12
MEINE ELTERN redeten nie von früher, und ich habe mich auch nie groß dafür interessiert. Die Vergangenheit hielt keine Lehren für mich bereit, meine Geburt erschien mir wie der Anfang der Welt. Für mich begann alles mit Wasser, das in der Sonne von feuchten Betttüchern tropft. Ich war der Schöpfer, der es mit einem Blinzeln Tag und Nacht werden ließ. Ich war Noah, wie ich meine angeschrammten Holztiere im Staub des arktischen Sommers sortierte. Ich lehrte meine Familie das Sprechen, und ich war der erste Mensch, der seinen Fuß in die Wildnis am Ende unseres Gemüsebeets setzte.
Jetzt weiß ich es besser.
Ich dachte einst, ich sei in eine junge Welt geboren worden, die vor meinen Augen älter wurde, aber als meine Familie hierherkam, war die Welt schon alt. Ja, ich wurde in die älteste aller Welten geboren. Eine Welt wie ein geschundenes Pferd, das vor lauter Verletzungen lahmt und sich anschickt, seinen Reiter abzuwerfen. Eine Welt jenseits meiner Eltern – aus Erinnerungssteinen und Flugzeugen und gläsernen Städten, die sie aus ihrem Gedächtnis streichen wollten.
Es gibt eine Menge Dinge, die auch ich gerne aus meiner Erinnerung streichen würde, aber man kann Unschuld nicht heucheln. Es ist eine Sache, etwas nicht zu kennen, aber so zu tun, als ob, ist Täuschung. Während Charlo und Anna und ich im Schmutz spielten wie Idioten, die glaubten, den Garten Eden gefunden zu haben, und die übrigen Siedler sich dazu gratulierten, sich auf dem angeschlagenen Planeten eine perfekte Ecke gesucht zu haben, fiel die Welt, die sie zurückgelassen hatten, auseinander. Welche Arroganz ließ uns glauben, dass wir weit genug weg waren, um in Sicherheit zu sein?
Als die erste halbverhungerte Frau vor dem Lebensmittelladen zusammenbrach, wussten wir es noch nicht, aber offenbar war die halbe Welt auf Wanderschaft.
Als ich vierzehn wurde, hatte sich die Bevölkerung in unserer Stadt fast verdoppelt und die Elendsviertel an ihrem Rand schienen täglich zu wachsen. Die Neuankömmlinge brachten Geschichten von Fluten, Seuchen und Krieg mit. Unsere Stadt schien der Knotenpunkt einer im Chaos versinkenden Welt zu sein, kein obskurer, unbedeutender Ort am fernen Rand eines wirbelnden Unheils mehr, das sich unserer Kontrolle entzog.
Nur die wirklich Verzweifelten reisten im Sommer. Das hieß nämlich, dass sie jede Hoffnung auf eine Ernte aufgegeben hatten und versuchten, unterwegs in Hitze und Staub etwas zu essen aufzulesen. Einige von ihnen waren Siedlerfamilien, die von ihren Höfen im Süden kamen, aber die meisten kamen von sehr viel weiter her: Russen, Uiguren, Chinesen, Usbeken, spindeldürr und ihre Gesichter verdorrt, sogar die Jungen. Manche waren so krank, dass jede Hilfe zu spät kam. Wovor diese Leute davonliefen, ließ die Welt, die meine Eltern verlassen hatten, wie ein Paradies erscheinen.
In den frühen Tagen betrachtete mein Vater und der Großteil der übrigen Einheimischen die Ankunft dieser Leute als eine Art Prüfung, und sie hießen die Neuankömmlinge wie verlorene Verwandte willkommen. Ich erinnere mich an eine völlig erschöpfte Usbekenfamilie, die in unserem Haus einquartiert wurde, als ich neun oder zehn war. Die Eltern schalten die Kinder, weil sie nach dem Essen griffen, kaum dass es auf dem Tisch stand, und dann stocherte die Mutter in ihrem Teller herum, als wäre sie zu stolz, sich ihren Hunger einzugestehen. Sie sprach Englisch und übersetzte für die anderen, während meine Mutter über das Leben sprach, das sie zurückgelassen hatte. All das hatte ich tausend Mal gehört und ihm nie große Aufmerksamkeit geschenkt – die Reichen, die sich hinter einer Mauer aus Geld überstrahlte, die Straßenbeleuchtung, die das Sternenlicht überstrahlte, die Erdbeeren im Februar, der Lärm und der Schmutz und die Unhöflichkeit –, aber ich kann den Gesichtsausdruck dieses Usbeken, des Vaters, nicht vergessen, wie er meiner Mutter zuhörte, vorwurfsvoll und ungläubig zugleich und mit einem Verlangen, das man bei einem streunenden Tier vermuten mochte, das in der Abenddämmerung den Geruch einer Grillparty wahrnimmt. Sie müssen geglaubt haben, wir seien verrückt.
Die Leute, die zu Beginn kamen, waren keineswegs schlechte Menschen. Ihre leeren Mägen hatten sie gelassen gemacht, und sie waren begierig nach Arbeit. Aber es war seltsam, wie unsere Nächstenliebe ihren Zorn schürte. Ohne jeglichen Besitz hatten sie sich unserer Gnade ausgeliefert, und nachdem der erste Hunger gestillt war, sahen sie sich um und bemerkten die leerstehenden Zimmer und die Nahrung, die wir zum Handeln und Anpflanzen aufhoben, und das machte sie zornig.
Die Gefährlicheren kamen erst später. Es waren weniger, und sie reisten im Winter. Was nur vernünftig war: Auf den Winterstraßen kam man besser voran, und man konnte sich im Sommer und im Herbst Vorräte für die Reise anlegen. Sie kamen also in besserer Verfassung an. Einige wenige sogar mit Autos, die meisten mit Schusswaffen. Auch das war vernünftig, aber es machte sie nicht willkommener. Sie kampierten am Stadtrand, bei Nacht konnte man ihre Feuerstellen sehen. Viele von ihnen waren Deserteure, sie waren jung, und selbst die Besten von ihnen waren wankelmütig und litten noch unter den Demütigungen des Krieges.
Da waren wir also: Siedler, die der alten Welt abgeschworen hatten, nur damit sie wieder auf unserer Schwelle landete. Wir auf der einen Seite, die Verzweifelten und Gefährlichen auf der anderen. Es war, als träfen zwei verschiedene Spezies Mensch aufeinander: die, die eine Wahl hatten, und die, die keine hatten. Unvermeidlich, dass es zu Spannungen zwischen uns kam, zuerst unterschwellig, aber mehr und mehr entzündete sich der Ärger, wie eines dieser schwelenden Herbstfeuer aus feuchtem Laub.
In dem Sommer, in dem ich vierzehn wurde, hatten sich einige russische Jungs in einer Scheune breitgemacht, die einer Siedlerfamilie namens Tumilty gehörte. Mr. Tumilty hatte gesagt, zwei von ihnen könnten bleiben, aber es kamen zehn, und schließlich gerieten sie darüber in Streit.
Eines Nachts im August dann ging die Scheune in Flammen auf, und acht der Russen verbrannten. Sie hatten getrunken und Schaschlik zwischen den Heuballen gebraten, doch es ging das Gerücht, das Feuer sei absichtlich gelegt worden. Die wütenden Freunde der Toten gingen rüber zu Tumiltys Farm und warfen die Fenster ein. Und als er herauskam, um mit ihnen zu reden, machten sie ihn fertig. Er hatte ein schwaches Herz und hielt nicht lange durch.
Die Kerle türmten, die Feindseligkeiten aber blieben. Siedler beschwerten sich, dass sie sich nicht sicher fühlten, Neuankömmlinge wurden angespuckt, und einige Ladenbesitzer weigerten sich, die kleinen Karten anzunehmen, die man an die Ärmsten von ihnen ausgab, damit sie sich Essen kaufen konnten.
Familien, die seit Jahren befreundet waren, zerstritten sich über der Art und Weise, wie man die Ankömmlinge behandeln sollte. Etliche blieben der gemeinsamen Andacht fern und hielten sogar Konkurrenzveranstaltungen ab. Es wurde offensichtlich, dass unsere Stadt geteilt war.
Und so wandte man sich an meinen Vater, eine der führenden Persönlichkeiten in der Stadt. Er berief eine Zusammenkunft der Familienoberhäupter ein – in jenem Versammlungshaus, in dem ich später die Finger fand.
Es kamen allerdings so viele, dass wir uns vor dem Haus versammeln mussten. Und es ging hoch her. Tumiltys Sohn und Witwe waren da, und Mrs. Tumilty hielt eine tränenreiche Rede, benannte die Mörder, flehte um Gerechtigkeit. Es gab viele, die Partei für sie ergriffen, es gab aber auch andere, die der Meinung waren, dass der Ruf nach Strafe und Vergeltung den Geist unserer Siedlung von Grund auf verändern würde. Zu dieser Zeit hatten wir noch keine Polizei, keine Gerichte, kein Gesetzbuch. Zwar hatte es zuvor schon Tote gegeben, aber keine Gewaltverbrechen. Dies war unsere Version von Kain und Abel.
Man wartete darauf, dass mein Vater das Wort ergreifen würde. Er ließ sich Zeit, und als er es dann endlich tat, sprach er sich gegen Vergeltung aus. Pa war vom Neuen Testament erfüllt und wünschte sich, dass wir nur von Liebe und Mitgefühl geleitet wurden. Er erwähnte die Speisung der Fünftausend als Hinweis darauf, wie wir uns verhalten sollten.
Tumiltys Witwe rief, dass wir keine magischen Brotlaibe besäßen, die Fünftausend ernähren könnten.
Mit sanfter Stimme wies sie mein Vater daraufhin, dass die Brotlaibe nicht magisch waren. Das Wunder war die menschliche Natur, die sich in einem Geist guten Willens verhielt. Nur so kam es dazu, dass jeder der Fünftausend, als er den Fisch und das Brot sah, in sein Gewand griff und das Essen herauszog, das er für sich selbst zurückbehalten hatte. »Furcht nährt sich von Furcht«, sagte Pa. »Wir müssen unseren Gästen Unterstützung anbieten und dürfen nichts im Gegenzug erwarten. Wir haben genug zu essen, und das Land um uns herum ist weit genug, um alle aufzunehmen, die gekommen sind, und noch mehr. Wir müssen nachgiebig genug sein, um uns in das Unvermeidliche zu fügen, und stark genug, um an unserem Glauben festzuhalten.«
Tumiltys Sohn und Witwe nahmen ihm diese Worte ziemlich übel. Für sie klang es so, als ob mein Vater dem Toten vorwarf, nicht freigiebig genug gewesen zu sein. »Diese Leute sind nicht wie wir«, sagte Tumiltys Sohn. »Reich ihnen den kleinen Finger, und sie nehmen die ganze Hand. Und dann lachen sie sich ins Fäustchen über uns und halten uns für Narren, weil wir aufgeben, wofür wir unseren Schweiß vergossen haben. Aber sie werden es uns schon vergelten, da könnt ihr sicher sein. Ihr werdet alle kriegen, was mein Vater gekriegt hat. Sechs Fuß Erde für jeden von euch.«
Dann ergriff ein Mann namens Michael Callard das Wort. Die Callards – Michael, Freya und ihre Zwillinge Eben und Liesl – waren eine jener Siedlerfamilien, die ihr Zuhause weiter südlich verlassen hatten. Sie waren mit fast nichts in der Stadt angekommen und hatten einige Monate in unserem Haus gewohnt, ehe Michael ihnen ein eigenes auf der anderen Seite der Delamere Street gebaut hatte. Sie waren fromm und arbeiteten hart und waren bei den anderen Siedlern beliebt.
Eben und Liesl waren achtzehn. Liesl war schüchtern und hübsch wie ihre Mutter. Eben arbeitete mit seinem Vater auf der Farm. Er war ziemlich stolz auf seine starken Schultern und seinen schlanken, braungebrannten Körper. Manchmal, nach einem langen Arbeitstag im Sommer, kam er in die Stadt geschlendert und trotzte den Mücken mit nacktem Oberkörper. Er war auch ein guter Reiter, und ein, zwei Mal waren wir auf den Feldern vor der Stadt mit Ponys um die Wette geritten. Es gab das Gerücht, dass wir eine Schwäche füreinander hätten, er verhielt sich in meiner Anwesenheit aber immer rücksichtslos und jährzornig, und die Wahrheit ist, dass ich Männer, die mir zu ähnlich waren, nie leiden konnte.
Jedenfalls, Michael Callard erzählte, wie seine Farm im Süden von bewaffneten Männern angegriffen worden war, wie man sie zusammengetrieben und ihnen eine Stunde gegeben hatte, zu verschwinden. Er sagte, er sei wie die übrigen von uns hierhergekommen, um ein neues Leben unter Gleichen anzufangen, frei von Gewalt. Aber er wolle verdammt sein, wenn das bedeute, dass man ihn aus seinem eigenen Heim verjagt oder ihm sein Essen wegnimmt oder seine Frau und Kinder verletzt. Er rufe die Wehrhaften unter uns auf, eine Miliz zu gründen und sich zu bewaffnen, um die Straßen zu sichern und die zu bestrafen, die die Gesetze der Stadt brechen.
Man konnte erkennen, dass viele von seinen Worten ergriffen waren, selbst die, die sich eingeredet hatten, dass alle Formen von Gewalt falsch seien.
Während Michael Callard sprach, sah ich, wie sich das Gesicht meines Vaters verfinsterte. Ich liebte Pa, aber ich war nicht wie er. Ich hatte nie das Beste von den Menschen erwarten müssen, ich nahm sie, wie sie waren: doppelzüngig, verzweifelt, liebevoll, manchmal alles auf einmal. Für meinen Vater aber waren sie alle Gottes Kinder, arme geplagte Schäfchen, die nur Liebe und eine faire Chance brauchten. Es war entscheidend für ihn, dass die Welt ihm bestätigte, was ihm seine Religion über die Menschen erzählte, und als es auf eine Wahl zwischen Vernunft und Glauben hinauslief, entschied er sich gegen die Vernunft.
Sie stimmten ab, und mein Vater trug den Sieg davon, doch von diesem Moment an gab es zwei Parteien in der Stadt. Die eine, unter Callard, propagierte die Miliz und die Bewaffnung zum Zwecke der Selbstverteidigung. Die andere, die meinen Vater als Anführer sah, mahnte, dem ursprünglichen Geist der Siedlung treu zu bleiben.
Wenn ich so an meinen Vater zurückdenke, sehe ich etwas Kindliches in seinem Wunsch nach absoluter Perfektion. Er war ein recht ungeschickter Arbeiter und konnte sich tagelang mit etwas abmühen, das auf den Müll fliegen würde, wenn er es nicht hinkriegte. Ohne diese Mühe sah er keinen Wert in den Dingen. Aber diese Kindlichkeit speiste auch seine Intoleranz gegenüber anderen. Er mochte Ideen lieber als Menschen, weil sie weniger widersprüchlich waren. Und manchmal schien er eher einem Dieb oder einem Mörder vergeben zu können als einer Verspätung oder einer Widerrede. Mord oder Diebstahl waren weniger verstörend, weil sie von Grund auf schlecht waren. Vielfalt und Widersprüche dagegen setzten ihm zu. Er war wie der Gott der Methodisten – ein einziges Wort konnte einen für immer aus den Reihen der Erwählten verstoßen.
Ich glaube, in seiner Liebe zur Arktis zeigte sich dasselbe Verlangen nach einfachen Wahrheiten: der Himmel, der Schnee, die Berge, die Bäume. Was ich in einer Stadt sah – als ich endlich eine echte zu Gesicht bekam –, war weitaus beunruhigender. Nichts passte zusammen, es war eine eigenartige Aufeinanderhäufung von Dingen, aber es lag Schönheit in dieser Seltsamkeit und dem Gedanken, dass das alles von Menschen geschaffen war.
Dagegen war die Lehre, die mein Vater gewählt hatte, wie die arktische Landschaft von einer kristallinen Ordnung: Frieden, Selbstvertrauen, Liebe, Unterordnung unter Gottes Willen. Und diese Einfachheit gab ihm die Kraft, andere zu überzeugen. Die Menschen fühlten sich zu ihm hingezogen, sie vertrauten ihm.
Bei alldem muss ich an einen Eisblock denken, dessen glasige Seiten von Sägezähnen gekräuselt sind. Wenn man ihn schmilzt, um Wasser zu gewinnen, bleibt er erst einmal makellos. Er seufzt lediglich und schrumpft ein bisschen. Aber sobald die Hitze an eine Luftblase in seinem Inneren kommt, bläht sich diese auf, und der Eisblock zerspringt in tausend Stücke.
Jenes Jahr war eines in einer ganzen Reihe heißer Sommer. Die Stadt platzte aus allen Nähten wie ein dicker Mann im Hochzeitsanzug – so viele Zuzügler, Quäker und andere, die auf der Flucht vor dem Hunger aus dem versengten Süden zu uns strömten. Den ganzen Juli hatte es Streitereien gegeben – Neuankömmlinge klauten Essen aus den Gärten oder besetzten leerstehende Gebäude und weigerten sich, wieder zu gehen –, und wie sich herausstellte, war das, was mir passierte, der Funke, der den Heuhaufen in Flammen aufgehen ließ.
Trotz der verlorenen Abstimmung organisierten Callard und Tumilty ihre Miliz – mit Waffen, die sie von den Neuankömmlingen selbst kauften. Die Mehrheit der Bewohner jedoch stellte sich ihnen, angeführt von meinem Vater, entgegen. Sie folgten ihren Patrouillen mit Rufen und Glocken und setzten sich auf die Straße, so dass ihre Pferde nicht durchkamen.
Diese Auseinandersetzung zog sich etliche Wochen lang hin, in den Versammlungshäusern, in den Läden, auf den Straßen, in den Familien. Callard gewann immer mehr Anhänger, und bei uns war ich der Kuckuck, der das Wort gegen den eigenen Vater ergriff. Ich hatte einen einfacheren Gerechtigkeitsbegriff als Pa, und Michael Callard verlieh Gefühlen Ausdruck, die ich mein ganzes Leben lang gehabt hatte: Wenn mich jemand ins Gesicht schlägt, dann schlage ich zurück, egal was in der Bibel steht. Mein Vater kniff vor Missbilligung die Lippen zusammen und schickte mich auf mein Zimmer. Er spürte ohnehin, wie sich die Stimmung in der Stadt gegen ihn wandte, und eine Meuterei am eigenen Tisch war einfach zu viel.
In diesen Wochen verstanden wir uns schlechter als je zuvor. Der Druck, unter dem er stand, machte ihn wütend und verbittert. Ständig wetterte er gegen Callard. Er hatte nach wie vor die Unterstützung der Siedler, doch sie wurde von Tag zu Tag geringer, und man brauchte seine Fantasie nicht allzu sehr zu strapazieren, um vorauszusagen, dass er bald alleine dastehen würde. Er verlor an Autorität – und er verlor die Stadt, für die er sein ganzes Leben gekämpft hatte. Und so warnte er jeden, der ihm noch zuhörte, was geschehen würde, wenn wir Callard folgten.
Was als Streit über die Auslegung unserer Gesetze begonnen hatte, wuchs sich zu einem erbitterten Kampf um die Vorherrschaft in der Stadt aus.
Ende August verließen meine Mutter und mein Vater für einige Tage die Stadt. Pa liebte das Jagen und das Fischen und nahm Ma gerne auf seine Ausflüge mit. Immer, wenn sie zusammen fort waren, schlich ich mich zum Schlafen in ihr Zimmer. Ich mochte ihre dicke Matratze und das scheppernde Bettgestell, das sie aus Amerika mitgebracht hatten.
Es war nach Mitternacht, als ich die Tür quietschen und dann Atemgeräusche hörte. »Charlo?«, rief ich. Aber es war nicht Charlo, es war ein halbes Dutzend Männer mit Kissenbezügen über dem Kopf.
Für die Augen und den Mund hatten sie Löcher herausgeschnitten, und sie hatten Schaum auf den Lippen, als sie mich beschimpften. Ich rannte zum Fenster, um rauszuspringen, aber sie packten mich und zogen mich zurück. Zwei von ihnen drückten mich auf das Bett. Ich bekam eine Hand frei, griff nach dem Wasserglas und schlug damit um mich. »Isebel!«, rief einer der Angreifer, und dann spürte ich etwas Nasses auf meinem Gesicht und dachte, er hätte mich geschnitten, aber es war die Lauge, die sie in unserer Küche gefunden hatten.
Das Gedächtnis ist gnädig. Ich erinnere mich nicht mehr an viel von dem, was danach geschah, jedenfalls ließen sie mich am Leben, und meine Eltern fanden mich am nächsten Tag, und offensichtlich sagte ich ihnen, dass Eben Callard der Anführer gewesen sei.
Ich habe mich seither oft gefragt, woher ich das wusste – ja, weshalb er so etwas hätte tun sollen –, aber die Jahre haben mich gelehrt, mich nicht zu sehr über die dunklen Dinge zu wundern, die Menschen tun. Es ist seltsam: Menschen verhalten sich nie grausamer als dann, wenn sie für eine Idee kämpfen. Seit Kain morden wir, um die Frage zu klären, wer Gott näher steht, und es kommt mir vor, als ob die Grausamkeit einfach in der Natur der Dinge liegt. Jedenfalls macht man sich verrückt, wenn man das alles persönlich nimmt. Die, die dich verletzen, haben nicht die Macht über dich, die sie gerne hätten. Genau deshalb tun sie ja, was sie tun. Und ich werde ihnen diese Macht auch jetzt nicht geben. Und doch: Es war furchtbar, was sie mit mir machten, und als sie damit fertig waren, brach ein Splitter Einsamkeit ab und blieb für immer in mir stecken. Heute denke ich nicht mehr allzu oft daran, aber wann immer ein Bettgestell scheppert, spüre ich Panik in mir aufsteigen.
Was mir passiert war, tötete die Hoffnung in unserer Stadt. Und es tötete auch meinen Vater. Er nahm ein Rasiermesser, ging in den Wald und schnitt sich die Kehle durch. Wegen meiner Verletzungen konnte ich nicht auf seine Beerdigung.
Drei Wochen lag ich mit einem nassen Tuch auf dem Gesicht im Bett, um die Haut feucht zu halten und die Narbenbildung zu mildern. Die Schmerzen waren schlimm, aber woran ich mich vor allem erinnere, ist das Geräusch der Kämpfe auf der Straße vor meinem Fenster. Die Callards wurden aus der Stadt gejagt, und im Aufruhr gingen etliche Häuser in Flammen auf.
Als sie die Bandagen abnahmen, war die Haut wund und mein ganzes Gesicht aus dem Gleichgewicht – das linke Auge schlaff, der Mund schief. Ich behaupte nicht, dass ich vorher eine Schönheit gewesen war, aber ich war auch nicht unansehnlich gewesen, und es hatte Zeiten gegeben, in denen die Männer auf mich »reagiert« hatten. Aber nach dieser Sache begann ich, mein Haar kurz und wie ein Mann zu tragen, und als sich die Stadtväter auf die Gründung einer Miliz verständigten, war mein Name der erste auf der Liste.
Wir waren bewaffnet und hatten das Recht, Leute festzunehmen. Wir hatten Gesetze, nach denen unsere Richter urteilen sollten, und Zellen für die, die sie brachen. Die eigentlichen Strafen aber waren nicht mehr als Verfügungen, die jene aus Stadt verbannten, die man eines Verbrechens für schuldig befand. Die Stadtväter hatten nicht den Mut für härtere Maßnahmen – eine bewaffnete Polizeitruppe war schon schlimm genug.
Zunächst gelang es uns noch, uns dem Chaos entgegenzustellen, aber mit der Zeit wurde es einfach zu viel. Wir fühlten uns wie jemand, der Mäuse in seinem Speiseschrank entdeckt, sie beim Schwanz packt, hinausträgt – und dann darauf wartet, dass sie sich wieder ihren Weg hineingraben.
So sehr wir uns auch bemühten, es wurde alles immer schlimmer. Früher hatte es Einigkeit darüber gegeben, wie man Streitfälle beilegen sollte – die Leute waren frei heraus und traten einander aufrecht entgegen. Immerhin hatten sie ihre Zukunft von diesem Experiment abhängig gemacht. Nicht alle mochten sich, aber man kannte einander. Nun tat sich eine Kluft zwischen uns auf, und diese Kluft füllte sich mit Furcht und Feindseligkeit. Niemand wollte der letzte Unbewaffnete in der Stadt sein, und es gab eine Menge guter Gründe, sich zu bewaffnen. Wenn die Callards zu so etwas fähig waren, dann konnte man wirklich niemandem mehr trauen. »Wenn aber das Salz seinen Geschmack verliert, womit soll es gesalzen werden?«, fragten die Leute. Seit dem Tod meines Vaters gab es niemanden mehr, der für die alten Regeln kämpfte. Die Menschen warfen ihre mitgebrachten Ideale über Bord und kauften Waffen. Die Stadt veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit.
Außerdem schien das Chaos eine bestimmte Art von Vagabunden anzuziehen. In friedlichen Zeiten haben die Ruhigen und Geduldigen Erfolg, aber es braucht den hellwachen, rücksichtslosen Typ, um es im Chaos zu etwas zu bringen. Und wir, die Bewohner unser eigenen Stadt, waren die Komplizen.
Denn die Sache ist die: Für Leute, die die Bibel und den Glauben an ihrem Logenplatz in Gottes Plan mit der Muttermilch aufgesogen haben, ist eine weltweite Katastrophe etwas, auf das sie insgeheim gewartet haben. Seit Jahrhunderten hatten wir vom Jüngsten Gericht gesprochen, und nun schien es, als ob das Ende aller Tage wirklich gekommen sei. Die Menschen stürzen sich in eine Krise, als ob es eine Mutprobe wäre. Warum nur? Es ist doch viel klüger, sich zu verdrücken, mit dem Nötigsten zu verschwinden. Nächstes Jahr kommt ein neuer Frühling, und in den Wäldern gibt es immer Essen, wenn man nur weiß, wo man suchen muss.
Die Heilige Schrift erfüllte sich also – nur nicht so, wie man es erwartet hatte. Keine Wiederkunft, keine Löwen und Lämmer. Nein. Eine wohlgeordnete, friedliche Stadt zerfiel zu einem Haufen hungriger Stämme, die um eine Wüste kämpften. In dieser Hinsicht könnte man die Bibel also durchaus ein prophetisches Buch nennen.
Bill Evans hatte seine Arbeit getan und suchte nach einer Möglichkeit, zurück nach Alaska zu kommen, als er bei der Schlichtung eines Streits getötet wurde. Das war jedoch erst später. Es brauchte ein paar Jahre, bis wir so weit waren.