch dann fiel mir ein, dass ich tatsächlich ein paar Worte in ihrer Sprache besaß.

Ich holte den Erinnerungsstein aus meiner Tasche, legte ihn auf den Tisch und zeigte ihnen das Mädchen aus Polyn.

Sie sahen es sich bestimmt ein halbes Dutzend Mal an. Sie waren geradezu verrückt danach. Der alte Priester ganz besonders – jedes Mal schlug er Yuri auf den Rücken und rief: »Lyudi budushchevo!« Und er lachte, als ob es der beste Witz der Welt wäre.

Ich freute mich, ihn so heiter zu sehen, doch dann wurde mir klar, dass er das, was er sah, für ein Abbild der Gegenwart hielt, ein aktuelles Bild der Stadt. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich vermutlich denselben Eindruck gewonnen.

Sie saßen hier in ihrem Außenposten, bewachten ihren Schatz heiliger Bücher, warteten auf Nachricht aus der Welt dort draußen – und nun sah es ganz danach aus, als hätte ich ihnen frohe Kunde gebracht.

Also sagte ich: »Ihr versteht das falsch. Das ist ein Bild der Vergangenheit. Dieses Mädchen ist tot, und die Stadt sieht jetzt ganz anders aus. Ich bin dort gewesen. «

Aber meine Worte waren bloß Schall und Rauch für sie. Sie glaubten, was sie glauben wollten. Für sie war ich der Vorbote großer Veränderungen. Schon bald würden die Dorfbewohner wiederkommen. Betten würden zum Lüften vor den Türen stehen. Schaufeln würden die Erde in lange vernachlässigten Gärten umgraben. Die Kirchenglocke würde die Gemeinde zum Gottesdienst rufen. Und man würde dem alten Priester einen Orden an die Brust heften, dafür, dass er so gut auf das Archiv achtgegeben hatte.

Sie machten mir ein Bett auf dem Sims über dem Kachelofen, aber es war zu warm und zu weich für mich, um da oben gut zu schlafen, und es ließ mir keine Ruhe, dass ich sie getäuscht hatte.

Am nächsten Morgen waren sie immer noch guter Dinge. Sie gaben mir Weizengrütze zum Frühstück und wollten noch einmal den Erinnerungsstein sehen. Also reichte ich ihn dem alten Priester und sagte, er könne ihn behalten. Er versuchte, mir im Gegenzug ein Buch aufzudrängen, aber ich weigerte mich, es anzunehmen.

Nach dem Frühstück begleiteten mich die beiden zum Rand des leeren Dorfs und küssten mich dreimal zum Abschied, und während ich davonritt, sah ich mindestens ein halbes Dutzend Mal zurück, und sie standen noch immer da und winkten mir nach.

 

Langsam wurde es Frühling. Man sah kaum Schnee mehr, und als es einmal mittags richtig warm wurde, beschloss ich, zu baden. Ich band das Pferd am Flussufer fest und zog mich aus. Meine Füße waren so blass, dass sie fast bläulich wirkten.

Obwohl der Fluss eigentlich seicht war, war er angeschwollen und die Strömung so stark, dass ich fast hinfiel, als ich hineinstieg. Ich stemmte meine Beine gegen einen Felsen, während das Wasser meine Knie umstrudelte, dann ging ich in die Hocke, um meinen ganzen Körper einzutauchen. Die Kälte ließ mir den Kopf dröhnen.

Als ich einigermaßen sauber war, wusch ich meine Kleider und legte sie zum Trocknen in die Sonne. Dann lag ich am Ufer und saugte die Hitze auf wie eine Eidechse. Ich kämpfte gegen die Müdigkeit an, aber das Geräusch des Flusses lullte mich ein. Ich musste eine Stunde oder so geschlafen haben. Als ich aufwachte, war meine Sicht vom Sonnenlicht ganz verschwommen.

Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren: dort das Pferd, das grüne Triebe von einem Baum rupft, dort meine feuchten Kleider, und hier ich, nackt, die Knöchel mit getrocknetem Schlamm bedeckt, der wie ein Paar Socken aussieht.

Und plötzlich, über dem Rauschen des Flusses, hörte ich ein Brummen, ganz, ganz schwach, aber immer lauter werdend. Ich blickte auf – und sah am östlichen Himmel, vielleicht eine Viertelmeile hoch, das silberne Blitzen eines Flugzeugs.

Ich schrie mir fast die Kehle wund und wedelte hektisch mit meinen Kleidern, während es über mich hinwegzog. Dem Flugwinkel nach zu urteilen, schien es aus dem Norden zu kommen, vielleicht aus Alaska.

Als ich endlich auf die Idee kam, mein Gewehr abzufeuern, war die Maschine schon am südwestlichen Teil des Himmels. Ich gab vier oder fünf Schüsse ab, doch es machte nicht den Eindruck, als hätte man mich gehört – das Flugzeug glitt wie ein winziger silbriger Fisch ins tiefe Himmelsblau.

Aber als es hinter den Bäumen verschwand, war ich mir sicher, zu wissen, wohin es flog.