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Für Pater Aiden O’Brien begann der Freitag um sieben Uhr mit der Brotausgabe vor der Kirche. Wie immer warteten auch heute mehr als dreihundert Menschen geduldig auf ihr Frühstück. Manche unter ihnen standen bereits seit mindestens einer Stunde an. Einer der freiwilligen Helfer flüsterte ihm zu: »Ist Ihnen auch aufgefallen, dass wir viele neue Gesichter darunter haben, Pater?«

Ja, erwiderte der Pater, das sei ihm auch schon aufgefallen. Einige unter ihnen nahmen auch am kirchlichen Seniorenprogramm teil, für das er zuständig war. Von vielen hatte er gehört, dass sie es sich gut überlegen müssten, ob sie sich ihre dringend notwendigen Medikamente leisteten oder auf das Essen verzichteten.

Diese Sorgen waren immer präsent, heute nach dem Aufwachen hatte er jedoch für Zan Moreland und ihren Sohn gebetet. War der kleine Matthew noch am Leben, und falls ja, wo hielt seine Mutter ihn versteckt? Er hatte in Zan Morelands Blick ihre Trauer und ihren Schmerz gesehen, als er ihre Hand in seine gelegt hatte. War es möglich, dass sie tatsächlich unter einer gespaltenen Persönlichkeit litt und von alledem nichts wusste, wie Alvirah glaubte?

Und falls dem so war, hatte sie dann unter ihrer anderen Persönlichkeit seine Kirche aufgesucht und ihm gestanden, dass sie an einem Verbrechen mitwirkte und nicht in der Lage war, einen Mord zu verhindern?

Das Problem war nur: Gleichgültig, unter welcher Persönlichkeit sie bei ihm die Beichte abgelegt hatte, das Beichtgeheimnis verbot es in jedem Fall, ihre Aussagen an die Öffentlichkeit zu tragen.

Er erinnerte sich noch, wie kalt sich Zan Morelands elegante Hände angefühlt hatten.

Ihre Hände. Irgendetwas irritierte ihn daran. Irgendetwas gab es da, etwas Wichtiges, aber sosehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht daran erinnern.

Er hatte nach dem Mittagessen im Kloster kaum sein Büro betreten, als er von Detective Billy Collins angerufen wurde. »Meine Partnerin und ich würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Pater. Wäre es möglich, dass wir sofort kommen? Wir wären in zwanzig Minuten bei Ihnen.«

»Ja, natürlich. Darf ich fragen, worum es geht?«

»Es betrifft Alexandra Moreland.«

 

Exakt zwanzig Minuten später fanden sich Billy Collins und Jennifer Dean in seinem Büro ein. Nachdem sie sich vorgestellt und ihm gegenüber an seinem Schreibtisch Platz genommen hatten, wartete Pater Aiden, dass sie das Gespräch eröffneten.

Billy Collins ergriff als Erster das Wort. »Pater, Alexandra Moreland hat am Montagabend diese Kirche aufgesucht, richtig?«

Pater Aiden wählte sorgfältig seine Worte. »Alvirah Meehan hat sie auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras identifiziert.«

»Ist Ms. Moreland bei Ihnen zur Beichte gegangen, Pater?«

»Detective Collins, Ihrem Namen entnehme ich, dass Sie irischer Abstammung sind, das heißt, Sie sind mit großer Wahrscheinlichkeit katholischen Glaubens oder wurden zumindest katholisch erzogen.«

»Ich wurde so erzogen und bin es immer noch«, sagte Billy. »Was nicht heißt, dass ich es jeden Sonntag zur Messe schaffe, aber doch recht regelmäßig.«

»Schön zu hören.« Pater Aiden lächelte. »Dann wissen Sie sicherlich, dass ich zur Beichte nichts mitteilen kann – nicht nur, was dabei eventuell zur Sprache gekommen ist, sondern auch, wer bei mir gebeichtet oder nicht gebeichtet hat.«

»Natürlich. Aber haben Sie Zan Moreland vorgestern in Alvirah Meehans Wohnung getroffen?«, fragte Jennifer Dean.

»Ja. Ganz kurz nur.«

»Und was sie Ihnen da gesagt hat, fällt doch sicherlich nicht unter das Beichtgeheimnis, oder, Pater?«, beharrte Dean.

»Nicht unbedingt. Sie hat mich gebeten, für ihren Sohn zu beten.«

»Sie hat nicht zufällig erwähnt, dass sie ihr Konto leergeräumt und ein Flugticket für nächsten Mittwoch nach Buenos Aires gekauft hat?«, fragte Billy Collins.

Pater Aiden versuchte so gut wie möglich, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Nein, das hat sie nicht erwähnt. Wir haben ja auch keine fünf Sätze miteinander geredet.«

»Und das war das erste Mal, dass Sie ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden haben?«, kam es recht brüsk von Jennifer Dean.

»Versuchen Sie bitte nicht, mich zu übertölpeln, Detective Dean«, erwiderte Pater Aiden ernst.

»Wir wollen Sie nicht übertölpeln, Pater«, entgegnete Billy Collins. »Aber es könnte Sie vielleicht interessieren, dass uns Ms. Moreland nach mehreren Stunden Befragung nichts darüber mitgeteilt hat, dass sie vorhat, das Land zu verlassen. Wir sind erst durch eigene Recherchen daraufgestoßen. Nun, Pater, wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir gern einen Blick auf die Aufnahmen der Überwachungskameras werfen, auf denen Ms. Moreland zu sehen ist.«

»Natürlich. Ich werde Neil, unseren Hausmeister, bitten, sie Ihnen vorzuführen. Ach, ich habe ganz vergessen, Neil ist heute ja nicht da. Dann muss wohl Paul aus unserem Buchladen aushelfen.«

Während sie warteten, fragte Billy Collins: »Pater, Alvirah Meehan hat sich besorgt darüber geäußert, dass Sie am Montag von einem Fremden sehr eindringlich beobachtet wurden. Kennen Sie jemanden, der Ihnen möglicherweise feindlich gesinnt ist?«

»Nein, auf keinen Fall«, erwiderte der Pater bestimmt.

Nachdem Paul die beiden Polizisten abgeholt hatte, um sich die Videos anzusehen, stützte der Pater den Kopf in die Hände. Sie muss schuldig sein, dachte er, wenn sie ihre Flucht plant.

Aber was ist nur mit ihren Händen, das mir partout nicht einfallen will?

 

Zwei Stunden später, als Pater Aiden wieder an seinem Schreibtisch saß, rief erneut Zan an. Da er noch immer hoffte, den Mord, vom dem sie erzählt hatte, verhindern zu können, sagte er: »Es freut mich, dass Sie anrufen, Zan.

Wollen Sie kommen und mit mir reden? Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.«

»Nein, ich glaube nicht, Pater. Mein Anwalt hat soeben angerufen. Ich werde wahrscheinlich verhaftet werden. Ich muss um fünf Uhr mit ihm zur Polizei. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann beten Sie bitte für mich, Pater.«

»Zan, ich habe für Sie gebetet«, sagte der Pater. »Wenn Sie …« Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Zan hatte aufgelegt.

Um sechzehn Uhr musste er in einen der Versöhnungsräume. Wenn ich hier fertig bin, dachte er, werde ich Alvirah anrufen. Dann weiß sie vielleicht schon, ob Zan auf Kaution freikommt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Pater Aiden O’Brien nicht die geringste Ahnung, dass jemand den Versöhnungsraum betreten sollte, der keineswegs vorhatte, ein Verbrechen zu beichten, sondern ein Verbrechen zu begehen.