Kapitel 15

»Was?«, fragte Mab noch einmal.

Ethan wies auf den Spiegel, und sie drehte sich um und sah, was er sah: dichtes, rotes Haar, tränenüberströmte Wangen, blau glühende Augen …

»Ha«, stieß sie hervor und betrachtete sich mit geneigtem Kopf. Die Tränen versiegten.

Es war nur die Iris, erkannte Ethan. Wirklich horrormäßig hätte es gewirkt, wenn auch das Weiße blau geworden wäre, aber dieses radioaktive Glühen genügte ihm schon.

»Du bist besessen«, stellte er mit erzwungen ruhiger Stimme fest. »Aber keine Panik, das kriegen wir wieder hin.«

»Nein, bin ich nicht«, entgegnete Mab und schluchzte auf.

Ethan näherte sich ihr, in der Hoffnung, dass er den Dämon festhalten könnte, wenn er ihn in sich hineinzwang. »Capio!«

»Ich bin nicht besessen.«

»Capio!«

»Nein, also wirklich.«

»Capio, verdammt noch mal!«

Sie blickte ihn ärgerlich an und sah, abgesehen von den schmutzigen Tränenspuren im Gesicht, fast wieder normal aus. »Ethan, ich bin ganz allein in mir. Nur ich. Hör auf, mich anzuschreien, der Tag war sowieso schon schlimm genug für mich.«

»Was, zum Teufel, ist das dann in deinen Augen?«

»Tja, das ist die Frage.« Sie schluckte schwer. »Es könnte sein, dass ich zur Hälfte ein Dämon bin.«

Zur Hälfte ein Dämon. Aha. »Nein, das bist du nicht. Aber du hast recht, du kannst nicht besessen sein, da du in eine eisenbewehrte Männertoilette gehen kannst. Tut mir leid wegen des Capio. Ich musste es versuchen.« Er blickte sie mit gerunzelten Brauen an und überlegte, mit was sie es wohl zu tun hatten. »Hör auf zu schniefen. Du bist kein Dämon.«

»Na ja, aber was ist das dann?« Sie wandte sich dem Spiegel zu und bemerkte, dass ihre Augen wieder braun wurden. »Was war das? Ich glaube, es ist der Geist eines Dämons. Und es ist meiner. Also bin ich ein Dämon.« Sie schnüffelte. »Meine Mutter hat immer gesagt, ich wäre ein Dämonenbalg.«

»Deine Mutter hatte einen Sprung in der Schüssel. Wann ist das denn passiert?«

»Ich weiß nicht.« Mab schnüffelte wieder. »Ich habe es gerade erst herausgefunden, aber andere Leute haben es auch bemerkt.«

»Welche anderen Leute?«

»Joe.«

»Joe.« Ethan nickte. »Und er fand das nicht seltsam?« Vielleicht ist er deswegen davongerannt.

»Joe ist nicht einfach Joe. Joe ist Suffkopf Dave, der von Fufluns besessen ist. Oder war. Fufluns steckt jetzt in Sam.«

»Was?« Ethan wandte sich der Tür zu, seine Gedanken überschlugen sich. »Wo ist er denn jetzt?«

»Im Pavillon, flirtet mit irgendeiner Tussi. Und Tura ist auch da draußen. Steckt in dieser blonden Tussi mit einer Traube von Männern um sich herum.« Mab schnüffelte wieder. »Ich finde, für so ’ne kleine Stadt gibt’s hier einen Haufen Tussis.«

»Vergessen wir die Tussis«, entgegnete Ethan gereizt. »Wir müssen die Dämonen wieder einfangen. Angefangen mit Fufluns

»Wie denn?«, fragte Mab. »Muss dazu nicht erst seine Urne repariert sein?«

»Stimmt«, gab Ethan ärgerlich zu.

»Na ja, Gus hat mir die fehlenden Teile noch nicht gegeben. Also bleibt Fun noch eine Weile draußen.« Mab wischte sich die letzten Tränen von den Wangen. »Aber er bringt niemanden um. Er treibt’s nur einfach mit fast jeder.« Die Tränen flossen erneut. »Der Mistkerl.«

Hör auf zu weinen, um Himmels willen. »Also hast du mit dem Dämon geschlafen und dir dabei dieses Glühen eingefangen?«

Mabs Kopf fuhr hoch, rotes Licht blitzte aus ihren Augen. »Das ist keine Syphilis oder so was, Ethan. Ich hab’ mir keinen Dämonentripper eingefangen. Das ist ein Teil von mir

Rotes Glühen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Fühlst du dich anders?«

»Was meinst du, anders?«, fragte Mab. »Mir ist unheimlich zumute, weil meine Augen blau glühen.«

»Ich meine, verspürst du irgendeinen … Drang?«

»Drang?« Mab blickte ihn ungläubig an, und das rote Glühen in ihren Augen verstärkte sich. »Was, zum Beispiel? Kleine Kinder zu fressen? Oder dir die Leber rauszureißen? Nein, keinerlei Drang.« Sie stieß zornig den Atem aus. »Obwohl ich dir im Augenblick gern eine Tracht Prügel verpassen würde für diese bescheuerten Fragen

Ethan nahm das nickend zur Kenntnis. Besser als weinen. Ein bisschen. Auf das rote Glühen hätte er verzichten können. »Du fühlst also im Augenblick nichts Böses?«

Die Iris ihrer Augen wurden tiefrot. »Natürlich nicht. Was hast du nur?«

»Wenn du richtig wütend wirst, dann werden deine Augen rot«, erklärte Ethan. »Sieht genauso aus wie das Glühen, das ich in Turas Augen gesehen habe. Andere Farbe. Warum erscheinen bei dir zwei verschiedene Farben?«

»Ich weiß es nicht, Ethan«, fuhr Mab ihn an. »Vielleicht bin ich einfach ein launischer Mensch. Und du hast mir die gute Laune gründlich verhagelt

»Das dachte ich auch«, erwiderte Ethan. »Rot für Wut. Nicht besonders originell.«

»Sagst du das, um mich wütend zu machen oder weil du auch noch taktlos bist?«

»Fragen wir uns lieber, was mit dir los ist«, entgegnete Ethan. »Wenn da keiner in dir drin ist und du auch kein Dämon bist, was, zum Teufel, hat es dann damit auf sich?«

»Ich weiß es doch nicht«, wimmerte Mab und verzog ihr Gesicht.

»Schon gut, schon gut«, murmelte Ethan, legte dann etwas unsicher einen Arm um sie und tätschelte sie. »Das finden wir schon noch raus. Du bist jedenfalls kein Dämon. Du hast den Männerklo-Test einwandfrei bestanden. Du bist einfach … etwas Besonderes.«

»Etwas Besonderes«, wiederholte Mab und klammerte sich an sein T-Shirt, das von Minute zu Minute feuchter wurde. »Das ist freundlich ausgedrückt für abnormal, oder?«

Ethan tätschelte sie stärker. »Wir werden es herausfinden und in Ordnung bringen. Vielleicht hat ja Glenda eine Idee.«

»Glenda wird mich in eine Kiste stecken«, heulte Mab.

»Niemand wird dich in eine Kiste stecken«, meinte Ethan und bemühte sich, seine Stimme nicht gereizt klingen zu lassen. »Allerdings dieses Arschloch, mit dem du geschlafen hast, der kriegt eins auf die Nuss.«

»Kein guter Themenwechsel«, sagte Mab. »Mir wird schlecht.«

»Wenn du noch mal kotzen musst, sind wir hier richtig«, meinte Ethan und tätschelte weiter.

»Ich liebe ihn wirklich.« Ihre Unterlippe zitterte. »Das ist es, was Liebe anrichten kann. Bringt einen so weit, dass man kotzen muss.«

»Du wirst schon über ihn wegkommen«, beruhigte Ethan. »Du wirst einen Besseren kennenlernen. Kannst du nicht in die Zukunft sehen?«

»Nicht so was«, erwidert Mab. »Ich sehe ein paar Kerle, die auf eine schnelle Nummer aus sind, aber ich kann nicht meine zweite wahre Liebe auf mich zukommen sehen. Außerdem hat Delpha mir gesagt, dass Joe meine wahre Liebe sei, und sie hat sich nie geirrt. Ich bin dazu verdammt, ihn für immer zu lieben

»Ja, ja, ja.« Ethan gab ihrer Schulter einen letzten Klaps und schob sie dann zur Tür. »Komm schon, lass uns gehen und Tura einfangen, dann fühlst du dich gleich besser. Und solltest du diesen Dreckskerl Fufluns unterwegs sichten, lass es mich wissen, dann capio ich seinen Arsch.«

»Du hast aber nichts, wo du ihn einsperren kannst«, entgegnete Mab, während er die Tür öffnete.

»Glenda hat ein paar Tupperware-Gefäße«, knurrte Ethan. »Da kann er es sich zusammen mit einem Rest Thunfisch gemütlich machen, bis Gus die fehlenden Teile seiner Kiste findet.«

»Er mag Fisch«, sinnierte Mab. »Zumindest mag er diese verdammte Meerjungfrau. Ich hasse Meerjungfrauen. Die reinsten Killer-Weiber.«

»Gut zu wissen«, meinte Ethan, hinter ihr die Augen verdrehend, und schob sie durch die Tür ins Freie.

Ethan versammelte seine Kampftruppe hinter dem Kettenkarussell, war sich aber nicht sicher, ob sie wirklich funktionieren würde. Weaver war hellwach und in Alarmzustand; Glenda war angespannt; Gus war erregt und besorgt zugleich und fummelte mit der Urne herum; Young Fred trank immer wieder aus einer Bierflasche, die er unter seinem Mantel versteckt hielt; und Mab, jetzt ohne Tränen und wenigstens halbwegs nüchtern, beobachtete alles und jeden und erinnerte ihn damit sehr an Delpha, vor allem, da sie sich außerdem in deren blauen Schal gewickelt hatte und Frankie auf ihrer Schulter saß.

Eine Stunde später war Weaver noch immer in Alarmzustand, Glenda war etwas entspannter, Gus war eingeschlafen, und Young Fred betrachtete bekümmert seine leere Flasche.

Mab beobachtete noch immer jeden.

»Bist du so weit okay?«, fragte Ethan sie.

»Nein«, antwortete sie. »Du etwa?«

»Nein.«

»Na also.«

Er war fast geneigt, für diesen Abend Schluss zu machen. Der Park hatte bereits geschlossen, es war also kaum noch jemand zu sehen, der Liebestunnel hatte vor zwanzig Minuten zugemacht – weit und breit kein Anzeichen von Tura in der Gestalt der Blonden –, und seine Truppe war nicht gerade in Kampfstimmung. Vielleicht tat ihnen ja eine Atempause gut, um noch einen Trainingstag einzulegen …

Da hallte das Lachen einer Frau durch die Dunkelheit, und in einem orangefarbenen Lichtkegel erschienen zwei Gestalten, die vom Teufelsflug herkamen.

»Irgendwas auszumachen?«, fragte er Weaver, und sie nickte.

»Ich sehe eine Francium-Spur«, antwortete sie.

»Eine was?«, erkundigte sich Mab.

»Francium.« Weaver lächelte sie nicht gerade herzlich an. »Daraus bestehen Dämonen. Die Brille filtert alles außer Francium aus, das heißt, ich kann Dämonen sehen.«

»Wie nett für Sie«, meinte Mab und trat ein wenig beiseite, sodass sie hinter Glenda stand.

»Tura ist eine Unberührbare«, warf Glenda ein. »Funktioniert Ihre Technik auch bei denen?«

»Unserer Erfahrung nach bestehen alle Dämonen so ziemlich aus demselben Stoff«, erwiderte Weaver. »Francium und das Böse bilden ihre Grundstruktur, deswegen kann man sie mit Eisen, dem stabilsten Element, zerstören …«

»Schhhhh«, machte Ethan.

Die beiden Gestalten schwankten, einander umarmend, an ihnen vorbei. Die große Blonde und ein kleinerer, untersetzter Kerl.

»Erkennst du sie?«, erkundigte sich Ethan flüsternd bei Glenda.

»Ach Mist«, flüsterte Glenda bekümmert, »das ist Laura Riesenrad.«

Weaver blickte Ethan stirnrunzelnd an. »Laura Riesenrad?«

»Ihre Familie ist für das Riesenrad zuständig.«

»Sie ist ein anständiges Mädchen«, fügte Glenda hinzu.

»Im Moment nicht«, entgegnete Ethan, der beobachtete, wie Laura Riesenrad den Mann zum Liebestunnel führte.

»Erkennst du den Kerl?«, fragte Ethan.

»Irgendein blöder Trottel, der auf einen Seitensprung aus ist«, erwiderte Glenda müde. »So sind sie immer.«

Die Außenbeleuchtung der Liebestunnelbahn ging an, ohne dass jemand in der Steuerkabine war. Der Trottel schien es nicht zu bemerken, als Tura ihn die Stufen zum Einstiegssteg hinauf und zu dem vordersten Schwanenboot führte.

»Also gut«, sagte Ethan. »Genau nach Plan. Wir gehen rein.«

»Nicht mit Weaver.« Glenda stellte sich vor ihn. »Ethan, es ist falsch, Nicht-Guardia bei so etwas mitzunehmen. Es ist gefährlich

Weaver hob ihr Dämonengewehr hoch. »Geben Sie mir doch eine Chance. Ich komme Ihnen nicht in die Quere, solange ich nicht gebraucht werde, aber mit mir als Rückendeckung sind Sie besser dran.«

Glenda und Mab tauschten Blicke, und Weaver verdrehte die Augen und wandte sich Ethan zu.

Na toll, dachte Ethan. Weiberkrieg.

Tura und der Trottel stiegen in das Boot, und Ethan hörte das laute, widerhallende Klacken, als der Haken einrastete und das Boot sich in Bewegung setzte.

»Gehen wir«, befahl er, und sie eilten alle um die rechte Seite des hässlichen rosafarbenen Betonklotzes herum. Ethan riss die Seitentür für das Personal auf und führte seine Truppe hinter den Schaubildern entlang bis zu Antonius und Cleopatra, wo Frankie in das Schaubild flog und versuchte, eine Weintraube von Cleopatras Tisch zu essen.

»Das ist kein Augapfel«, flüsterte Mab ihm zu.

Gus hielt Turas Urne in die Höhe und erklärte: »Ich bin bereit«, und Young Fred nickte, und sein Gesicht begann zu beben und sich zu verändern.

Der Schwan kam um die erste Biegung herum in Sicht. Tura hing dem Kerl am Hals, befingerte ihn und flüsterte ihm ins Ohr.

Young Freds Gesicht nahm das Aussehen von Karl dem Toten an, und er trat an die Kante der Wasserstrecke. Tura blickte auf, und sein Anblick traf sie wie ein Schock, in ihren Augen blitzte es blaugrün auf.

»Frusto!«, rief Young Fred laut, und Mab sagte: »Äh, Specto

O verflucht, schoss es Ethan durch den Kopf, als das Blau-grün in Turas Augen stärker glühte.

»Was, zum Teufel, soll das?«, krächzte der Trottel im Boot und blickte von dem Schaubild zu seiner Begleiterin, während der Schwan vorbeiglitt.

»Specto!«, rief Mab lauter und schleuderte die Faust in Richtung der glühenden Augen, doch Tura stieß ein unirdisches Lachen aus.

Der Kerl neben ihr fuhr zurück. »Was, zum Teufel

»Ich kenne dich«, rief Tura verächtlich und sah Mab an. »Dämonenliebchen.«

Mab rannte hinter dem davongleitenden Boot her, erreichte es und schnarrte voller Wut: »Specto!, habe ich gesagt, du Miststück!« Sie stieß die Hand wie einen Speer nach vorn und wies direkt auf das Glühen in Tura, und im gleichen Moment feuerte Weaver. Das glühende Licht zuckte aus Laura heraus, nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor Weavers Kugel sie traf. Das glühende Licht breitete sich aus und nahm die Gestalt einer Meerjungfrau an, volle Lippen, lange Haare und üppige Formen, die vor Überraschung erstarrte, während das Schwanenboot weiterglitt und eine bewusstlose, verwundete Laura und einen vor Entsetzen erstarrten Trottel um die nächste Biegung davontrug.

»Was, zum Teufel, tun Sie da?«, schrie Mab Weaver an, während Ethan vortrat und »Capio!« rief und die blaugrüne Meerjungfrau in sich einsaugte. Diesmal wusste er, wie er sie festhalten musste. Er fühlte, wie Tura kreischend nach seinem Herzen griff, der Schmerz war schrecklich, aber er packte sie, hielt sie, überwältigte sie, fühlte sogar die Kugel nicht mehr in sich, und dann wandte er sich wie in Zeitlupe zu Gus um, der die Urne bereithielt.

Glenda legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: »Redimio«, und er fühlte mit unendlicher Erleichterung, wie Tura aus ihm herausströmte und zur Urne floss.

Gus hob den Deckel, doch plötzlich schlug der Dämon einen Haken und schoss in Glenda hinein, die von der Macht dieses plötzlichen Angriffs vom Steg gefegt wurde und im Wasser versank.

Im nächsten Augenblick schoss das Blaugrün wieder aus dem Wasser, und Mab schrie: »SPECTO!«, und die Meerjungfrau nahm wieder Gestalt an, sich windend vor Wut, und Ethan schrie: »Capio!« und nahm sie in sich auf. Diesmal hielt er sich an Gus fest und kämpfte darum, den Dämon selbst aus sich herauszureißen, als sie nach seinem Herzen greifen wollte.

»Glenda!«, rief Mab, aber Weaver hatte sie bereits aus dem Wasser gefischt, beide tropfnass, und begann mit Herzmassage. Mab warf einen Blick auf Ethan und sah den wutschnaubenden Geist in ihm kämpfen, umschlungen von etwas anderem, etwas, das rot und heiß und machtvoll war. Da unterbrach Weaver die Herzmassage, und Mab beugte sich hinunter und atmete zweimal in Glendas Mund, versuchte, ihr mehr als nur Atem zu spenden.

»Ich glaube, sie ist tot«, sagte Weaver mit belegter Stimme.

»Nein«, stieß Mab hervor. »Glenda!« Sie schüttelte sie, wobei Glendas Kopf zurückfiel und ihre Augen blicklos zum Dach des Tunnels emporstarrten. »Nein, nein, nein!« Mab begann zu pumpen, da rief Weaver: »Lassen Sie mich ran«, und sie begann wieder mit professioneller Herzmassage, während Mab sich über Glenda beugte und sie beschwor: »Du bist nicht tot. Du – bist – nichttot

Frankie kam herabgeflattert und setzte sich auf den Ast einer Baumattrappe über Mab, und für einen Augenblick hatte sie eine Art doppelte Vision, indem sie Glenda ansah und zugleich sich selbst sah, wie sie Glenda ansah. Sie schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, und dachte: Delpha sagte, dass ich Dinge sehen kann, die man eigentlich nicht sehen kann. Sie starrte in Glendas tote Augen, ging instinktiv tiefer, suchte nach einem Funken, einer Erinnerung, irgendetwas, das noch am Leben war, und fand etwas, eine kleine Stelle der Anspannung, als hielte sich Glendas Geist an etwas fest, obwohl ihr Körper praktisch schon tot war.

Mab packte diesen Funken. Komm schon, Glenda, komm schon, du willst nicht sterben, du bist noch nicht bereit zu sterben, komm schon, du hast so vieles, wofür du leben musst

Dann kniete Ethan neben ihnen, stieß zwei Atemzüge in den Mund seiner Mutter und übernahm dann die Herzmassage, während Weaver sich zurückzog, aber er sah krank aus.

Vielleicht weil er wusste, dass sie tot war.

Mab beugte sich zu Glendas Ohr hinab. »Du kommst sofort wieder hierher zurück«, flüsterte sie, »denn wenn du das nicht tust, wird Weaver die Guardia für immer ins Chaos stürzen.«

Das Pünktchen Anspannung schien ein wenig fester zu werden, als ob Glendas Geist die Faust ballte.

Ethan pumpte immer weiter.

Mab flüsterte wieder. »Sie wird Ethan wieder zum Militär zerren, und sie werden Dämonenexperimente mit ihm veranstalten.«

Das Pünktchen wurde zu einem Knoten, der zu glühen begann.

»Und sie wird wahrscheinlich die Mutter deiner Enkel. Stell dir vor, was für grässliche Militärmonster sie aus denen machen wird.«

Der Knoten explodierte, Glenda stieß ein Keuchen aus und setzte sich auf, zitternd, die Augen aufgerissen, und Ethan ließ sich zurückfallen.

»Tu das nie mehr«, beschwor Mab sie, Tränen in den Augen, und hielt sie in ihren Armen. »Du hast uns zu Tode erschreckt.«

»Der Medi-Chopper ist unterwegs«, verkündete Weaver hinter ihnen, dann veränderte sich ihre Stimme: »Sie lebt

»Chopper?«, fragte Mab.

»O Gott sei Dank«, stieß Weaver hervor. »Wir werden sie in unser Spezialhospital bringen. Absolute Priorität …«

»Nein!«, wehrte Glenda ab, und Ethan legte einen Arm um sie und beschwor sie: »Beruhige dich, Mom, du brauchst …«

Sie stieß ihn weg. »Ich gehe nicht ins Hospital, und ich gehe todsicher nicht in ein Militärhospital.« Sie starrte Weaver an. »Ich weiß, was Sie vorhaben. Das Gleiche, was Sie auch mit Ethan tun wollen. Aber Sie kriegen mich nicht in so ein Versuchslabor in der Abteilung zweiundfünfzig.«

»Abteilung einundfünfzig«, verbesserte Weaver betroffen. »Und ich wollte nicht …«

»Nein«, wiederholte Glenda, und Mab fühlte, wie ihr Geist dabei zitterte.

»So, und jetzt Schluss damit.« Mab erhob sich. »Glenda, beruhige dich. Weaver hat alles getan, um dein Leben zu retten, sie ist auf unserer Seite. Und Weaver, lassen Sie’s gut sein. Glenda wird in keinem Helikopter irgendwohin gebracht. Es ist ein schwarzer Helikopter, oder?«

»Ja«, antwortete Weaver gereizt. »Was, zum Teufel, hat das denn damit zu tun?«

»Nur eine kleine Bestätigung für mich.« Mab streckte ihre Hand Glenda entgegen und half ihr auf die Füße. »Du hättest mich wenigstens die Ambulanz rufen lassen sollen. Du bist eben beinahe gestorben, herrje.«

Glenda stützte sich zitternd und mit bleichem Gesicht auf Mab. »Kein Helikopter. Kein Militär.« Sie blickte Ethan an. »Was ist mit Tura

»Wir haben sie«, antwortete Ethan, und hinter ihm hielt Gus die Urne in die Höhe und sah selbst höllisch aus. »Ich weiß nicht, wie, aber es ist vorbei, und sie hat den Trottel nicht getötet. Wir müssen nur noch nachsehen, ob mit Laura alles in Ordnung ist.«

»Ich kümmere mich darum.« Gus schob die Urne in Ethans Hände und eilte aus dem Tunnel.

Glenda sackte gegen Mab.

»Also gut«, meinte Mab und hielt sie aufrecht. »Dann gehen wir zurück zu den Wohnwagen. Fred?«

Young Fred trat hinter Weaver hervor. Er wirkte mitgenommen.

»Geh, und hole ein Golfwägelchen. Wir müssen Glenda nach Hause bringen.«

»Na klar«, erwiderte er und rannte durch den Tunnel davon.

Er kam jedoch gleich wieder zurück und rief: »Da draußen ist ein Helikopter.«

»Sag ihnen, sie sollen den Abflug machen«, wies Mab ihn an, und Weaver meinte ungläubig: »Euch ist ein Golfkarren lieber als der Medikopter? Was ist nur mit euch los, Leute?«, und ging durch den Tunnel davon.

»Reizende Dame«, sagte Mab zu Ethan.

»Sie hat nicht ganz unrecht«, erwiderte Ethan mit einem besorgten Blick auf seine Mutter, die Urne unter den Arm geklemmt. »Du solltest ins Krankenhaus gehen«, mahnte er. »Du solltest …«

»Ich will Mab«, fiel Glenda ihm ins Wort. »Sie wird es wissen.« Sie wandte sich von ihm ab und streckte ihre rechte Hand aus. »Sag’s mir. Werde ich sterben?«

»Irgendwann einmal«, erwiderte Mab. »Mach nicht ein solches Drama daraus. Ein einziges Mal knapp am Tod vorbei, und schon führst du dich auf wie eine Diva.«

Glenda warf ihr den vertrauten Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Blick zu.

»Willkommen zurück im Leben, Glenda«, stellte Mab fest, sehr erleichtert bei dem direkten Blick aus Glendas Augen. »Linke Hand. Es geht schließlich um das Herz, nicht?«

Glenda streckte die linke aus, und Mab legte ihre Hand darauf.

Flatternder Herzschlag, der allmählich kräftiger wurde, Sonnenschein, Glenda lachend vor der Freiheitsstatue.

»Ha«, sagte Mab.

»Schaffe ich es?«, fragte Glenda.

»Sofern es im Himmel keine Freiheitsstatuen gibt, ja.«

»Dann will ich jetzt in meinen Wohnwagen«, erklärte Glenda, und im gleichen Augenblick kam Young Fred zurück und verkündete: »Ich habe ein Golfwägelchen hier.«

Glenda machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, und er legte stützend einen Arm um sie. »Na komm schon, alte Dame, noch bist du nicht tot.«

»Nenn mich noch mal eine alte Dame, dann bist du’s«, meinte Glenda, aber sie stützte sich trotzdem auf ihn.

»Ich werde über Nacht bei ihr bleiben«, sagte Mab zu Ethan, »aber dann müssen wir reden. Da liegt vieles im Argen …«

»Ich bleibe über Nacht bei ihr«, erwiderte Ethan, und nach kurzem Zögern nickte sie. »Das Hightech-Zeug kann schon helfen«, fuhr er fort, »wir müssen nur herausfinden, wie.«

»Der Hightech-Kram ist Quatsch«, entgegnete Mab und ging in die kühle Nacht hinaus.

Als sie den Hauptweg erreichte, hob gerade ein Nighthawk-Helikopter vom Boden ab, und Weaver stand da und blickte ihm fuchsteufelswild nach, während Glenda in das Golfwägelchen kletterte.

Ethan ging zu Weaver hinüber und legte ihr eine Hand auf die Schulter, und als sie sich ihm mit wütendem Gesicht zuwandte, sagte er: »Ich fahre mit Glenda. Wir reden später.«

Dann stieg er zu seiner Mutter in das Golfwägelchen und fuhr davon, den Hauptweg hinunter, während Weaver ihm mit steinerner Miene nachblickte.

»Ich kenne ihn nicht besonders gut«, sagte Mab zu ihr, »aber ich glaube, er ist ein guter Kerl. Heute Nacht, das war einfach rundherum eine Katastrophe, aber er tut sein Bestes …«

»Er will, dass ich alles gebe, er aber gibt nichts«, entgegnete Weaver. »Mein Job hier kommt ihm sehr gelegen, denn er braucht meine Ausrüstung, aber …«

»Geben Sie ihm eine Chance«, unterbrach Mab sie. »Wir haben hier noch eine harte Nuss zu knacken, aber ihr beide scheint wirklich gut zusammenzupassen …«

Weaver wandte sich ab, und Mab sah ihr nach, wie sie, das Gewehr in der Hand, in der Dunkelheit verschwand.

»Machen Sie das nicht kaputt«, rief sie ihr nach. »Er ist wirklich ein guter Kerl.«

Ganz anders als dieser ungetreue Mistdämon, in den ich mich verlieben musste.

Andererseits: Glenda war am Leben. Und jetzt, wo sie aufgehört hatte, sich dagegen zu wehren, erschien ihr die Aussicht, für den Rest ihres Lebens in Dreamland zu leben, gar nicht so übel. Schließlich hatte sie ja Fun nicht geheiratet oder sonst etwas Irreparables getan, sie hatte ihn überhaupt erst vor einer Woche kennengelernt, also konnte es nicht so schlimm werden …

Frankie flatterte herab und ließ sich auf Mabs Schulter nieder.

»Ich würde ihn trotzdem wiederhaben wollen«, erklärte sie dem Raben. »Wenn er kein Dämon wäre, würde ich ihn wiederhaben wollen.«

Frankies Miene kam einem Augenrollen so nahe, wie sie es je bei einem Vogel gesehen hatte.

»Richtig. Und morgen ziehen wir in Delphas Wohnwagen um, damit wir Gus und Glenda im Auge behalten können. Dann bist du wieder in deinem alten Nest.«

Frankie krächzte, rau wie ein Reibeisen, mit dem man über eine rostige Eisenstange scheuerte, und Mab lächelte bei diesem wunderbaren liebevollen und zustimmenden Klang.

»Ja, ich finde auch, dass das das Richtige ist«, antwortete sie und machte sich auf den Weg zum Dream Cream.

Ray ließ sich auf der Bank nieder und berichtete: »Ich habe Tura gefunden und ihr gesagt, was du willst, und sie war nicht besonders erbaut davon, aber sie hat sich von der Guardia einfangen lassen und sitzt wieder in ihrer Urne.«

BRING SIE IN DEN Wachturm, BEVOR SIE WIEDER ENTKOMMT.

»Tura hat Glenda getötet.«

GLENDA.

»Aber Mab hat sie wieder zurückgeholt.«

MAB IST DEINE NICHTE.

»Ja. Die lebt auch noch. Ich glaube, sie ist der Ersatz für Delpha.«

Zu viele junge Guardia. Zu viel zäher Kampfesmut. Nicht genügend Verzweiflung. BRINGE MEHR MINIONS HER.

»Tja, vielleicht ist dir das entgangen, aber die Minions sind nicht besonders wirksam.«

SCHICKE SIE AUS, DIE GUARDIA BIS HALLOWEEN IN ATEM ZU HALTEN. UND AN HALLOWEEN DANN, EINE MINUTE NACH MITTERNACHT, TEILE SIE IN FÜNF GRUPPEN AUF, DIE ZUR GLEICHEN ZEIT JEWEILS EINEN GUARDIA TÖTEN SOLLEN.

»Das bedeutet aber eine Menge Minions

Der vordere Bereich von Rays Haarpracht fiel ihm in den Schoß und hinterließ eine hohe kahle Stirn.

»Klar doch«, meinte Ray resigniert. »Die Minions sollen die ganze Woche über die Fünf zermürben, dann Freitagnacht nach Mitternacht alle umbringen. Also beschützen wir Glenda nicht mehr?«

GLENDA IST KEINE GUARDIA MEHR. Kharos hielt inne und bedauerte einen Augenblick lang den Verlust all dieser wundervollen Macht. Sie war … köstlich gewesen.

»Verstanden«, fuhr Ray fort. »Die Dämonen machen ab Samstag null Uhr eins die Guardia fertig …«

STÜRZT SIE INS CHAOS. ÜBERWÄLTIGT SIE MIT KUMMER ÜBER IHRE VERLUSTE, DASS SIE WIE STAUB WERDEN.

»Sicher. Ach ja, ich habe herausgefunden, dass Mab Fufluns Urne reparieren soll, damit sie ihn wieder gefangen nehmen können. Allerdings nicht mit oberster Priorität. Ethan macht sich mehr Sorgen um Glenda, dass sie sterben könnte, als um Fufluns

Kharos starrte auf Ray hinunter. Er hatte in kürzester Zeit eine Menge wertvoller Informationen über die Guardia bekommen. Woher bekam Ray diese?

Ray erhob sich. »Also, dann werde ich jetzt die Minions holen …«

SCHICKE DEINEN PARTNER ZU MIR.

»Was?«, fragte Ray vorsichtig.

ICH WILL DEN VERRÄTER KENNENLERNEN, DER DIR HILFT. JEMAND VERRÄT DIR DINGE, DIE NUR DIE GUARDIA WISSEN KÖNNEN. DU HAST EINEN SPION UNTER IHNEN.

»Na ja«, murmelte Ray.

SCHICKE DIESEN VERRÄTER ZU MIR.

»Das wird ihm nicht gefallen. Er tut das nur, weil er sich zurückziehen will, nicht weil er die Guardia hasst. Und ehrlich gesagt kann er mir nicht das Wasser reichen. Du wirst enttäuscht sein, wenn du ihn kennenlernst …«

RUFE IHN HER.

»Klar«, meinte Ray und holte sein Handy hervor.

Zehn Minuten später starrte Kharos auf einen Grünschnabel nieder.

DU WILLST DICH ZURÜCKZIEHEN?

»Ich will nur raus aus allem«, antwortete Young Fred unsicher. »Du willst frei sein, wir wollen frei sein, oder? Ich befreie dich, und niemand kommt zu Schaden, richtig?«

IHR ALLE WERDET STERBEN, dachte Kharos, aber er erwiderte: RICHTIG.

Hinter Young Freds Rücken verdrehte Ray die Augen.

DAZU MUSST DU FOLGENDES TUN, fuhr Kharos fort.