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Pünktlich um 19.30 Uhr fand sich Zan im Restaurant des Four Seasons ein. Sie musste nur kurz den Blick über die Tische schweifen lassen, um zu erkennen, dass Ted wie erwartet bereits da war. Sieben Jahre zuvor, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte er ihr erklärt, er komme immer etwas früher, da es gut fürs Geschäft sei. »Erwarte ich Kunden, gebe ich ihnen damit zu verstehen, dass ich ihre Zeit wertzuschätzen weiß. Will jemand etwas von mir, dann macht ihn das sofort nervös und bringt ihn in eine ungünstige Lage. Selbst wenn er pünktlich ist, hat er dann nämlich das Gefühl, sich verspätet zu haben.«

»Was könnte denn jemand von dir wollen?«, hatte sie gefragt.

»Ach, die Manager von Möchtegern-Schauspielerinnen oder von Sängern, die mich dazu überreden wollen, ihre Klienten zu vertreten. Solche Sachen eben.«

»Ms. Moreland, schön, Sie wieder mal zu sehen. Mr. Carpenter erwartet Sie bereits.« Der Oberkellner führte sie durch das Restaurant an den Zweiertisch, den sich Ted immer reservieren ließ.

Ted erhob sich, beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Zan.« Seine Stimme war belegt. Als sie sich setzten, streiften sich ihre Schultern. »Wie schlimm muss dieser Tag für dich gewesen sein«, sagte er.

Sie hatte beschlossen, die Abbuchungen von ihren Kreditkarten nicht zu erwähnen. Würde Ted davon erfahren, würde er ihr sicherlich helfen wollen. Aber sie wollte nichts in die Wege leiten, was zu einem weiteren Kontakt zwischen ihnen führen würde – außer natürlich es betraf Matthew. »Ziemlich schlimm«, antwortete sie leise.

Er legte die Hand auf ihre. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass irgendwann einmal das Telefon klingelt und wir Erfreuliches erfahren werden.«

»Das rede ich mir auch immer ein, mittlerweile aber glaube ich, dass Matthew mich wahrscheinlich vergessen hat. Er war doch erst drei Jahre und drei Monate alt, als er verschwunden ist. Mir fehlen fast zwei Jahre seines Lebens.« Sie hielt inne. »Ich meine, uns fehlen fast zwei Jahre.«

Sie spürte die kurz aufblitzende Wut in seinem Blick und glaubte zu wissen, was ihm durch den Kopf ging. Die Babysitterin. Er würde ihr nie verzeihen, dass sie eine allzu sorglose Babysitterin angeheuert hatte, weil sie mit einer Kundin verabredet gewesen war. Wann würde er darauf zu sprechen kommen? Wenn er ein paar Gläser getrunken hatte?

Auf dem Tisch stand bereits eine Flasche ihres bevorzugten Rotweins. Mit einem Nicken bedeutete Ted dem Kellner, einzuschenken. Ted griff sich sein Glas und sagte: »Auf unseren kleinen Jungen.«

»Nein«, flüsterte Zan. »Ted, ich kann nicht über ihn reden. Es geht einfach nicht. Wir wissen beide, wie wir uns an diesem Tag fühlen.«

Ohne darauf zu antworten, nahm Ted einen langen Schluck aus seinem Glas. Und zum zweiten Mal an diesem Tag musste Zan daran denken, dass Matthew mit seinen braunen Augen und ebenmäßigen Gesichtszügen eines Tages genau wie er aussehen würde. Ted war in jeder Hinsicht ein attraktiver Mann. Aber so sehr es ihr unmöglich war, über Matthew zu reden, so sehr hatte Ted das Bedürfnis, Erinnerungen an ihn auszutauschen. Warum hier?, fragte sie sich. Ich hätte ihm doch bei mir zu Hause etwas kochen können.

Nein, nie und nimmer, korrigierte sie sich. Aber wir hätten uns in einem kleinen, unscheinbaren Lokal verabreden können, wo ich mich nicht ständig von den anderen Gästen beobachtet fühle. Wie viele hier in diesem Raum haben heute die Artikel in diesen Zeitschriften gelesen?

Ihr war klar, dass sie Ted die Möglichkeit geben musste, über Matthew zu sprechen. »Erst heute Morgen habe ich mir gedacht, wie ähnlich er dir sehen wird, wenn er mal groß ist«, begann sie vorsichtig.

»Da hast du recht. Ich erinnere mich noch gut. Ein paar Monate vor seinem Verschwinden habe ich ihn bei dir abgeholt und bin mit ihm zum Essen. Er wollte unbedingt zu Fuß gehen, also habe ich ihn an der Hand genommen, und wir sind die Fifth Avenue hinunterspaziert. Er war so niedlich, dass die Leute sich nach ihm umgedreht und ihn angelächelt haben. Und als wir zufällig einen meiner alten Kunden getroffen haben, meinte er: ›Keine Chance, du kannst nicht leugnen, dass das Kind von dir ist.‹«

»Du hast es ja auch nie abgestritten.« Zan versuchte zu lächeln.

Ted schien zu bemerken, wie schwer ihr diese Unterhaltung fiel, und wechselte das Thema. »Wie geht es mit dem Geschäft voran? Ich habe gelesen, du hättest dich dafür beworben, die Musterwohnungen im Kevin-Wilson-Gebäude auszustatten.«

Das nun war sicheres Terrain. »Ganz gut, ehrlich gesagt.« Teds Interesse war nicht geheuchelt, außerdem wollte sie unbedingt das Gespräch von Matthew weglenken. Zan beschrieb daher die von ihr vorgelegten Entwürfe und gab zu, dass sie ein ganz gutes Gefühl habe, den Auftrag zu bekommen. »Natürlich habe ich es mit Bartley Longe als Konkurrenten zu tun. Ich glaube, er redet wieder schlecht über mich, zumindest hat Kevin Wilson etwas in der Art angedeutet.«

»Zan, der Mann ist gefährlich. Er ist mir nie ganz geheuer vorgekommen. Er war damals eifersüchtig auf mich, und jetzt steckt auch mehr dahinter, es geht ihm nicht nur um die geschäftliche Konkurrenz. Er konnte nie die Augen von dir lassen, und ich wette, er ist immer noch verrückt nach dir.«

»Ted, er ist zwanzig Jahre älter als ich. Er ist geschieden und hat ständig Affären. Er ist aufbrausend. Seine einzigen Gefühle mir gegenüber beruhen auf der Tatsache, dass ich mich nicht geschmeichelt fühlte, als er sich an mich herangemacht hat. Ich bedaure nur zutiefst, dass ich mich von ihm habe einschüchtern lassen, als mir eine innere Stimme riet, nach Rom zu fliegen und Mom und Dad zu besuchen.«

Es stand ihr alles nur allzu deutlich vor Augen: ihre Ankunft auf dem Flughafen Leonardo da Vinci, die Suche nach den vertrauten Gesichtern, als sie durch den Zoll gekommen war. Die Enttäuschung. Dann die Sorgen. Und dann der Anruf auf ihrem Handy. Die italienischen Behörden, die sie über den Unfall in Kenntnis setzten, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren.

Das hektische, frühmorgendliche Treiben auf dem römischen Flughafen. Zan sah sich selbst, wie sie, das Handy am Ohr, zur Salzsäule erstarrte und sich ihr Mund zu einem lautlosen Schrei verzog. »Und dann habe ich dich angerufen«, sagte sie zu Ted.

»Ich war froh, dass du es getan hast. Als ich nach Rom kam, warst du völlig neben dir.«

Monatelang war ich völlig neben mir, dachte Zan. Ted hat mich wie eine Heimatlose aufgenommen. Er ist so ein guter Mensch. Damals hat es unzählige Frauen gegeben, die ihn vom Fleck weg geheiratet hätten. »Und du hast mich geheiratet, damit du dich um mich kümmern kannst, und wie habe ich es dir vergolten? Indem ich unseren Sohn einer unerfahrenen Babysitterin anvertraut habe, die nicht auf ihn aufgepasst hat.« Zan konnte kaum glauben, was sie da soeben gesagt hatte.

»Zan, ich weiß, das habe ich an dem Tag gesagt, an dem Matthew verschwunden ist. Kannst du nicht verstehen, wie aufgelöst ich war?«

Ständig drehen wir uns im Kreis, und keiner weiß, wo es enden wird, dachte sie. »Ted, ganz egal, was du gesagt hast, ich mache mir doch selbst die schwersten Vorwürfe. Die vielen Privatermittler, die ich angeheuert habe … vielleicht haben sie uns nicht gutgetan …«

»Sie waren eine einzige Geldverschwendung, Zan. Das FBI und die New Yorker Polizei haben den Fall nach wie vor nicht zu den Akten gelegt. Du bist auf jeden Scharlatan hereingefallen, der behauptet hat, er könne Matthew finden. Sogar auf diesen Verrückten, der uns durch die Everglades in Florida gehetzt hat.«

»Nichts, was uns helfen kann, Matthew wiederzufinden, ist Geldverschwendung. Es ist mir egal, und wenn ich jede Detektei im Telefonbuch in Anspruch nehmen muss. Vielleicht finde ich irgendwann die eine Person, die Matthew aufspürt. Du hast mich nach den Musterwohnungen gefragt. Wenn ich den Auftrag bekomme, öffnet mir das viele Türen. Ich werde mehr verdienen, und jeden Cent, den ich nicht zum Leben brauche, werde ich für die Suche nach Matthew aufwenden. Irgendjemand muss etwas gesehen haben. Davon bin ich nach wie vor überzeugt.«

Sie zitterte. Der Oberkellner stand neben ihr. Ihr wurde bewusst, wie laut sie geworden war. Diskret tat der Kellner so, als hätte er nichts gehört.

»Möchten Sie jetzt bestellen?«, fragte er.

»Ja, gern«, antwortete Ted und flüsterte ihr daraufhin zu: »Zan, um Gottes willen, beruhige dich. Warum quälst du dich so?« Überrascht sah er plötzlich auf. Zan drehte sich um.

Mit kreidebleicher Miene eilte Josh durch das Restaurant und kam an ihren Tisch. »Zan, ich wollte gerade das Büro verlassen, als Reporter von Tell-All Weekly gekommen sind und nach dir gesucht haben. Sie sagten, ein Tourist aus England, der sich an dem Tag, an dem Matthew verschwunden ist, im Central Park aufgehalten hat, hat einige damals geschossene Fotos für den Hochzeitstag seiner Eltern vergrößern lassen. Und dabei hat er bemerkt, dass auf einigen dieser Aufnahmen im Hintergrund eine Frau zu sehen ist, die ein Kind aus einem Buggy hebt, der neben einer schlafenden Frau auf einer Decke steht …«

»Oh, mein Gott«, entfuhr es Ted. »Was lässt sich anhand dieser Fotos sagen?«

»Als die Bilder nochmals vergrößert wurden, sind weitere Details zum Vorschein gekommen. Das Gesicht des Jungen ist nicht zu sehen, aber er trägt ein blau kariertes Hemd und Shorts.«

Zan und Ted starrten Josh an. Kaum in der Lage, einen Ton herauszubringen, sagte Zan mit brüchiger Stimme: »Das hat Matthew damals angehabt. Hat der Mann die Fotos zur Polizei gebracht?«

»Nein. Er hat sie an dieses Käseblatt Teil-All verkauft. Zan, es ist verrückt, aber sie schwören, die Frau, die das Kind aus dem Wagen nimmt, wärst du. Es besteht angeblich kein Zweifel, dass du es warst.«

Die feinen Gäste im Restaurant des Four Seasons wandten die Köpfe, als Ted Zan an den Schultern packte und sie auf die Beine zerrte. »Du verdammte Wahnsinnige! Du bist doch nur auf das Mitleid anderer Leute aus!«, schrie er. »Wo ist mein Sohn? Was hast du mit meinem Sohn gemacht?«