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Alvirah schwelgte in ihrer Geschichte, während sie an Billy Collins’ Schreibtisch ihm und seiner Kollegin Jennifer Dean Wort für Wort ihr Treffen mit Tiffany Shields beschrieb. Der Schuhkarton mit den Sandalen, die sie von Tiffany erhalten hatte, stand auf dem Schreibtisch. Sie hatte eine der Sandalen herausgenommen und sie – ohne es zu wissen – auf Brittany La Montes Fotoabzug gelegt, den Collins hastig umgedreht hatte.

»Ich mache Tiffany keinen Vorwurf«, sagte sie. »Sie hat einiges durchmachen müssen, nachdem die Medien so schamlos über sie hergefallen sind. Als sie erfuhr, dass Zan angeblich Matthew gekidnappt hat, war sie natürlich wütend und kam sich hintergangen vor. Aber ich habe ihr erklärt, dass Zan ihr niemals die Schuld gegeben hat, und sie daran erinnert, dass sie vor Gericht unter Eid aussagen müsste, da hat sich ihr Ton ganz schnell geändert.«

»Also, wenn ich Sie recht verstanden habe«, sagte Billy, »dann hatte Ms. Moreland zwei völlig identische Schuhpaare und dazu ein drittes, das sehr ähnlich ausgesehen hat – bis auf die Riemchen.«

»Genau«, erwiderte Alvirah beschwingt. »Das hat Tiffany mir erzählt. Zan hat die Schuhe anscheinend über Internet bestellt, und durch ein Versehen wurden zwei Paare in der gleichen Farbe geliefert. Als sie dann bemerkte, dass die Sandalen dem Paar, das sie schon besaß, farblich so ähnlich sind, hat sie eines der neuen Paare Tiffany geschenkt.«

»Tiffany scheint ein sehr wankelmütiges Gedächtnis zu haben«, schaltete sich Jennifer Dean dazwischen. »Woher will sie so genau wissen, dass Zan Moreland an dem Tag die Sandalen mit den schmaleren Riemchen getragen hat?«

»Weil sie an diesem Tag ebenfalls diese Sandalen anhatte. Sie wollte darüber noch einen Scherz machen, aber Zan war so sehr in Eile, dass sie es bleiben ließ.«

Alvirah musterte die beiden Polizisten. »Ich habe Sie umgehend aufgesucht. Ich habe die Fotos nicht bei mir, die Zan im Park zeigen – einmal, wie sie angeblich ihren Sohn entführt, und das zweite Mal, als sie später am Tatort eintrifft. Aber Sie haben diese Fotos vorliegen. Werfen Sie mal einen Blick darauf. Und lassen Sie sie von Ihren Experten untersuchen. Und dann stellen Sie sich die Frage, warum eine Frau, die ihr eigenes Kind entführt, sich die Mühe machen sollte, zwischendurch nach Hause zu gehen, um die Schuhe zu wechseln.«

Billy Collins und Jennifer Dean tauschten erneut einen Blick. Wenn Alvirah Meehan ihnen wirklich die Wahrheit erzählte, dann schien sich der Fall Moreland allmählich aufzuklären. Verblüfft hatten sie die Ähnlichkeit zwischen Brittany La Monte und Zan Moreland anerkennen müssen, nachdem Wally Johnson sie darauf hingewiesen hatte, ebenso verblüfft hatten sie zur Kenntnis genommen, dass La Monte eine begnadete Maskenbildnerin war, die exakt zu jenem Zeitpunkt von der Bildfläche verschwand, als Matthew Carpenter entführt wurde, und die noch dazu für Bartley Longe gearbeitet hatte, den Rivalen, der laut Zan Moreland für Matthews Verschwinden verantwortlich sein sollte.

In diesem aufsehenerregenden Fall war es notwendig, sehr vorsichtig vorzugehen. Billy wollte sich nicht anmerken lassen, wie erschüttert er war – wahrlich in seinen Grundfesten erschüttert, wie es ihm noch nie widerfahren war.

Wir haben mit Bartley Longe gesprochen, dachte er. Und ihn als Tatverdächtigen ausgeschlossen. Aber jetzt? Nach alldem?

Hat der Ex-Polizist Neil Hunt recht, als er sagte, er habe in der Nähe der Kirche eine Frau in ein Taxi steigen sehen, die wie Zan Moreland ausgesehen hat? Er konnte sich sogar noch an die Taxinummer erinnern, wir könnten dem also nachgehen. Das stand als Nächstes auf seiner Liste.

War Tiffany Shields eine vertrauenswürdige Zeugin? Wahrscheinlich nicht. Die junge Frau schien ihre Erinnerungen an den fraglichen Tag nach Belieben zu variieren.

Aber was, wenn sie mit den Schuhen recht hatte?

Alvirah erhob sich. »Mr. Collins, letzten Abend, nach ihrem schrecklichen Aufenthalt in der Haftzelle, hat Zan Moreland mich gebeten, die Ereignisse einfach mal so zu sehen, als würde ich an ihre Unschuld glauben. Ich habe mich darauf eingelassen und im Zuge dessen als Erstes Tiffany aufgesucht und sie daran erinnert, dass sie unter Eid aussagen müsste. Und daraufhin hat sie mir, wie ich glaube, die Wahrheit erzählt.«

Alvirah atmete tief durch. »Ich halte Sie für einen anständigen Menschen, der die Unschuldigen beschützen und die Schuldigen bestrafen möchte. Lassen Sie sich ebenfalls darauf ein, worum Zan mich gebeten hat. Gehen Sie einfach mal davon aus, dass sie unschuldig ist. Nehmen Sie den Mann ins Visier, der Zans Meinung nach hinter Matthews Verschwinden steckt, diesen Bartley Longe, und graben Sie nach. Trotz ihrer Verhaftung hat Zan einen wichtigen Auftrag erhalten – es geht um die Gestaltung von teuren Musterwohnungen – und damit Longe ausgestochen. Wenn Longe also wirklich Matthew entführt hat und wenn der Junge noch am Leben ist, genügt das wohl schon, damit Longe erneut auf Zan losgeht und dafür die einzige Waffe benutzt, die er gegen sie in der Hand hat. Ihren Sohn.«

Billy Collins stand auf und reichte Alvirah die Hand. »Mrs. Meehan, Sie haben ganz recht. Unsere Aufgabe ist es, die Unschuldigen zu schützen. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Tiffany Shields zu einer anscheinend wahrheitsgetreueren Darstellung der Ereignisse ermuntert zu haben.«

Er sah Alvirah nach, die zum Ausgang ging. Seine Intuition sagte ihm, dass sie auf der richtigen Fährte war. Und dass ihnen die Zeit davonlief.

Sobald sie außer Sichtweite war, riss er die Schublade auf und holte die Fotos von Zan Moreland hervor, die in den vergangenen Tagen in so ziemlich allen Zeitungen abgedruckt waren – die alten Aufnahmen nach ihrem Eintreffen am Tatort sowie die neu aufgetauchten Fotos des britischen Touristen. Er legte sie auf den Schreibtisch, griff nach einem Vergrößerungsglas und betrachtete sie. Dann reichte er das Vergrößerungsglas an Jennifer weiter.

»Billy, Alvirah hat recht. Sie trägt nicht die gleichen Schuhe«, flüsterte Jennifer.

Billy drehte Brittany La Montes Fotoabzug um und legte ihn neben die anderen Bilder. »Was kann eine gute Maskenbildnerin alles anstellen, wenn eine gewisse Ähnlichkeit von vornherein besteht?«, fragte er Jennifer Dean.

Eine Antwort erübrigte sich.