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ICH BRAUCHTE ZWEI TAGE, um das Lager zu erreichen. Ich ritt wie eine Verrückte und erinnere mich nicht, dabei irgendetwas gegessen zu haben. Manchmal stieg ich ab und lief neben dem Pferd, damit es sich erholen konnte. Die ganze Zeit über konnte ich mein Herz vor Hoffnung laut schlagen hören.

Als ich das Flugzeug damals am See gesehen hatte, war es anders gewesen. Damals war ich eine Schiffbrüchige gewesen und das Flugzeug ein Segelboot, das luvte und auf einen neuen Kurs einschlug, um mich zu finden. Ich würde auf seinem warmen Deck laufen. Seide und Nelken füllten seine Frachträume und Kokosnüsse und Orangen.

Das zweite Flugzeug brachte eine ganz andere Form von Hoffnung. Dieses Mal war es die Kavallerie. Dieses Mal war es das Gesetz in einem Eisenmantel. Ich stellte mir vor, wie es wie ein Wirbelwind auf das Lager herabstieß, die Baracken aus dem Boden riss, die Wachen niedermähte. Und ich stellte mir die Gefangenen vor, frei und auf Rache aus: Sie würden Boathwaite wie einen Hund töten und sein Sklavenlager bis auf die Grundfesten niederbrennen.

 

Ich stieg ab, als sich der Wald zu lichten begann. Das Land entlang des Zauns war kahl – es war schon vor längerer Zeit abgeholzt worden, um Bauholz zu gewinnen und Angreifern die Deckung zu nehmen. Ich kauerte mich in den Schutz einer Baumgruppe, zog das Fernglas hervor und warf einen Blick auf das Lager. Ich konnte den zusammengewürfelten Filz auf den Dächern erkennen und den Rauch, der von Schmiede und Küche aufstieg. Alles sah kleiner und schäbiger aus, als ich es in Erinnerung hatte. Die Wunder Polyns hatten mich wohl abgestumpft, aber es lag auch daran, dass der Schnee weggeschmolzen war. Schnee schmeichelt den Dingen. Er bedeckt den Schmutz und lässt das Krumme malerisch aussehen. Und er hindert die Dinge daran, zu stinken. Nun wehte der Wind den Gestank der Latrinen über das offene Feld.

Ich umrundete das Lager, wobei ich mich knapp hinter der Waldgrenze hielt. Es war niemand zu sehen, aber direkt neben dem großen Tor, keine zwanzig Meter vor dem Zaun, stand das Flugzeug. Über seinem Flügel flimmerte die Luft, so dass es aussah, als würde es fliegen.

Soweit ich mich entsinnen konnte, war es dasselbe Modell wie jenes, das am See abgestürzt war. Der Rumpf war weiß-rot gestrichen, und es hatte eine Tür am Heck wie die, die ich damals aufgebrochen hatte.

Es machte einen abgenutzten Eindruck. Die Dellen und Flicken an den Flügeln ließen auf den Aufwand schließen, den es brauchte, es flugtüchtig zu halten. Und doch konnte ich kaum glauben, dass die Wesen, die dieses Ding gebaut hatten, Menschen gewesen waren.

Alles im Lager hatte einen Fingerabdruck. Alles dort verdankte seine Maße der Gestalt eines Menschen und der Arbeit, die er an einem Tag leisten konnte. Ich konnte mit dem Auge abschätzen, wie lange es brauchte, einen Mauerabschnitt zu errichten oder den kleinen Weg zu planieren, der um das Lager lief. Ja, ich konnte jedes Werkzeug aufzählen, das sie dafür genommen hatten.

Aber dieses Flugzeug zu bauen – waren das sechs Monate oder ein Jahrhundert? Welche Geheimnisse waren in seinem Motor am Werk?

Dort auf dem schmutzigen Gras sah es genauso fehl am Platz aus wie die Armbanduhr am Handgelenk des Jakuten.

Ich empfinde Ehrfurcht vor dem kaputten Pianola und dem unbekannten Künstler, der es mit Messingsaiten und Filzhämmern und der Mechanik zum Auslesen der Notenrollen versehen hat. Jeden Tag auf dem Morgenritt staune ich über das herrliche Gerippe meiner leeren Stadt. Ich habe stapelweise Bücher aufgehoben, wegen des Wissens, das in ihnen steckt. Ich habe Polyn gesehen. Aber Wörter und Zahlen in Metall zu verwandeln und fliegen zu lassen – was für ein größeres Wunder kann es geben?

Vielleicht ist es ketzerisch, das zu sagen, aber ich glaube, die Menschheit hat schönere Formen hervorgebracht als die, die wir in der Welt vorgefunden haben. Manchmal ist Gottes Arbeit ungehobelt. Es gibt nichts Hässlicheres als einen Hummer. Es ist wenig Schönes an einem Karibu – er hat einen ungelenken Gang, und wenn er sich zu sehr ins Geschirr stemmt, quillt ihm der Kot hinten raus. Gab es eine gerade Linie auf der Welt, ehe wir eine gezeichnet haben?

Dieses Flugzeug aber torkelte nicht im Flug und mühte sich auch nicht ab, wie ein großer Vogel das tut. Es bewegte sich stetig und gleichmäßig und schneller als jeder Vogel, den ich kenne.

Um ehrlich zu sein: Ein Teil von mir erwartete, dass seine Crew aus Göttern bestand.

Und was wussten diese Götter von uns? Was hatten sie vom Himmel aus gesehen? Was hielten sie von den furchtbaren Zuständen im Lager?

Vermutlich hatten sie von mir dieselbe Meinung wie ich vom schlichten Gemüt der Tungusen, mit ihren Schamanen und Geistern und Schneemenschen.

 

Ich ritt zurück in den Wald, um die Nacht abzuwarten und nachzudenken. Eigentlich bin ich ja ziemlich ungestüm, am besten handle ich in der Hitze des Gefechts, und wenn ich zu viel Zeit zum Nachdenken habe, drohe ich in Trübsal zu verfallen. Aber ich hatte meine Gründe.

Ich machte ein kleines Feuer und fütterte es mit langen, dünnen Zweigen, die ich an ihrem Ende festhielt, bis sie von den Flammen fast ganz verzehrt waren. Ein trockener Wind blies und fachte die Glut an, so dass sie orangerot aufleuchtete.

In den Jahren, die vergangen waren, seit ich das erste Flugzeug gesehen hatte, war diese Maschine zu meinem Polarstern geworden. Allein von ihm zu wissen war mir ein Trost. Ich hatte seinen Rumpf mit meinen Händen berührt. Ich hatte begraben, was von seiner Crew noch übrig gewesen war. Das Flugzeug war ein Gefäß, das alles enthielt, was meiner Welt fehlte.

Doch nun, da es daran ging, die lebenden, atmenden Menschen zu treffen, die in diesen Flugzeugen saßen, hatte mich der Mut verlassen.

Natürlich, ein Teil von mir hätte alles gegeben, mehr darüber zu erfahren. Ein anderer aber sagte, es wäre besser, umzukehren, im Wissen, dass das erste Flugzeug kein Einzelfall gewesen war. Ginge ich jetzt weiter, konnte das nur zu einer großen Enttäuschung führen.

So prächtig mir das Flugzeug auch erschien – Hoffnung war eine zu schwere Last, als dass es sie hätte tragen können.

Ich frage mich heute noch, ob in diesem Flugzeug irgendetwas hätte sein können, das all das, was ich durchgemacht hatte, wert gewesen wäre. Es fällt schwer, sich vorzustellen, was es alles hätte sein können – jetzt, da ich weiß, was es war. Das, was passiert, legt ein stählernes Gleis über all die wabernden Formen von hätte und könnte.

Ich habe das so oft durchgespielt. Ich sehe mich im Wald, wie ich Zweige auf das Feuer lege. Ich sehe das leere Flugzeug, das vor den Toren des Lagers schläft. Und dann bewege ich mich zurück, wie das Bild in einem Erinnerungsstein, reite nach Polyn, hauche Shamsudin unterwegs Leben ein, trotte mit Tolya und den Gefangenen zurück zum Lager, lasse Boathwaites Garten wieder Wildnis werden. Und weiter zurück, bis vor Pings Tod, bis vor die schlimmen Jahre, bis ich mit meinem Vater an der Beringsee stehe und zusehe, wie Tschuktschen die Innereien zurück in ein Walross packen und das Tier im Wasser aussetzen …

Und an jeder Stelle denke ich: Hier? Oder hier? Ist das der Moment, der die die Weichen für alles weitere gestellt hat?

Wie ich es auch betrachte, es läuft immer auf dasselbe hinaus: Etwas Schlimmes passiert. Die Stadt brennt. Die, die ich liebe, sterben. Das Flugzeug stürzt ab. Und ich suche nach einem weiteren.

Und als ich endlich eines finde, sitzt darin Eben Callard.