20. KAPITEL
Obwohl der Hauptsaal von Zauberern beinah überquillt, die alle auf die Amtseinführung warten, ist die Atmosphäre alles andere als feierlich. Die Müdigkeit fordert ihren Tribut, und der Tod von Ramius Sonnensturm hat die Magier ernüchtert. Es war schon schlimm genug, dass ein Zauberer getötet wurde, aber der Tod des zweiten macht diesen Konvent zu dem tragischsten seit dem berühmten Zwischenfall in Samserika vor zwanzig Jahren. Damals hatten drei betrunkene Zauberlehrlinge eine Taverne niedergebrannt, als sie sich über ein Blatt bei einer Partie Raff stritten. Bedauerlicherweise hatten sie vergessen, vorher die Taverne zu verlassen.
Die Zauberer scharen sich in ihren Delegationen zusammen und diskutieren die verschiedenen Gerüchte, die im Saal zirkulieren. Da Lisutaris in Kürze als Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung bestätigt werden wird, mag sich kein Magier so weit aus dem Fenster lehnen und sie als Mörderin von Ramius Sonnensturm beschuldigen. Das könnte einen ziemlichen Bruch der eigenen Karriere nach sich ziehen. Aber es gibt einen Haufen geflüsterter Vermutungen und jede Menge Getuschel über die hinterhältigen Taktiken der Turanianer.
Mein Bericht an Zitzerius und Direeva dagegen ist kurz und knapp.
»Copro, der Coiffeur, hat sich als Kalin-Kar entpuppt, der ehemalige Schüler von Darius Wolkenstürmer. Er hat sich autodidaktisch und unbemerkt zu einem sehr mächtigen Zauberer weitergebildet. Und liegt jetzt tot in seiner Villa. Falls Prätor Samilius rechtzeitig einige seiner Leute dorthin schaffen kann, dürfte er vermutlich genügend Beweise finden, die Kalin-Kar mit dem Mord an Darius in Verbindung bringen. Was Ramius angeht, bin ich aber noch keinen Schritt weitergekommen. Und seit seine Leiche aus dem Magischen Raum entfernt wurde, reden die Zauberer über den Vorfall. Ich glaube zwar immer noch, dass Incognixus der wahrscheinlichste Mörder ist, Beweise dafür habe ich jedoch keine.«
»Aber wir haben welche«, erklärt Zitzerius.
Ich bin platt. »Was wollt Ihr denn damit sagen? Welche Beweise?«
»Einen Zeugen, der gesehen hat, wie Incognixus aus dem Magischen Raum entkommen ist.«
»Was für ein Zeuge?«
»Einen Mann namens Kretinexan. Er ist Mitglied der matteshanischen Delegation. Und er ist kein Zauberer, sondern ein Tribun.«
Das verstehe ich nicht. Zitzerius erklärt es mir bereitwillig. Kretinexan stand zufällig vor der Königlichen Halle, als sich plötzlich ein Lichtportal öffnete und der berüchtigte Incognixus erschien. Er ließ ein Messer fallen und verschwand im Schneegestöber. An dem Messer klebte noch ein Fetzen Tuch, das zweifelsfrei vom Mantel von Ramius Sonnensturm stammte.
»Und der Zeuge ist verlässlich?«
»Absolut. Kretinexan hat bereits eine Aussage vor Kahlius und Lasath der Goldsichel gemacht und sie beschworen. Es wird dem Konvent in Kürze mitgeteilt, dass der berüchtigte Meuchelmörder Incognixus Ramius Sonnensturm getötet hat. Lisutaris ist über jeden Verdacht erhaben.«
»Aber wie hat dieser Kretinexan denn Incognixus identifiziert? Niemand weiß, wie er aussieht.«
»Kretinexan schon. Er stand vor drei Jahren daneben, als Incognixus seinen Vorgesetzten umbrachte, den Vizekonsul von Mattesh.«
»Es ist wirklich ein außerordentlicher Glücksfall, dass ein so ausgezeichneter Zeuge zufällig zur Hand war«, meint Tilupasis.
»Das ist schon mehr als nur Glück«, stimme ich ihr zu.
»Vermutlich ging es bei dem Mord um eine interne Angelegenheit der simnianischen Innenpolitik«, fährt Zitzerius rasch fort. »Es war schon immer meine Ansicht, wie Ihr Euch sicher erinnern könnt, dass wir uns um Incognixus keine Sorgen zu machen brauchen. Unsere Aufmerksamkeit gilt vielmehr Lisutaris, deren Triumph nun unmittelbar bevorsteht. Haben wir jetzt genug Beweise, um sie von dem Verdacht des Mordes an Darius rein zu waschen?«
»Nein.«
»Warum habt Ihr Copro getötet, bevor Ihr solche Beweise in der Hand hattet?«
»Er hat mich mit einem ziemlich gefährlichen magischen Schwert angegriffen.«
»Ihr müsst Beweise finden. Die Amtseinführung findet in einer Stunde statt.«
Es klopft, und zwei Zauberlehrlinge kommen herein, in ihrem Schlepptau Charius der Weise. Er betrachtet Zitzerius und Tilupasis mit kaltem Ärger und muss sich sichtlich zusammenreißen, um höflich zu bleiben.
»Habt Ihr etwa immer noch vor, Lisutaris als Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung vorzustellen?«
»Aber sicherlich«, erwidert Zitzerius so liebenswürdig wie möglich. »Immerhin hat sie die Prüfung bestanden.«
Charius’ langer Schnurrbart zuckt leicht, als er sich zu seiner ganzen imposanten Größe aufrichtet und eisig auf den Vizekonsul herunterstarrt. »Mir sind die Taktiken sehr wohl bewusst, die Turai angewendet hat, um dieses Amt für sich zu gewinnen. In meinen zwanzig Jahren als Verantwortlicher für die Prüfung der Endausscheidung habe ich noch bei keiner Nation ein derart schamloses ungesetzliches Verhalten erlebt. Ihr habt alle versteckten Mittel benutzt, die Euch zur Verfügung standen, um das Ergebnis dieser Wahl unfair zu beeinflussen.«
Zitzerius und Tilupasis sind Politiker. Infolgedessen perlt dieser völlig berechtigte Vorwurf wirkungslos von ihnen ab. Aber ich kann es mir nicht verkneifen, zurückzuschießen. Immerhin musste ich mich in einem Schneesturm durch den Magischen Raum kämpfen.
»Kommt schon, Charius, wollt Ihr uns etwa weismachen, dass die anderen Nationen Unschuldslämmer wären? Und was diese letzte Prüfung angeht: Wessen originelle Idee war es denn, ein mathematisches Problem als Test auszugeben? Lisutaris hätte Ramius auf jedem Gebiet der Magie in Grund und Boden gezaubert. Sehr gerissen, eine Aufgabe zu stellen, die sie nicht lösen konnte, und dann einen simnianischen Mathematiker hinterherzuschicken. Wer sich das ausgedacht hat, war wirklich so spitz wie ein Elfenohr.«
Charius scheint aber statt einer Erwiderung lieber noch einiges zu Turais ruchlosem Verhalten sagen zu wollen.
»Ihr seid mit Euren Morden zu weit gegangen, Vizekonsul. Ihr habt Lisutaris vielleicht von dem Mord an Ramius rein waschen können, obwohl ich nicht der Einzige bin, der große Zweifel an der Wahrhaftigkeit Eures Zeugen hat, aber sie steht immer noch unter der Anklage, Darius Wolkenstürmer ermordet zu haben. Ich werde nicht zulassen, dass sie dieses Amt übernimmt. Und wenn sie nicht sofort zurücktritt, werde ich sie vor dem ganzen Konvent bloßstellen. Das Bild, wie sie Darius ersticht, wird dann allen zugänglich gemacht werden.«
»Es ist eine gefälschte Realität«, sage ich.
»Es gibt keinen Zauberspruch, der so etwas bewerkstelligen könnte«, erwidert Charius der Weise verächtlich und rauscht hinaus. Sein dunkler Regenbogenumhang bauscht sich effektvoll hinter ihm auf.
»Und wenn es einen gäbe, würdet Ihr ihn mir nicht verraten«, knurre ich ihm hinterher.
Kahlius marschiert eilig herein, gefolgt von seinem Schreiber und seinem Sekretär.
»Ist Lisutaris reisefertig?«
»Sie wird gerade vorbereitet«, antwortet Zitzerius. »Obwohl wir hoffen, dass es letztendlich nicht dazu kommt.«
Erneut fühle ich mich bemüßigt, mich in das Gespräch zu mischen. »Sie verreist? Wohin?«
»Lisutaris muss sofort ins Exil gehen«, erklärt der Konsul. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Wenn Charius sie erst einmal vor dem Konvent bloßgestellt hat, kann alles Mögliche passieren.«
»Und wenigstens wird sie so trotzdem erst einmal Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung«, fügt Zitzerius hinzu. »Sollten wir dann später Beweise für ihre Unschuld finden, kann sie immer noch zurückkehren.«
Die arme Frau. Sie verliert an einem Tag ihren Lieblingscoiffeur und ihre Heimat. Ich unterdrücke einen Fluch. Ich habe meine Klientin im Stich gelassen, und keiner schlägt mir beruhigend auf die Schulter, um mir zu sagen, dass ich wenigstens mein Bestes getan hätte. Wenn man bei einem Klienten versagt, versagt man einfach nur.
»Könnt Ihr uns nicht noch etwas Zeit erkaufen?«
Tilupasis schüttelt den Kopf. Selbst sie ist am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Die Zeit ist abgelaufen. Wir haben versagt. Verdammter Mist!
In der Heiligen Halle hockt Makri allein in einer Ecke. Sie hat die Neuigkeiten bereits erfahren.
»Das ist nicht fair. Sie hat Darius nicht umgebracht.«
»Das weiß ich.«
Makri fragt sich, ob Lisutaris trotzdem Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung wird.
»Ich glaube, das wird ein strittiger Punkt. Sie wird vielleicht nicht auf dieser Position bestätigt, aber ich glaube, nach den Regeln der Zaubererinnung darf kein neuer Oberhexenmeister gewählt werden, bis sie tot ist.«
»Nach dem, was ich bisher von der Zaubererpolitik mitbekommen habe, dürfte das nicht lange dauern«, meint Makri.
Das stimmt. Wenn Turais Feinde in der Innung beschließen, dass sie einen neuen Oberhexenmeister wollen, ist Lisutaris im Exil höchst anfällig für einen Anschlag. Wir verstummen. Wir haben noch etwa dreißig Minuten Zeit bis zur Amtseinführung, und die wird ganz sicher nicht stattfinden. Zauberer kommen und gehen. Und aus ihrer miesen Stimmung schließe ich, dass Charius bereits das Bild zeigt, wie Lisutaris das Messer schwingt. Ich genehmige mir ein Bier, dann noch eins, und aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei.
»Ich mag Lisutaris«, verkündet Makri trostlos.
Ich mag Bier. Es waren wirklich merkwürdige vierzehn Tage. Angefangen hat es damit, dass ich einen Drachenschuppendieb überführt habe, und gelandet bin ich im Labyrinth von Acro. Dazwischen lagen jede Menge Trinkgelage und zwei ermordete Zauberer. Die meiste Zeit habe ich dabei gefroren wie im Grab der Eiskönigin, und am Ende habe ich nichts erreicht. Ich hätte mich weiter an einfache Fälle halten sollen, zum Beispiel irgendwelche ausgemusterten Schauspielerinnen im Auftrag ihrer eifersüchtigen Ehemänner zu beschatten. Wie dieses Pärchen jetzt wohl miteinander zurechtkommt? Merkwürdig, dass ich Copro alias Kalin-Kar ausgerechnet zuerst begegnet bin, als er bei dieser Frau einen Hausbesuch machte.
»Wirklich sehr merkwürdig«, wiederhole ich den Gedanken laut.
Makri blickt von ihrem Bier auf.
»Was ist merkwürdig?«
»Copro. Dass er dieser Schmierenschauspielerin sogar einen Hausbesuch abgestattet hat. Die, die ich beschatten musste. Er hat ihr eine komplette Schönheitsbehandlung angedeihen lassen.«
»Und?«
»Und? Copro hat normalerweise nur Senatorenfrauen, Prinzessinnen, Zauberinnen wie Lisutaris und Frauen dieses Ranges behandelt. Warum sollte er eine einfache Händlersgattin aufhübschen? Sie war zwar wohlhabend, aber seine andere Klientel war stinkreich. Man sollte meinen, dass es unter seiner Würde gewesen wäre, eine Krämersfrau zu frisieren.«
Und der Haushalt hat ebenfalls gestohlene Drachenschuppen gekauft. Rizzrads stand auf Hehlox’ Liste. Ich hatte angenommen, dass sie einfach nur als Haarschmuck gedacht gewesen sind. Vielleicht steckte aber noch mehr dahinter. Ich ziehe mich hoch und schüttle den Kopf, um die Bierschwaden aus meinen Gehirnwindungen zu vertreiben.
»Makri, besorg uns zwei schnelle Pferde. Stiehl sie, wenn es nötig sein sollte. Und warte draußen auf mich.«
Ich eile in die Haupthalle und stürme, ohne anzuklopfen, in Zitzerius’ Allerheiligstes. Ich brauche Dokumente, und ich brauche sie sofort. Einige Minuten später poltere ich durch den Hauptsaal, durch das Portal hinaus, vor dem Allahlachmah Zauberlehrlingen immer noch Benimmregeln für fundamentalistische Zauberer verkündet. Makri steht mit zwei Pferden vor der Treppe. Ihre Besitzer wirken zwar nicht besonders erfreut über die Requirierung, aber Makri hält ihnen als überzeugendes Argument ihre Schwertspitzen an die Gurgel.
»Offizieller Regierungseinsatz!«, rufe ich. »Ihr werdet angemessen entschädigt.«
Ich springe in den Sattel, und nachdem sich das Pferd davon erholt hat, preschen wir durch das Schneegestöber davon.