Kapitel 16

»Du ruhst dich erst mal aus«, ermahnte Ethan Glenda, als sie in ihrem Wohnwagen angekommen waren. »Setz dich … einfach hin.«

Glenda sank auf ihre rote Bank, immer noch etwas zittrig, und Ethan holte ihren Scotch aus dem Schrank, goss einen reichlichen Schluck in ein Glas und trank.

Dann blickte er seine Mutter an. »Du hast mich zu Tode erschreckt.«

Glenda nickte benommen. »Ich habe mich selbst zu Tode erschreckt.« Sie fummelte ihre Zigarettenschachtel hervor, nahm eine heraus und starrte sie dann nur an. »Der Tod. Da fängt man an nachzudenken.«

Ethan nahm mit Flasche und Glas ihr gegenüber Platz. »Das war alles zu knapp. Zu knapp dran, dich zu verlieren, zu knapp dran, Tura nicht zu schnappen. Das müssen wir in Zukunft besser machen.« Er goss sich noch einen Schluck ein.

»Nicht ›wir‹«, betonte Glenda. »Ich glaube, ich bin keine Guardia mehr.«

Ethans Hand mit dem Glas verharrte auf halber Höhe zum Mund. »Was?«

Glenda spreizte die Finger und konzentrierte sich. »Na los, brennt«, befahl sie, aber es blieben einfach Finger, keine kleinen Flämmchen an den Fingerspitzen, und sie faltete ihre Hände wieder und blickte leicht verwirrt, aber nicht unglücklich drein. »Ich glaube, ich war kurzzeitig gestorben, und jemand anderer wurde berufen.« Sie lächelte und sah plötzlich trotz ihrer Erschütterung zwanzig Jahre jünger aus. »Ich fühle mich … anders. Erleichtert.« Sie deutete auf Ethans Glas. »Abgesehen davon. Das deprimiert mich sehr.«

Ethan schloss resigniert die Augen.

»Du musst mit dem Trinken aufhören«, beschwor sie ihn, und als er zurückwich, fuhr sie fort: »Ethan, das Leben ist zu kurz, um es zu verschwenden. Du musst aufhören, immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Deswegen hast du Weaver mit hereingebracht: dickes Gewehr, dicker Helikopter – als wenn wir das nötig hätten, noch mehr verdammtes Metall –, alles, um es dir leichter zu machen, weil dein Leben so verdammt hart war. Deswegen trinkst du auch, damit du das Leben nicht mehr fühlst. Nur noch Selbstmitleid. Der einsame Überlebende.« Ihre Stimme wurde rau. »Na ja, besser, der Überlebende zu sein als tot.«

Sie brach ab, und Ethan bemerkte, dass sie nach Atem rang.

»He, he, beruhige dich«, mahnte er.

Glenda schüttelte den Kopf. »Gus ist jetzt der einzige Erfahrene in der Guardia. Dabei schwindet sein Gehör immer mehr, und er wird alt. Erstaunlich, dass er überhaupt noch jeden Morgen den Park abgehen und jeden Abend die Drachenbahn laufen lassen kann. Du hast eine unerfahrene Mannschaft, die du noch nicht wirklich versucht hast zusammenzuschweißen, und du hast keine Ahnung, wie man die Unberührbaren einfängt, weil du nicht darüber nachdenken willst, weil es unangenehm ist.«

Ethan schob das Glas beiseite. Sie hatte unrecht, aber er war dankbar dafür, dass er sie, nachdem sie praktisch gestorben war, überhaupt wiederhatte, auch wenn sie ihn beschimpfte.

Sie erhob sich und stützte sich dabei mit den Händen auf die Tischplatte. »Na ja, jetzt liegt alles bei dir, du kannst tun, was immer du willst, und wenn es nicht funktioniert, dann kannst du natürlich einfach einen kippen und nicht mehr daran denken. Die Welt um dich herum wird die Hölle werden, aber du sitzt sicher in deiner Flasche.«

Ethan hob die hölzerne Urne in die Höhe. Sie war noch immer warm, und er fühlte Turas vibrierende Gegenwart darin. »Hey, wir haben sie gekriegt, das haben wir richtig gemacht. Und Selvans haben wir auch gekriegt.« Mit einem dumpfen Schlag stellte er die Urne auf den Tisch. »Und Fufluns wird niemanden umbringen, nicht wahr?«

»Schon allein die Tatsache, dass er frei ist, bringt uns in Gefahr. Mit jedem Unberührbaren, der aus seiner Urne freikommt, wird Kharos' Macht größer. Sie stärken ihn. Und wenn Fufluns die Chance dazu hat, lässt er Tura wieder heraus. Wenn alle Fünf frei sind, können sie ihre eigene Form annehmen und müssen niemanden mehr besetzen, und dann gewinnen sie ihre volle Macht zurück. Das dürfen wir nicht zulassen.«

»Siehst du, das hast du mir nie gesagt«, meinte Ethan und hob sein Glas wieder an die Lippen.

»Du hast mir nur nicht zugehört.« Glenda atmete tief und zitternd ein, und Ethan fühlte sich schuldbewusst.

Sie ging zu dem Schrank über dem Kühlschrank hinüber, holte ein kleines Holzkästchen hervor, öffnete den Deckel und nahm einen Bund mit einem eisernen Schlüssel in der Form eines Pfeils und einem kleineren Schlüssel aus Stahl heraus. Sie reichte ihn Ethan mit den Worten: »Der kleine Schlüssel ist der von Hanks Wohnwagen. Ich habe ihn für dich vorbereitet, falls du dich irgendwann entscheidest, wieder wie ein Mensch leben zu wollen.« Sie beugte sich vor, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und legte ihm eine zittrige Hand auf die Schulter. »Danke, dass du mein Leben gerettet hast. Jetzt sieh zu, dass du nüchtern wirst, und rette die Welt.«

Sie ging durch den schmalen Gang davon und verschwand in ihrem Schlafraum, und Ethan blieb allein auf der Bank zurück, die Flasche, die Urne und die Schlüssel vor sich auf dem Tisch.

Rette die Welt.

Tja, nicht in dieser Nacht.

Er trank sein Glas leer und ging dann in den Wald hinaus, um seinen Schlafsack zu holen. Als er zurückkam, lauschte er an Glendas Tür. Sie schnarchte. Sie lebte.

Er entrollte den Schlafsack in dem engen Gang vor ihrer Tür und streckte sich darauf aus. Er konnte zwar in dieser Nacht nicht die Welt retten, aber er konnte seine Mutter beschützen.

Ethan erwachte noch vor der Morgendämmerung. Er hatte nicht gut geschlafen, wieder einmal davon geträumt, wie er angeschossen wurde, den brennenden Schmerz in der Brust gefühlt, die Schreie seines Anführers gehört, und er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Fast hätte er Turas Urne umgestoßen, die neben ihm stand, als er sich aufsetzte und nach seiner Pistole griff.

Die Schmerzen in seiner Brust würden ihn noch umbringen. Er schob eine Hand unter Weste und Hemd bis zu der Narbe, wo ihn die Kugel getroffen hatte, und fühlte einen harten Knoten. Was war das jetzt wieder? Er schälte sich aus der Weste und zog das Hemd aus. Er konnte den Knoten sehen, direkt unter der narbigen Haut, und zuerst dachte er, dass es eine alte Naht war, aber dafür war es zu groß und zu hart.

Viel zu groß. Eher so groß wie … eine Kugel.

Ethan zog das Messer seines Vaters heraus. Er tastete mit der Spitze, ritzte dann die Haut ein und hebelte eine leicht verformte AK-47-Kugel heraus. Die Kugel. Ethan betrachtete das blutige Stück Blei in seiner Hand und nahm das Blut auf seiner Brust kaum zur Kenntnis. Die Kugel hatte so nahe an seinem Herzen gesessen, dass die Ärzte nicht gewagt hatten, sie herauszuholen. Wie war es möglich …

Er hatte bemerkt, dass der Schmerz sich veränderte, weniger wurde, je länger er im Park weilte, je mehr er sich seiner Mutter und ihrem Team annäherte. Irgendetwas hatte bewirkt, dass die Kugel sich von seinem Herzen entfernte, irgendetwas, das wünschte, dass er stark war, um die Dämonen zu besiegen. Glenda hatte recht, die Guardia hatte ihm sein Leben zurückgegeben.

Plötzlich riss er den Kopf herum und lauschte. Jemand näherte sich, obwohl es noch eine Stunde vor Sonnenaufgang war. Kein Dämon. Woher, zum Teufel, wusste er das? Er blickte auf seine Brust hinunter. Die Narbe sah aus wie vorher. Kopfschüttelnd schlüpfte er in sein Hemd und in die Kampfweste und schob die Pistole in das Halfter. Er schob die AK-47-Kugel in die Tasche und klemmte sich die Urne unter den Arm.

Er stieg aus dem Wohnwagen und erkannte eine schlanke Gestalt, die sich aus der Richtung des Bier-Pavillons näherte. Weaver. Sie hatte ihr Dämonengewehr über der Schulter hängen und trug ihre Spezialbrille.

»Hast du ein bisschen geschlafen?«, fragte Ethan und bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken. Er würde nicht sterben. Sein ganzes Leben lag wieder vor ihm und eine neue Mission, die zu erfüllen war. Eine, bei der er sich endlich gut fühlen konnte. Eine, die Menschenleben rettete.

»Nein.« Sie zog sich die Brille vom Kopf und blickte ihn ohne Wärme an. »Woher wusstest du, dass ich es bin?«

»Hab dich unter den Bäumen gesehen.« Eine Mission mit Weaver an seiner Seite. Ethan lächelte.

Weaver blickte prüfend über die Schulter zurück. »Keine Chance, dass du mich dort sehen konntest.«

»Ich glaube, das gehört zu meinem neuen Dasein als Dämonenjäger.«

»Na toll«, erwiderte Weaver. »Jetzt wird Ursula unbedingt wollen, dass ich dich mitnehme.«

Ethan schlug sich die Gedanken an seine Zukunft aus dem Kopf – es genügte, dass er überhaupt eine hatte – und bemerkte, dass sie wütend war. »Was ist denn los?«

»Sie war nicht gerade erfreut, einen Undercover-Nighthawk anzufordern, und das für nichts und wieder nichts. Sie war auch nicht erfreut, dass ich ein zusätzliches D-Gewehr mitgenommen habe und dass ich nicht mehr als nur dein Blut mitgebracht habe. Was übrigens, wie dir nicht gefallen wird, Francium enthält.«

»Du siehst selbst auch nicht gerade glücklich aus«, gab Ethan zurück.

Weaver lächelte ihn mit schmalen Lippen an. »Wie geht’s Glenda?«

Das verhieß nichts Gutes. »Schläft noch. Was ist los?«

Weaver hob trotzig das Kinn. »Nichts, gar nichts, Ethan. Nur dass ich meine Karriere für dich auf’s Spiel gesetzt habe und dann von dir ein lässiges ›Nein danke, wir halten’s lieber mit unseren Zauberkräften‹ höre. Wenn du mich nicht einsetzen wolltest, warum hast du mich dann mitgenommen?«

»Weil du unbedingt wolltest«, antwortete Ethan, verärgert darüber, dass sie ihm ständig mit der Vergangenheit kam, wo doch seine Zukunft vor ihm lag. »Und weil ich dachte, dass das D-Gewehr eventuell von Nutzen sein könnte. Ich hatte mich geirrt.«

»Macht nichts«, meinte Weaver, eine glatte Lüge. »Dein Problem ist Ursula. Sie wird heute zum Park kommen. Will dich treffen.«

»Nein«, lehnte Ethan ab, der im Augenblick schon genügend Probleme mit Frauen hatte.

»Sie glaubt, das Ganze wäre Quatsch, aber sie ist sich nicht mehr sicher. Also will sie’s herausfinden.«

»Pfeif auf Ursula.« Er wechselte die Position der Urne, stieß mit ihr gegen die alte Wunde und zuckte aus Gewohnheit zusammen, aber da war kein Schmerz. Die Kugel war fort, und er hatte wieder eine Zukunft, und er hatte keine Lust, über Ursula zu reden. »Tut mir leid, wenn ich deinen Einsatz gestern Abend nicht gewürdigt habe.«

»Wenn?«

»Tut mir leid, dass ich deinen Einsatz gestern Abend nicht gewürdigt habe.« Er wog die Urne in den Händen. »Ich muss das hier im Wachturm einschließen. Willst du mitkommen und mich vor allem, was da draußen eventuell herumkriecht, beschützen?«

Sie sah ihn an, als läge ihr eine heftige Erwiderung auf der Zunge – wahrscheinlich: Leck mich –, aber dann meinte sie nur seufzend: »Sicher.«

Das war nicht gut. Er wollte, dass sie glücklich war, sich auf die Zukunft freute. Vielleicht auf eine Zukunft mit ihm.

Ich habe eine Zukunft, dachte er, noch immer überwältigt von diesem Gedanken. Vielleicht war es an der Zeit, darüber nachzudenken, was er damit anfangen wollte.

»Glenda hat Hanks Wohnwagen rundherum vorbereitet, wieder bezugsfertig gemacht.« Er holte tief Luft. »Ich finde, du solltest hierherziehen. Wäre leichter für dich, den Park zu beobachten, wenn du hierbleiben kannst, anstatt in der Stadt zu übernachten.«

Weaver blickte skeptisch drein. »Möchte Glenda das?«

»Ich möchte das«, erwiderte Ethan.

Sie zuckte die Schultern. »Okay. Sicher. Für meinen Auftrag wäre es besser, immer hier draußen zu sein.«

»Und dann, wenn du eingezogen bist, dann … reden wir«, fuhr Ethan fort und betete innerlich, dass sie das nicht wollte.

»Wie du willst«, erwiderte Weaver, wandte sich ab und ging den Pfad hinunter zum Hauptweg.

»Na großartig«, murmelte Ethan und fragte sich, wie lange sie wohl noch sauer sein würde. Dann fiel ihm ein, dass er eine Zukunft hatte. Es machte nichts, wenn sie noch eine Weile lang sauer war, denn er war nicht mehr in Gefahr, jede Sekunde sterben zu können, er hatte eine Zukunft. Es traf ihn, jedes Mal wenn er daran dachte, wie ein Schock, und es würde noch dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte, aber na und. »Großartig«, sagte er noch einmal und ging dann rasch hinter Weaver her, um sie einzuholen.

Mabs Vorhaben, früh aufzustehen und in Delphas Wohnwagen umzuziehen, scheiterte, als sie erwachte und sich sofort zur Seite rollen musste, um sich in den Abfallkorb zu übergeben. »O Gott«, stöhnte sie und taumelte ins Badezimmer.

Frankie gab sein raues Rabengurren von sich, was zwar tröstlich, aber wenig hilfreich war.

»Grippe«, erklärte sie Cindy, als sie mit Frankie auf der Schulter herunterkam. »Oder ich muss noch von diesem Zeug, das mir Ethan gestern Abend gegeben hat, kotzen. Jedenfalls fühle ich mich scheußlich.«

»Aha«, machte Cindy nur, den Blick weiter zum Ende der Theke gerichtet, wo der Colaflaschen-Brillen-Kerl neben einer Frau mittleren Alters mit streng zurückgekämmtem, dunklem Haar saß, die ein teures pulverblaues Kostüm und einen unangenehmen Ausdruck im Gesicht trug. Abgesehen von einer Mutter mit ein paar kleinen Kindern waren die beiden die einzigen Gäste.

»Was ist denn los?«, fragte Mab. »Warum sind nur so wenige Gäste hier?«

Gleichzeitig rüttelte jemand an der Tür, und Mab sah, dass Cindy das Schild »Geschlossen« an die Tür gehängt hatte.

»Cindy, es ist Samstag, du musst doch …«, begann sie und bemerkte dann den Gesichtsausdruck ihrer Wohngefährtin.

Eindeutig Panik.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte Mab sich in Flüsterton.

»Das ist ein Vogel«, rief die Frau vom Ende der Theke Mab zu. »Vögel sind unhygienisch.«

»Vielen Dank für die Information«, rief Mab zurück, während Frankie die Frau von Mabs Schulter aus starr ansah. Dann wandte sie sich wieder Cindy zu. »Also, ich hatte gestern einen schlimmen Abend, und jetzt ist mir übel, und ich brauche eine große Portion Aufmunterungseiscreme und was du sonst noch an Eiscreme hast, die gegen Grippe wirkt, aber zuerst mal: Was ist mit dir los?«

»Ich sagte«, rief die Frau vom Ende der Theke lauter, »dieser Vogel ist unhygienisch!«

Cindy verdrehte die Augen, als konzentrierte sie sich angestrengt darauf, nicht hinzuhören.

Mab flüsterte: »Wer ist denn diese Zicke?«

»Hat was mit der Regierung zu tun«, antwortete Cindy. »Sie hat mir lauter Fragen über den Park gestellt.«

»Regierung«, wiederholte Mab und dachte an schwarze Helikopter. »Nicht gut.« Sie warf einen Blick die Theke entlang. Diese Frau sah ganz so aus, als würde sie schwarze Helikopter für eine gute Idee halten.

»Sie müssen diesen Vogel aus der Gaststube entfernen«, verlangte die Frau lautstark. »Dieser Vogel ist ein Verstoß gegen die Vorschriften der Gesundheitsbehörde.« Sie wandte sich an Cindy. »Sie führen den Laden hier. Sie tragen die Verantwortung.«

Cindy blickte die Frau an, ohne ein Wort zu sagen. Ihr ganzer Körper war steif vor Anspannung.

»Bist du okay?«, fragte Mab.

»Ja.« Cindy wandte ihre Aufmerksamkeit Mab zu. »Sagtest du, du hättest einen schlimmen Abend gehabt?«

»Ja. Glenda ist gestorben.«

»Was?«

»Wir haben sie wieder zurückgeholt. Aber lustig war das nicht.«

Jetzt war Cindy voll konzentriert. »Ist sie wieder okay?«

»Sie war noch ziemlich zittrig, als ich sie zum letzten Mal sah, aber ich glaube, sie erholt sich wieder. Kriege ich ein Frühstück, oder müssen wir erst der Regierung etwas antun?«

Die Frau richtete sich auf ihrem Hocker auf, wahrscheinlich, um wirkungsvollere Drohungen ausstoßen zu können. »Ich werde beim Gesundheitsministerium eine schriftliche Beschwerde wegen dieses Vogels einreichen.«

Frankie krächzte sie böse an, was auch nicht gerade hilfreich war, und Cindy starrte wieder an die Decke.

»Also jetzt machst du mir wirklich Angst«, meinte Mab. »Und das ist nach all dem, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, gar nicht so leicht. Was ist denn nur los mit dir?«

»Ich habe mich schon beim Aufwachen so komisch gefühlt«, sagte Cindy zwischen den Zähnen hindurch.

»Wie, komisch?«, erkundigte sich Mab.

»Es passieren so komische Sachen.«

»Was für Sachen?«

»Hören Sie mir überhaupt zu?«, fragte die Frau scharf. Sie wandte sich dem Kerl mit der dicken Brille zu. »Hören Sie auf, dieses verdammte Waffeleis zu essen, und tun Sie etwas gegen diesen Keimträger.«

Der Mann hob den Kopf und erwiderte: »Der Vogel ist ganz in Ordnung.« Dann wurden seine Brillengläser zu runden, blitzenden Augen, und sein Körper begann, länger zu werden, die Frau neben ihm zu überragen, und mit einem raschelnden Geräusch verwandelte sich der Nadelstreifenanzug in ein Schuppenkleid, und die Rockschöße schossen in die Länge und wurden zu einem langen, kraftvollen, schillernden …

»Drachen«, stieß Mab fasziniert hervor.

… Schweif, besetzt mit grünen Filzhüten, und als er den Mund öffnete, waren Reihen von scharfen Zähnen zu sehen.

»Sie andererseits«, sagte der Drache gefährlich ruhig, »Sie sind eine Nervensäge.«

Die Frau erstarrte, glotzte ihn an und sackte dann ohnmächtig von dem Barhocker herab auf den gekachelten Boden.

»Ich kann das nicht mehr abstellen«, flüsterte Cindy Mab zu.

»Aha«, sagte Mab und starrte immer noch voll Bewunderung den Drachen an, die wunderschön schillernden Schuppen, unter denen sich seine Muskeln bewegten, die graziöse Art, wie er den Kopf auf dem langen, starken Hals drehte, um sie anzusehen, die Hitze in den scharfen grauen Augen.

Dann war er verschwunden, und der Kerl mit den flaschenglasdicken Brillengläsern saß wieder da. Er wandte den Blick von Mab ab und der Frau auf dem Boden zu.

»Was ist jetzt wieder los?«, fragte er, ihrem bewusstlosen Körper zugewandt.

»Ich glaube, ich verliere den Verstand«, wisperte Cindy Mab zu. »Da drüben die beiden Knirpse haben vorhin herumgeplärrt, während ihre Mutter sich am Handy unterhielt. Und plötzlich verwandelten sich die Marshmallows in ihrem Kakao in kleine Drachen, die sangen: ›Ich bin euer Freund‹. Aber ziemlich falsch. Anscheinend sind Marshmallows unmusikalisch.«

»Und wer konnte das sehen?«, fragte Mab, bemüht, den Brillen-Kerl nicht länger anzustarren. Er war ein schöner Drache gewesen.

»Tja, eben. Die Mutter nicht. Nur die Knirpse und ich. Ich glaube, diese Drachen können nur von mir und von denen, über die ich mich ärgere, gesehen werden.«

»Ich habe ihn auch gesehen«, entgegnete Mab, die sich wünschte, dass der Drache wieder erschiene.

»Na ja, du bist eben eine Seherin«, meinte Cindy.

»Richtig.« Mab gab die Hoffnung auf den Drachen auf und wandte sich Cindy zu.

In Cindys Augen stand wieder Panik. »Mab, was geschieht mit mir?«

»Du schaffst Illusionen für die Leute«, stellte Mab fest, nachdem es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen war. »Genau wie Young Fred. Nein, warte, das stimmt nicht, du verwandelst dich nicht in jemand anderen, sondern …« Sie dachte eine Minute lang nach. »Es ist wie mit deiner Eiscreme. Die Eiscreme ist wirklich gut, aber wenn die Leute sie hier in Dreamland in deiner Nähe essen, ist das für sie wie ein Marienwunder. Du schaffst die Illusion, diese Eiscreme sei etwas Überirdisches.«

Cindy sah sie nur verwirrt blinzelnd an, und Mab versuchte es anders.

»Du bewirkst, dass die Leute glauben, was sie glauben sollen. Wie Glenda.« Mab hielt die Luft an. »Ja, ja, das ist es. Du hast gestern um Mitternacht, als Glenda kurz tot war, einen Sprung die Zaubererleiter hinauf getan.« Mab warf einen Blick auf die bewusstlose Frau, noch immer voller Staunen. »Wow.«

»Um Mitternacht war ich im Bett«, entgegnete Cindy. »Ich bin nicht gesprungen.«

»Doch, bist du. Glenda starb, und eine neue Zauberin wurde berufen. Du. Du hast schon dein ganzes Leben lang dafür geübt, ihre Nachfolgerin zu werden, und jetzt, wo sie den Stab an dich weitergereicht hat, erzeugst du Illusionen. Über deine Wundereiscremes hinaus. Drachen. Oh, wow, das ist wirklich toll.« Mab zog ihr Handy hervor und tippte Glendas Nummer ein.

Die Frau auf dem Boden am Ende der Theke rührte sich und versuchte, sich aufzusetzen. »Ich habe einen Drachen gesehen.«

Der Brillen-Mensch nahm seine Brille ab und half ihr auf. »Sicher haben Sie das, Ursula.«

Ohne Brille sah er ganz anders aus, fand Mab überrascht. Schärfere Gesichtszüge, schärfer blickende Augen, alles schärfer. Und außerdem war er ein fantastischer Drache gewesen.

Er setzte die hässliche Brille wieder auf, und Ursula wiederholte: »Da war ein Drache.«

»Ich will keinen Stab«, flüsterte Cindy Mab zu. »Glenda ist nicht mehr tot. Sie kann ihren Stab zurückhaben.«

Mab vernahm Glendas »Hallo?« aus dem Handy und sprach hinein: »Hier ist Mab. Wie fühlst du dich?«

»Lebendig, dank dir«, antwortete Glenda. »Was kann ich für dich tun?«

Mab sagte leise: »Komm ins Dream Cream und bläue deiner Nachfolgerin Vernunft ein. Sie produziert jetzt Drachen anstatt Eiscreme.«

»Ach, es ist Cindy?« Glenda lachte, und Mab hatte noch nie einen so entspannten Ton von ihr gehört. »Ja natürlich, Cindy ist es. Bin schon unterwegs.«

»Vielen Dank für die Eiscreme«, rief der Brillen-Kerl und führte die erschütterte Ursula zur Tür. »Ich komme wieder.«

»Nein, nein«, rief Cindy hinter ihm her. »Wir schließen. Saisonschluss. Kommen Sie nächsten Mai wieder.«

»Halloween verpassen?«, entgegnete der Kerl, und Mab begegnete seinem scharfen Blick und erkannte, dass Ursula vielleicht nicht die größte Gefahr war.

»Ich dachte, ich hätte einen Drachen gesehen«, murmelte Ursula, noch immer wie benebelt, und er führte sie durch die Tür hinaus.

»Das ist gar nicht gut«, meinte Mab und setzte sich.

»Bitte lass den Drachen nicht wiederkommen«, flehte Cindy und umklammerte die Thekenkante.

»Und die kleinen, singenden Marshmallows«, fügte Mab nickend hinzu.

»Ach, die Marshmallows sind nett«, meinte Cindy, »aber der Drache ist gefährlich.«

»Ich weiß«, erwiderte Mab und dachte an die Macht, die sich da entfaltet hatte. »Ich weiß.«

Turas Urne unter dem Arm, holte Ethan Weaver bald ein. »Hör mal, ich versteh ja, dass du wegen gestern Nacht wütend bist, aber wir haben einfach getan, was wir tun mussten.«

»Ich weiß.«

»Ich glaube, das D-Gewehr ist hier durchaus nützlich, wir werden es noch brauchen. Und dich auch. Dein Können.«

»Vielen Dank.«

Nun ja, es war herrlich, dass er eine Zukunft hatte, aber lieber würde er sie nicht gänzlich damit zubringen, Weaver ihr beleidigtes Getue wieder auszureden. »Wie lang willst du noch sauer auf mich sein?«

Weaver blieb stehen und wandte sich ihm zu. »Du meinst, du wüsstest alles. Aber das tust du nicht. Du weißt nicht mal, was du bist.«

Ethan hob besänftigend eine Hand. »Aber ich bin gerade dabei, dahinterzukommen. Die Sache mit dem Jäger, was ich da tun muss, das kriege ich auch noch raus. Heute Morgen …«

»Nicht die Sache mit dem Jäger.« Weaver kaute auf ihrer Lippe, als müsste sie eine Entscheidung treffen. »Du zeigst deine Gefühle nicht. Aber beim Sex …«

O Gott nein, bloß nicht so was, dachte Ethan.

»… da glühen deine Augen. Rot. Beim ersten Mal bin ich erschrocken, aber wir waren gerade mittendrin, und dann dachte ich, ich hätte es mir vielleicht nur eingebildet, aber dann passierte es wieder. Da wusste ich dann schon, dass du kein Dämon bist, aber … normal ist das nicht.«

»Na großartig«, murmelte Ethan und versuchte, diese Neuigkeit zu verarbeiten. Also seine Augen glühten rot. Vielleicht sollte er sie in Zukunft beim Sex geschlossen halten.

Weaver blickte ihn stirnrunzelnd an und meinte gereizt: »Das scheint dich nicht zu überraschen.«

»Doch, es überrascht mich. Aber ich habe auch Mabs Augen rot glühen sehen …«

»Du hast mit Mab geschlafen?«

»Nein, nein.« O Gott, Frauen! Er sah, wie sie die Augen verengte, und fuhr rasch fort: »Nein, nein. Würde ich nie. Ihre Augen glühen, wenn sie wütend wird. Fast wie bei einem Menschen, der von einem Dämon besessen ist. Aber sie ist kein Dämon. Und ich auch nicht.« Aber ich bin anders, dachte er.

»Also, was bist du dann?«, verlangte Weaver zu wissen. »Und übrigens ist das noch etwas, was ich Ursula nicht gesagt habe, aber geschenkt. Doch du musst zugeben: Dämonen hinter verschlossenen Türen zu spüren, in der Dunkelheit sehen, Francium im Blut, rot glühende Augen … Auf der Skala der Nicht-Dämonen stehst du nicht gerade hoch im Kurs. Ich glaube an dich, aber ich weiß nicht, wer sonst dir das alles durchgehen lassen würde.«

Sie traten nahe beim Turmsee auf den Hauptweg hinaus. »Das ist schon in Ordnung«, meinte Ethan. »Ich glaube, es ist wie meine Fähigkeit, Dämonen zu spüren und in der Dunkelheit besser sehen zu können … Teil davon, dass ich zur Guardia gehöre. Vielleicht sind Guardia Anti-Dämonen. Yin und Yang, du weißt schon. Kleine Abweichung von der Norm.«

»Klein? Glühen Glendas Augen auch? Du hast sie doch bestimmt schon tausendmal wütend gesehen.«

Das machte Ethan nachdenklich. »Hab ich nie an ihr gesehen.«

»Bei Gus? Delpha? Young Fred?«

»Nein, aber … Na ja, okay, vielleicht hat es nichts mit der Guardia zu tun.«

Es herrschte lange Schweigen, und Ethan ging automatisch weiter.

»Ich muss dich mitnehmen«, verkündete Weaver schließlich.

»Nein.«

»Hör mal, Ursula spielt gnadenlos unfair. Sie droht damit, deine Identität auszulöschen, wenn du nicht kooperierst. Dann verlierst du deine Kriegsinvalidenrente. Keinerlei Aufzeichnung über deinen Dienst in der Armee. Keine Aufzeichnung über dich. Das ist, als würdest du nicht mehr existieren.«

»Hat sie denn die Macht dazu?«

»Sie will diese Macht«, antwortete Weaver. »Ob sie sie hat, bleibt abzuwarten. Ich will einfach nicht zusehen, wie du zu einem Nichts gemacht wirst.«

»Ist mir egal. Ich bin ein Guardia. Alles andere zählt nicht. Sieh mal.« Er ging langsamer und zog die AK-47-Kugel aus der Tasche. »Das ist die Kugel, die sie mir nicht entfernen konnten, weil sie zu nahe am Herzen saß. Diese Kugel war mein Damoklesschwert, sie konnte mich jederzeit umbringen. Und heute Morgen war sie so weit herausgewandert, dass sie direkt unter der Haut steckte. Hab sie einfach rausgeholt. Und die Wunde war kurz danach verheilt. Ich habe mein Leben zurückbekommen. Glaub mir, ich schere mich einen Dreck um Ursula.«

Weaver starrte die Kugel an. »Dieses Ding hattest du in dir drin? Dicht am Herzen? Und du hast mir nichts gesagt?«

»Äh«, sagte Ethan, der das nicht erwartet hatte.

»Du … Idiot«, fauchte Weaver. »Du hättest sterben können!«

»Ich weiß«, erwiderte Ethan vorsichtig. »Aber sie ist raus. Jetzt ist alles in Ordnung …«

»Nein, ist es nicht. Das versuche ich dir gerade klarzumachen. Ursula ist gefährlich. Sie ist ehrgeizig wie der Teufel, und sollte sie beweisen können, dass es wahrhaftig Dämonen gibt – und dass diese Kräfte, die die Guardia besitzen, echt sind –, dann wird sie das alles ausnutzen, um noch mehr Macht zu erringen. Sie hat schon Muskelmänner eingeschleust, um dich zu ergreifen, wann immer sie es will. Und wenn du dich gegen sie stellst, ihr in die Quere kommst …« Sie schluckte. »Dann könnte das Leben, das dir gerade zurückgegeben wurde, schneller vorbei sein, als du denkst.«

Ethan zuckte die Achseln. »Soll sie es nur versuchen.« Er verlangsamte den Schritt, als sie die Abfalltonne neben dem Karussell erreichten. »Gestern Nacht starb meine Mutter, aber wir haben sie zurückgeholt. Heute habe ich mir mein Todesurteil aus der Brust geschnitten. Irgendjemand da oben ist auf unserer Seite, und ich werde alles tun, damit das so bleibt. Zur Hölle mit Ursula und ihren Muskelmännern.« Er schob die Abfalltonne zur Seite und öffnete die Falltür zu den Tunnelgängen. »Bist du auf meiner Seite?«

Weaver zögerte.

»Schon gut«, meinte Ethan. »Ich habe nie von dir erwartet, deine Karriere für das hier aufs Spiel zu setzen.«

»Ich bin auf deiner Seite«, erklärte sie und kletterte hinunter in den Tunnelgang.

»Danach brachte Ethan Glenda nach Hause, und Frankie und ich kamen hierher, um zu packen«, berichtete Mab, Waffeleis im Mund, während Frankie auf dem Boden Pistazien knackte. Mab aß vorsichtig und langsam, und bisher hatte ihr Magen noch nicht protestiert. »Wir ziehen heute noch zu den Wohnwagen hinaus, dann hast du dein Gästezimmer wieder zur Verfügung.«

»Oh«, machte Cindy. »Na ja, hm … gut. Also diese Sache mit der Guardia, ist das nicht schlimm?«

»Wir hatten ein paar Probleme«, erwiderte Mab, und als sie bemerkte, dass Cindy sich wieder verkrampfte, fuhr sie fort: »Nichts, mit dem wir nicht fertigwurden, alles ging gut, und du kannst das auch. Es ging nur ein bisschen drunter und drüber, weil Ethan darauf bestand, Weaver mitzunehmen …«

»Er hat seine Flamme zu einem Kampf mit Dämonen mitgenommen?«, rief Cindy. »Nein warte, bei Ethan ist das was anderes, der nimmt natürlich eine Flamme zu einem Dämonenkampf mit.«

»Nicht eine Flamme. Erinnerst du dich an den ›Mann-in-Schwarz‹, der immer wieder auf ihn geschossen hat? Der ›Mann-in-Schwarz‹, das war Weaver.«

»Und ich dachte, es wäre Johnny Cash.«

Glenda rüttelte an der Tür, und Mab ging hin, um sie hereinzulassen.

»Du musst das Dream Cream öffnen«, ermahnte Glenda Cindy. »Die Leute brauchen deine Eiscreme.«

»Mach ich auch«, sagte Cindy. »Sobald du mir erklärst, wie ich aufhören kann, Drachen zu produzieren.«

Glenda sah Mab an.

Mab lächelte und ignorierte ihren murrenden Magen. »Ethan hat mir erzählt, dass du als Zauberin Illusionen produzierst. Na ja, unsere Cindy hier, wenn sie sich ärgert, dann produziert sie eine Illusion, die den Menschen abschreckt, der sie ärgert. Und offensichtlich äußert sich ihr Unterbewusstsein in Drachen.«

Glenda sah Cindy an. »Ich wusste nicht, dass du dich überhaupt ärgerst. Du wirkst immer so … fröhlich.«

»Ich unterdrücke vieles«, erklärte Cindy.

»Ach.« Glenda ließ sich auf einem Barhocker nieder. »Also, dann fangen wir mal beim Anfang an. Du gehörst jetzt zur Guardia. Die Guardia ist eine …«

»Ja, Mab hat mir das schon erzählt. Ich bin die Zauberin, ich schreie Redimio, und die Dämonen verschwinden in Urnen. So retten wir die Welt. Sie hat allerdings nichts von Drachen gesagt oder davon, was meine Kräfte sonst noch bewirken oder wie ich sie kontrollieren kann.«

»Kontrollieren?« Glenda blickte verständnislos drein. »Wenn ich will, dass etwas geschieht, dann konzentriere ich mich darauf, und es geschieht. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je außer Kontrolle geraten.«

»Auch nicht, wenn du ärgerlich wirst?«, fragte Mab. »Ich erinnere mich an einige Male, als du ziemlich wütend warst. Da musst du doch … etwas gedacht haben.«

»Ja«, bestätigte Glenda, »aber es wurden nie Drachen daraus. Das ist neu.«

»Na wunderbar«, schnappte Cindy, und Mab fuhr überrascht ein wenig zurück.

»Ich verstehe, warum du … dich aufregst«, begann Glenda.

»Aufregst?«, wiederholte Cindy, und der Serviettenhalter auf der Theke verwandelte sich in einen mehr als einen halben Meter hohen silbernen Drachen und begann, Servietten zu speien.

»Oh«, sagte Glenda bei diesem Anblick. »Tja, das ist tatsächlich ein Problem. Vielleicht musst du einfach … äh … versuchen, dich in den Griff zu …«

»Habt ihr denn keine Bedienungsanleitung oder so was?«, fragte Cindy. »Mit einem Anhang zur Fehlerbeseitigung? Jemanden, den man anrufen kann?«

»Es gibt da ein paar alte Bücher im Wachturm«, meinte Glenda. »Mab könnte sich mal umsehen.«

»Sicher.« Mab nahm einen unvorsichtig großen Bissen von der Waffel. »Ich könnte …«

Ihr Magen rebellierte, und sie rannte zur Toilette und gab alles wieder von sich. Dann spritzte sie sich Wasser ins Gesicht, spülte sich den Mund aus und dachte: Das hat mir gerade noch gefehlt, eine Grippe. Als sie wieder hinter die Theke zurückkehrte, begegnete sie einem prüfenden Blick beider Frauen.

»Was ist?«, erkundigte sie sich.

»Cindy sagt, du hättest die Grippe«, meinte Glenda. »Aber es geht zur Zeit keine Grippe um.«

»Na ja, irgendwas habe ich jedenfalls«, erwiderte Mab. »Vielleicht kommt es auch von dem Zeug aus deiner Flasche, das Ethan mir gestern zum Ausnüchtern gab. Das war grässlich.«

Cindy nickte und wirkte für einen Moment wieder so fröhlich wie eh und je. »Ja, ja. Und du benutzt neuerdings Kondome … Könnte da etwas schiefgelaufen sein?«

»Nein … was? Nein. Hör mal, ich habe aufgepasst

»Leg eine Hand auf deinen Bauch«, verlangte Glenda.

Mab sah sie misstrauisch an. »Warum?«

»Leg eine Hand auf deinen Bauch, und warte ab, was du siehst«, riet Glenda.

Mab holte tief Luft und legte eine Hand auf ihren Bauch. Nichts. »Ich glaube nicht, dass diese Seher-Sache so funktioniert …«

Eine kleine Göre mit rotem Lockenhaar stand da und grinste schief zu ihr hinauf, ein spitzbübisches Kleinkindglitzern in den grünen Augen, und ein grünes Malachit-Kaninchen in den Patschhändchen.

Mab stockte der Atem, aber Frankie stieß sein raues Gurren aus, und das Kleinkind lachte glucksend.

»Tja«, sagte Glenda, die offensichtlich Mabs Gesichtsausdruck richtig interpretierte. »Mädchen oder Junge?«

»Mädchen«, antwortete Mab schwächlich, und das Kind wackelte davon, durch die Tür und hinaus auf das Kopfsteinpflaster. Immer noch glucksend.

Ein glückliches kleines Mädchen mit einem Malachit-Kaninchen, das Böses abwehrte, ein Geschenk ihrer hellsichtigen Tante Delpha.

Mab sah ihr nach, bis sie außer Sicht war, und ihr Verstand bemühte sich, diesen Gedanken zu fassen. Baby. Sie würde ein Baby bekommen. Ein Baby. Ein Baby.

»Und wer ist der Vater?«, erkundigte sich Glenda.

»Fun. O Gott. Mein Kind hat einen Dämon als Vater.« Mab setzte sich, noch immer wie betäubt von der Vorstellung, dass sie ein Kind bekommen würde, noch dazu ein Kind, das zum Teil ein Dämon war. »Das darf doch wohl nicht wahr sein.«

Cindy stellte einen Becher Tee vor sie hin. »Pfefferminztee. Kein Koffein. Keine Drachen.«

Mab blickte den Becher an. »Ich war gestern Abend ziemlich blau. Und Ethan gab mir dieses Zeug zu trinken, was mich alles rauskotzen ließ. Dadurch könnte das Baby Schaden ge…«

»Hat sie geschädigt ausgesehen?«, fragte Glenda.

»Nein, aber …«

»Dann also zurück zu unserem aktuellen Problem«, schnitt Glenda ihr das Wort ab und wandte sich Cindy zu. »Vielleicht solltest du es mit Meditation …«

»Hey«, rief Mab, »ich bin schwanger. Ich werde ein Baby bekommen.«

»Erst in neun Monaten«, erwiderte Glenda. »Cindy aber hat jetzt und hier mit Drachen zu kämpfen. Reiß dich zusammen.« Sie lächelte Cindy an. »Also, Mab wird zum Wachturm gehen und nach den Büchern suchen, und … dann sehen wir weiter. Gleich nachdem sie mit dem Wahrsagen heute Nachmittag fertig ist.«

»Wahrsagen?«, stieß Mab hervor. »Ach, verdammt, das Orakelzelt. Hab ich ganz vergessen.« Na ja, kein Wunder, mit dem Baby und so.

»Und nachdem du Eiscreme verkauft hast«, fuhr Glenda an Cindy gewandt fort. »Schließlich ist das hier auch noch ein Vergnügungspark. Also, an die Arbeit, alle beide.« Sie warf einen Blick auf die Eiskarte. »Ich will etwas nach dem Motto: Ich wäre fast gestorben, und jetzt bin ich frei. Was hast du in dieser Richtung?«

»Schokolade«, erwiderte Cindy und machte sich daran, ihr ein Frühstück zuzubereiten.

»War das wirklich wahr, was ich da gesehen habe?«, fragte Mab Glenda. »Das kleine Mädchen?«

»Schwer zu sagen«, meinte Glenda. »Vielleicht ist es auch nur das, was du dir wünschst.«

»Na klar, weil ich ja der ausgesprochen mütterliche Typ bin«, erwiderte Mab, nahm ihren Teebecher und marschierte durch die Tür hinaus, ihren Raben auf der Schulter und ein Baby an Bord.

»Tja«, sagte sie zu Frankie, als sie auf dem Hauptweg angekommen waren. »Hast du dich schon mal als Babysitter betätigt?«

Sie blickte ihm direkt ins Auge. Er schien nicht gerade begeistert.

»Na, du wirst es schon lernen«, meinte sie und machte sich auf den Weg zur Orakelbude.