Kapitel 10

Ethan war aufgewacht, fühlte, dass er einen schlimmen Kater hatte, und setzte sich sehr vorsichtig auf, eine Hand auf der Brust, um den Schmerz der Kugel zu besänftigen, der allerdings in den letzten Tagen schwächer geworden zu sein schien, wohl wegen der vielen anderen Schmerzen. In Anbetracht der Schläge, die er in den wenigen Tagen hier bereits eingesteckt hatte, war er dankbar, noch am Leben zu sein.

Dann hörte er Mab schreien und war zur Tür hinaus, bevor Glenda aus ihrem Schlafraum auftauchen konnte.

Er sprang die Stufen hinunter und blickte den Pfad zum Park entlang, da stieß Mab von hinten gegen ihn, zerrte an ihm und weinte: »Delpha«, und er schob sie zur Seite und rannte zu Delphas Wohnwagen hinüber.

Sie lag auf dem Boden, doch als er neben ihr kniete, sah er, dass sie tot war, wahrscheinlich schon seit dem Abend zuvor. Wahrscheinlich war sie bereits, kurz nachdem er sie verlassen hatte und zum Wohnwagen seiner Mutter und zu seinem Flachmann gegangen war, gestorben.

Er hätte bei ihr bleiben sollen.

Er berührte sie. Sie war eiskalt, kälter als der Tod, und er blickte auf und sah, dass das Fenster über ihrer Couch offen stand. Es war unwichtig, sie war nicht erfroren, aber trotzdem ging es ihm gegen den Strich, dass sie die ganze Nacht über in der Kälte gelegen hatte …

»Was ist mit ihr?«, fragte Glenda hinter ihm und holte dann scharf Luft. »Nein.«

»Es tut mir so leid, Mom«, murmelte Ethan, ohne sich umzudrehen. »Ich hätte bei ihr bleiben sollen.«

»O Gott, nein«, stöhnte Glenda und ließ sich neben ihm auf die Knie nieder. »Nicht so. Sie wusste, dass ihre Zeit gekommen war, aber doch nicht so.«

Ethan sah sie mit zusammengezogenen Brauen an, aber sie weinte, nahm Delphas Hand und hielt sie, und er ging hinaus, um herauszufinden, was, zum Teufel, die beste Freundin seiner Mutter umgebracht hatte.

Es mussten wohl Dämonen gewesen sein, aber dies schien irgendwie nicht Turas Stil zu sein. Vielleicht war Fufluns doch nicht so harmlos, wie sie dachten.

Er ging um den Wohnwagen herum und betrachtete das offene Fenster. Da war die Deichsel, und daneben ein Zigarrenstumpen; und ein alter, halb vergammelter Gartenstuhl war bis unter das Fenster geschleift worden, doch er hatte eine Sitzfläche aus mürben Kunststoffstreifen, die niemals dem Gewicht eines Menschen standgehalten hätten.

Etwas Hellblaues war im Fenster zwischen Rahmen und Holzwand festgeklemmt. Ethan kletterte auf die Deichsel, um es erreichen zu können, und zupfte es aus dem Spalt. Doch er konnte sich nicht vorstellen, was es war: etwas … Flauschiges.

»Ich muss ein paar Anrufe machen«, erklang Glendas Stimme hinter ihm, und als er sich umwandte, war ihr Gesicht tränenüberströmt, obwohl ihre Stimme fest geklungen hatte.

»Hier ist ein Mensch gewesen«, stellte Ethan fest. »Jemand, der wusste, dass Delpha ihren Wohnwagen hier abseits stehen hatte und dass sie allein war. Jemand, der sich im Park auskennt. Könnte sogar ein anderer Guardia gewesen …«

»Nein«, widersprach Glenda. »Ein Guardia kann einem anderen keinen körperlichen Schaden zufügen. Wir sind einander verbunden. Aber es kennen sich auch andere Leute im Park aus. Woher weißt du, dass ein Mensch hier war?«

»Der Zigarrenstumpen«, erwiderte Ethan und wies darauf.

Glenda erstarrte. »Ray.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Er hat draußen gewartet. Dämonen haben Delpha getötet. Er hat … einfach gewartet.«

»Ich werde zu ihm gehen und ihm ein paar Fragen stellen«, erklärte Ethan mit wachsendem Zorn.

»Tu das nicht«, beschwor Glenda ihn und betrachtete den Zigarrenstummel voller Abscheu. »Verrate nicht, dass wir wissen, dass er etwas damit zu tun hat. Wir müssen erst herausfinden, wie er damit zu tun hat.«

»Ich kann ihn fragen«, erwiderte Ethan grimmig.

»Nein«, widersprach Glenda. »Wir müssen klug sein. Delpha …« Ihre Stimme schwankte. »… würde wollen, dass wir klug vorgehen.« Sie schüttelte den Kopf und blinzelte mehrmals. Dann ging sie langsam über den Pfad davon, Mab neben sich, die den Arm um sie legte und sie zu ihrem Wohnwagen begleitete.

Ethan ging wieder zur Wohnwagentür und blickte hinein und auf Delphas Körper, der jetzt mit einer dunkelblauen Decke bedeckt war.

Er hätte sie vergangene Nacht nicht allein lassen sollen. Er hätte bleiben sollen und die Dämonen zum Teufel jagen, und ebenso diesen elenden Wicht Ray, der geraucht hatte, während Delpha Todesqualen litt.

Nun, er konnte seine Fragen auch später stellen. Er ließ sich auf der obersten Stufe nieder, um bei Delpha zu bleiben, bis die Ambulanz kommen würde, um sie abzuholen.

Als Delpha fort war, ging Ethan auf die Suche nach Gus.

Der alte Mann nahm die schlechte Nachricht relativ gefasst auf. Er setzte sich zitternd, nachdem er es gehört hatte, aber er war ruhiger, als Ethan befürchtet hatte.

»Sie war eine tapfere Frau«, murmelte er. »Wusste, dass ihre Zeit gekommen war. Sie hat’s uns gesagt, bevor wir losgingen, um Tura einzufangen. Aber als sie danach noch lebte, dachte ich …«

»Es tut mir so leid, Gus«, erwiderte Ethan.

Gus nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis und holte dann tief Luft. »Jetzt müssen wir diese Urne zu Mab zum Reparieren bringen. Im Turm gibt’s ’ne Schablonenform dafür, und …« Tränen glitzerten in seinen Augen. »Ach. Delpha war wirklich eine tapfere Frau.«

Ethan legte dem alten Mann eine Hand auf die Schulter. »Dann lass uns die Dreckskerle kriegen, die sie umgebracht haben.«

»Genau.« Gus zwinkerte seine Tränen fort. »Lass uns gehen und diese Dreckskerle kriegen. Wieder in ihre verdammten Urnen stecken. Das machen wir.« Er erhob sich und strebte den Hauptweg entlang dem vorderen Teil des Parks zu.

Ethan folgte ihm bis zu einer der mit einem Clownkopf gekrönten Abfalltonnen, die hinter dem Karussell stand. Gus stemmte eine Schulter dagegen, und Ethan half ihm, und zusammen schoben sie den Metallbehälter von seinem Stellplatz und gaben damit eine Falltür frei.

Ethan öffnete sie, und da winkte einladend ein kleiner Stab. Gus kletterte hinunter, während Ethan die Mini-Stabtaschenlampe zwischen die Zähne nahm, hinter sich griff und die Falltür über sich schloss.

Er orientierte sich einen Augenblick und erkannte, dass sie in einem der unterirdischen Gänge waren, die unter Dreamland angelegt waren und die zu erforschen man ihm als Junge ausdrücklich verboten hatte, weswegen er sie zum größten Teil kannte. Gus verschwand in Richtung Parkmitte in einem abwärtsführenden Gang, der, da war Ethan sich ziemlich sicher, unter den Turmsee und dann nach oben zu einer alten Holztür führte, die in der Mitte einen großen eisernen Griff und ein seltsam geformtes Schlüsselloch darüber hatte. Als sie die Tür erreicht hatten, zog Gus einen großen Ring mit Schlüsseln daran hervor. Er fummelte suchend herum, bis er zu einem kunstvoll mit Ornamenten geschmiedeten Eisenschlüssel kam, den er in das Loch steckte und drehte.

Es quietschte, Gus stolperte, als die Tür plötzlich nachgab, und Ethan fühlte einen kalten, trockenen Lufthauch. Er folgte Gus durch die Tür und hielt die Rechte griffbereit über der Pistole, die in seinem Hüfthalfter steckte.

»Hier ist irgendwo ein Schalter«, murmelte Gus und leuchtete mit seiner Taschenlampe umher.

Ethan schauderte, als der schwankende Lichtstrahl über rostenden, verrottenden Schrott des alten Vergnügungsparks strich, alles übereinandergetürmt in dem riesigen, kreisrunden Steinkeller des Turms. Er war seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr hier gewesen. Ausgeblichene Schilder, zerbrochene Figuren, verrostete Rohre: Glenda warf nie etwas fort. Ethan ließ die Tür hinter sich offen stehen, da er fürchtete, sie würden sie sonst nicht mehr öffnen können.

Gus pflügte durch einen Haufen alten Krimskrams, um die Wand gegenüber zu erreichen, wo eine enge Steintreppe sich zu einer Holztür ein Stockwerk höher emporschraubte. Am Fuß der Treppe angekommen drehte er einen Schalter, und eine Reihe nackter Glühbirnen, die ringsum an den Wänden installiert waren, flackerten auf.

Ethan suchte sich durch den Müll einen Weg bis zur Treppe und stieg hinauf. Die Tür an ihrem oberen Ende war verschlossen.

»Gus, hast du den Schlüssel für diese Tür?«, rief Ethan hinunter. »Falls das Zeug da drinnen ist, hole ich es.«

»Ja, die Urnenform ist da oben. Und die Waffen. Warte ’ne Minute.«

Er begann langsam, die Treppe zu erklimmen, und Ethan beobachtete ihn nervös. Kein Wunder, dass Glenda nicht wollte, dass er allein hierherkam. Gus holte einen weiteren eisernen Schlüssel hervor, öffnete die Tür und trat hindurch.

Ethan wollte ihm folgen, hielt aber inne, als er von unten etwas hörte. Er wandte sich auf dem Treppenabsatz um und kniete nieder, zog seine Waffe und richtete sie auf die offen stehende Tür. Die Tür hinter ihm schloss sich mit einem Klicken und trennte ihn von Gus.

Unten schlich der Mann-in-Schwarz durch die Tür, in den Händen ein langes, seltsames Gewehr mit einem großen, runden Trommelmagazin. Er trug um den Oberkörper einen schwarzen Körperschild, außerdem eine Kampfbrille und eine Maske über dem Mund. Er blickte sich in dem Raum um und blieb direkt unter Ethan stehen.

Keine Dämonen, sondern etwas Wirkliches, gegen das er kämpfen konnte.

Jetzt hab ich dich, dachte Ethan und sprang aus der Hocke hoch.

Als die Ambulanz mit Delpha davongefahren war, sagte Glenda: »Ich muss mit Ihnen reden«, und führte Mab an Old Freds und Hanks leeren Wohnwagen vorbei den Pfad hinunter bis in Delphas Wohnwagen.

Mab hatte bisher nur zweimal einen echten Airstream-Wohnwagen von innen gesehen: Glendas mit dunkelgrünem und gelbem Bast ausgekleideten und Gus’ mit Holzverkleidung getarnten Wagen. Delpha aber hatte dem Leben in einem Wohnwagen eine ganz neue Dimension verliehen: Die Wände waren blau gestrichen, mit winzigen goldenen Sternen darin, die Couch war mit purpurfarbenem Samt bezogen und verschwenderisch mit bestickten Samtkissen bestückt, die Tischplatte bestand aus einer mächtigen Malachitplatte mit einem Sprung darin, und zur Krönung des Ganzen waren unter der Decke über dem Wohnbereich Zweige miteinander verflochten, für Frankie natürlich, der jetzt da oben hockte, in einem Nest über dem Durchgang zur Küche, den Delpha mit einem dunkelblauen Perlenvorhang verhängt hatte. Das Ganze wirkte wie ein Serail mit Vogelhaus.

Sie musste sehr gern hier gewohnt haben, dachte Mab und strich mit den Fingern über die Malachitplatte. Selbst mit dem Sprung musste der Tisch noch Tausende wert sein, er war wundervoll gearbeitet und sehr alt, nun ja, auch Delpha war sehr alt gewesen. Vielleicht hatte sie ihn in den Vierzigern in irgendeinem Trödelladen billig erstanden, weil er gesprungen war. Vielleicht …

Ich hätte öfter mit ihr sprechen sollen, dachte Mab mit echtem Bedauern. Sie wusste so viel, und ich habe sie einfach ignoriert.

Natürlich, sie ignorierte jedermann. Sie hatte es nicht mit Menschen, sie lebte für ihre Arbeit. Plötzlich sah sie Sinn in dem, was Joe zu ihr gesagt hatte. Lebe den Augenblick, sei glücklich, lass dich auf andere ein

»Nehmen Sie Platz, Mab«, bat Glenda und ließ sich auf der samtbezogenen Couch nieder. Mab setzte sich ihr gegenüber auf einen wunderschön geschnitzten Ebenholzstuhl mit breiter Sitzfläche, entschlossen, diesmal zuzuhören – ja, sich auf jemanden einzulassen, verdammt.

»Es tut mir so leid um Delpha«, sagte sie und beugte sich ein wenig über den schönen Tisch vor. »Ich weiß, dass Sie sich sehr nahestanden. Sie war eine bemerkenswerte Frau …«

»Danke. Ja«, erwiderte Glenda mit rotgeweinten Augen, jedoch ruhig. »Sie hat Ihnen alles hinterlassen.«

Mab blinzelte sie verständnislos an.

»Sie hat ein Testament geschrieben, damit haben wir es schriftlich, falls jemand Ärger machen will, aber das ist nicht zu erwarten.«

Sie hat Ihnen alles hinterlassen. Den Ebenholzstuhl, den Malachittisch, den Airstream-Wohnwagen, ein Zuhause

»Sie hat es mir gestern Abend gesagt, bevor wir losgingen, um Tura wieder einzufangen«, fuhr Glenda fort. »Sie sagte, dass sie wollte, dass Sie alles bekommen, also übergebe ich es Ihnen hiermit.«

»Nein, nein«, wehrte Mab ab, die das alles gern gehabt hätte und gleichzeitig wusste, dass es nicht ihres war, dass alles, was sie besaß, in zwei Koffer passte, und das war gut so, keine Bindungen … »Es sollte alles an Sie gehen«, sagte sie. »Ich habe Delpha ja nicht einmal gekannt. Sie war Ihre beste Freundin.«

»Ich habe alles, was ich brauche. Sie wusste …«

»Glenda, allein dieser Tisch ist Tausende von Dollar wert …«

»… dass Sie berufen würden, ihre Nachfolgerin zu sein.«

Wieder blinzelte Mab verständnislos. »Äh …«

»Sie hatte das alles vorbereitet«, erklärte Glenda. »Sie hat den Wohnwagen aufgeräumt. Die Mülltonnen sind voll, und da auf ihrem Bett steht eine Schachtel mit dem Etikett: ›Mein letzter Wille‹.« Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, aber dann nahm sie sich wieder zusammen. »Sie wusste es. Sie war eine Seherin. Und sie sagte, Sie seien die nächste Seherin.«

Mab wich in dem Stuhl so weit zurück, wie sie konnte. Den Wohnwagen übernehmen, für immer im Park bleiben, von Menschen umgeben … »Ich kann nicht.«

»Sie müssen.« Nun war Glenda diejenige, die sich vorbeugte. »Wir haben sonst niemanden. Sie hat Ihnen alles hinterlassen, was Sie brauchen, um an ihrer Stelle weiterzumachen. Diesen Wohnwagen mit allem, was darin ist, wie zum Beispiel dieser Malachittisch. Malachit wehrt das Böse ab, wissen Sie.« Traurig blickte sie die Platte an, fuhr mit der Fingerspitze über den Sprung in der Oberfläche. »Dieser Sprung ist neu. Zu viel Böses vergangene Nacht, das abgewehrt werden musste.«

»Vielleicht haben Sie sie nicht richtig verstanden. Delpha hat die Dinge ja oft nicht ganz klar ausgedrückt.«

»Das ist der Fluch des Orakels«, erwiderte Glenda. »Sie empfangen undeutliche Botschaften. Wie zum Beispiel: ›Es wird ein großer Sieg sein‹.«

»Was?«, fragte Mab.

»Dieser berühmte General, der einst das Orakel befragte, wer die Schlacht gewinnen würde, die er schlagen musste, und das Orakel antwortete: ›Es wird ein großer Sieg sein‹, und …«

»Und der General dachte, dass er selbst gemeint wäre, und zog in die Schlacht und bekam fürchterliche Prügel.«

»Sie kennen die Geschichte.«

»Nein, aber das klingt nach etwas, was einer vom Militär tun würde«, meinte Mab und erinnerte sich, dass Ethan Glendas Sohn war. »War nicht böse gemeint.«

Glenda schüttelte den Kopf. »Abgesehen von dem Wohnwagen bekommen Sie Delphas Orakelbude, einen Anteil von zehn Prozent am Park und Frankie.«

Mab blickte zu dem Raben hinauf, der über dem Durchgang zur Küche hockte.

Frankie erwiderte ihren Blick.

»Das glaube ich nicht«, stellte Mab fest.

»Sie brauchen Frankie«, erklärte Glenda. »Sobald Ihre Macht erst ihre volle Stärke entfaltet …«

»Macht?«, stieß Mab beunruhigt hervor.

»Nun ja, natürlich bekommen Sie auch ihre Seherkraft.« Mab blickte verwirrt drein, und Glenda fügte erläuternd hinzu: »Ihre Visionen.« Mab runzelte noch immer die Stirn, deswegen fuhr Glenda fort: »Ach, um Himmels willen, Sie haben doch die Orakelbude gestrichen. Haben Sie das Schild Wahrsagerin übersehen?«

»Nein«, erwiderte Mab. »Aber ich habe auch das Schild mit OK Corral nicht übersehen, und trotzdem weiß ich, dass das keine echten Cowboys sind. Sehen Sie, Glenda …«

»Sie hatte echte Seherkräfte, und die gehen jetzt auf Sie über. Sie sind nun das Orakel. Und« – Glenda sprach jetzt langsam und eindringlich – »Sie gehören jetzt auch zu der Guardia. Die Guardia ist …«

»Eine Handvoll Leute, die Dämonen bekämpfen«, fiel Mab ihr ins Wort. »Trotzdem kann ich nicht.«

Zum ersten Mal, seit Mab den Wohnwagen betreten hatte, war Glenda sprachlos.

»Nehmen Sie’s nicht persönlich«, fuhr Mab fort. »Es ist nur, dass ich bei so was nicht gut bin. Wie ich schon Delpha gesagt habe, bin ich kein Vereinsmeier. Ich … bin nicht gesellig. Deswegen sollte dieses Erbe an irgendjemanden gehen, der bei euch mitmachen …«

»Sie verstehen nicht«, entgegnete Glenda. »Die Guardia ist kein Club. Sie ist auf der Welt die einzige Kampftruppe gegen die schlimmsten Dämonen. Es gibt wirklich Dämonen, Mab …«

»Ich weiß, ich war gestern Abend von einem besessen.« Mab schlang schaudernd die Arme um sich, als sie sich an diesen mörderischen blaugrünen Druck um ihr Herz erinnerte.

»Tura hat Sie besetzt?«, fragte Glenda erschrocken.

»Hat versucht, mich umzubringen.« Mab schüttelte wild den Kopf. Ja, das war die Wirklichkeit: Dämonen, die versuchten, einen umzubringen, nicht übernatürliche Kräfte. »Das Miststück warf mir vor, ich würde den Kerl mit der Brille aus dem Dream Cream betrügen. Wie sie auf die Idee kam, er und ich hätten mehr als auch nur ein paar höfliche Worte gewechselt, keine Ahnung. Ich weiß nicht mal seinen Namen. Also vorwärts, Guardia, sage ich. Aber nicht mit mir.«

»Wir können nicht.« Glenda wirkte jetzt sehr erschüttert. »Wir müssen zu fünft sein, um sie zu fangen, und Sie weigern sich. Wenn Sie nicht mitmachen, gewinnen die Dämonen.«

Das weckte eine unangenehme Erinnerung an ihre Mutter, die ihr auch mit Dämonen gedroht hatte. »Wieso hört sich das an wie ein Appell des Ministeriums für Heimatschutz?«

»Weil wir das irgendwie sind.« Glenda beugte sich beschwörend vor. »Diese fünf Dämonen sind die Unberührbaren, man kann ihnen nicht durch Exorzismus oder mit einem Pflock ins Herz das Handwerk legen, deswegen bewachen wir sie …«

»Augenblick mal, fünf

»Kharos, Vanth, Selvans, Tura und Fufluns.« Glenda lächelte aufmunternd. »Sie sind in hölzernen Urnen gefangen, die in den fünf eisernen Statuen im Park eingeschlossen sind, und die Schlüssel sind gut versteckt. Wenn sie entwischen, müssen wir sie wieder in ihre Urnen zurückbringen. Sie sind jetzt unsere neue Seherin, also werden Sie sie natürlich sehen. Kharos ist ein roter Geist, Vanth ist blau, Selvans ist orange, Tura blaugrün, und Fufluns …«

Mab hob eine Hand. »Okay, warten Sie mal. Ich habe ein Problem damit, ich bin’s einfach nicht gewöhnt, an Dämonen zu glauben, obwohl ich es jetzt natürlich muss, und gleich fünf Stück, das klingt übel. Aber warum, in Gottes Namen, bewahren Sie sie alle am gleichen Ort auf?«

Glenda öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder.

»Warum haben Sie nicht jeder einen genommen und einzeln in verschiedenen Ozeanen versenkt? Welcher Idiot hat es für eine gute Idee gehalten, sie alle zusammen hierherzubringen und in Parkstatuen einzuschließen, Herrgott noch mal: Und dann die Schlüssel in Achterbahnen zu verstecken? War das ein Verrückter?«

»Möglicherweise«, stimmte Glenda betroffen zu. »Das war vor meiner Zeit. Sie müssen zusammen aufbewahrt werden, weil die Guardia zusammen sein müssen, um sie zu bewachen und wieder einzufangen, wenn sie entkommen. Und das muss hier sein, weil an diesem Ort unsere Kräfte am stärksten sind. Und …«

»Und Sie haben das nie infrage gestellt? Immer akzeptiert, dass Sie hier im Park genauso in der Falle sitzen wie die Dämonen?«

»Wir sitzen nicht in der Falle. So was sagt nur Young Fred. Ihr versteht das beide nicht. Es ist eine Berufung

»Ich folge der Berufung nicht«, erklärte Mab. »Ich habe den Park restauriert, jetzt gibt’s hier nichts mehr für mich zu tun. Ich bin nicht der Mensch, der jemanden jagt. Wenn ihr einen Dämon angestrichen haben wollt, bin ich die Richtige, aber auf die Jagd nach ihnen zu gehen, ich? Sehe ich aus wie eine, die sich mit irgendjemandem schlägt? Wissen Sie, ich will einfach normal sein. Oder zumindest in der Lage, so zu tun, als wäre ich normal …«

»Sie müssen der Berufung folgen.« Glenda wirkte leicht erschöpft. »Sie haben keine Wahl …«

»Ich habe immer eine Wahl.« Mab erhob sich. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Delpha mir das alles hinterlassen wollte« – sie blickte sich um – »vor allem dieser wunderschöne Airstream-Wohnwagen, der lässt mein Herz wirklich höher schlagen. Und es tut mir ehrlich leid, dass ich nicht mehr Zeit mit ihr verbracht habe, mich mehr mit ihr unterhalten habe. Sie war eine faszinierende Frau. Aber ich kann ihr Erbe nicht annehmen. Ich bin keine Seherin. Ich bin ein normaler Mensch

»Aber, Mab«

»Nein«, wehrte Mab ab. »Vielen Dank, aber … nein.«

Sie verließ den Wohnwagen und versuchte, sich zu beruhigen, aber als sie auf dem Hauptweg war, fühlte sie, dass sie zitterte. Sie würde sich von niemandem mehr in einen seltsamen, grauenerregenden Zustand versetzen lassen, und niemand würde sie hier mit Dämonengeschwätz in die Falle locken. Ja, es gab tatsächlich Dämonen. Aber sie hatte nichts damit zu tun …

Sie vernahm ein Krächzen, das rau wie ein Reibeisen klang, und als sie aufblickte, sah sie Frankie über sich fliegen.

Sie blieb stehen und schaute zu ihm auf. »Ja, ja. Nimm’s bitte nicht persönlich, aber …«

Er kurvte hinunter und landete auf ihrer Schulter, wobei er die Krallen in den Leinenstoff ihres Malerkittels grub, gerade tief genug, um Halt zu finden, ohne ihr wehzutun, und sie blickte plötzlich in dunkle, glänzende, kluge, gefährlich blitzende Augen. Für einen langen Augenblick starrten sie sich an, und sie hätte schwören können, dass er sie abschätzend betrachtete.

»Ich glaube nicht …«, begann sie, da drückte er seinen Kopf an ihre Wange, sein Gefieder weicher als Daunen, und sie schloss die Augen, hörte auf zu zittern und dachte: Du bist mein. Und sie vernahm ein Echo: Du bist mein.

Sie wollte keinen Vogel, aber dieser Vogel war der ihre.

»Na gut, also ich nehme dich, aber alles andere nicht«, erklärte sie ihm und marschierte dann mit Frankie auf ihrer Schulter weiter zum Wahrsager-Automaten, wobei sie sich fragte, was aus ihrem Leben geworden war und wie, zum Teufel, man einen Raben ernährte.

Der Mann-in-Schwarz versuchte, das Gewehr zu heben, doch es war zu spät; Ethan landete auf seinem Rücken, und sie stürzten zu Boden. Ethan legte einen Unterarm unter das Mundstück der Maske und stieß dem Kerl sein Knie hart in die Rippen, wobei er das Gewehr außer Reichweite schob. Dann zog er sein eigenes Schießeisen und stieß die Mündung gegen das rechte Ohr des schwarzen Mannes.

Das war ein Fehler. Der Mann-in-Schwarz rollte sich herum, stieß zugleich mit einem Unterarm das Schießeisen beiseite und traf Ethan mit der anderen Hand schmerzhaft mitten auf die Brust. Ethan stöhnte, als die Kugel ihn wieder stach, bewegte sich aber mit dem Schlag mit, rollte ab und kam auf die Füße. Er blockte einen Sprungtritt gegen seine Leiste, gefolgt von einem Faustschlag, ab und wich zurück, bis er gegen eine alte Holzfigur stieß. Er täuschte einen Boxhieb gegen den Kopf des Gegners an und schlug gegen dessen Hals. Er traf daneben, denn der Mann-in-Schwarz wich zurück, wobei er einen kurzen Stab aus der Tasche riss und auf die Unterseite drückte. Das Ding verlängerte sich teleskopartig zu einem fast einen Meter langen Schlagstock.

Ethan hielt inne. »Können wir reden?«

Der Kerl stieß mit dem Stock gegen sein Gesicht, und Ethan zuckte zurück.

»So kämpft man nicht mit einem Schlagstock«, begann Ethan erneut. »Ich werde dir zeigen, wie man ihn einsetzt, wenn du …«

Wieder stieß der Mann-in-Schwarz gegen sein Gesicht, und Ethan duckte sich, rollte sich zur Seite, zog dabei seine Pistole und kam mit der Pistole im Anschlag auf die Füße. »Lass ihn fallen.«

Der Mann-in-Schwarz zögerte und ließ ihn dann klappernd zu Boden fallen.

»Danke. Jetzt nimm die Brille und die Maske ab.«

Der Mann-in-Schwarz tat einen Schritt vorwärts. »Sie werden nicht auf mich schießen.« Es war nicht mehr als ein Flüstern.

Ethan zuckte die Schultern. »Vielleicht doch. Ich bin sehr schlecht gelaunt. Alle boxen mich dauernd auf die Brust.«

»Nein, Sie tun’s nicht.« Der Mann-in-Schwarz trat noch einen Schritt näher. »So einer sind Sie nicht.«

»Aber sicher doch.« Ethan schoss. Die Kugel grub sich in den Körperschutzschild, und der Mann-in-Schwarz stürzte mit einem überraschten Aufschrei rücklings zu Boden.

Ethan war sofort bei ihm, setzte ein Knie auf ihn, genau dort, wo die Kugel steckte, und riss die schwarze Brille ab.

Er starrte in die leuchtend grünen Augen von Weaver.

»Ach, Mist«, stieß Ethan hervor.

Als sie den Wahrsager-Automaten erreichte, flog Frankie auf und setzte sich auf das spitz zulaufende Dach, und Mab spähte durch die staubige Fensterscheibe hinein, um zu sehen, ob darin ein Dämon frei herumhüpfte. Sie würde nicht der Guardia beitreten, sie würde nicht den Rest ihres Lebens einem Haufen verrückter Leute und Dämonen widmen, aber das hieß nicht, dass sie nicht vorsichtig sein musste. Sie konnte vor Schmutz nicht wirklich etwas erkennen, gab es auf und ging um den Kasten herum zur Rückseite. Sie überlegte, was Joe ihr über das Öffnen gesagt hatte. Irgendetwas drücken und anheben …

Sie legte die Hand auf den Riegel und dachte: Natürlich, so geht es. Sie drückte den Riegel nach innen und hob ihn gleichzeitig an, als könnte sie ihm ansehen, wie er funktionierte.

Die Klappe öffnete sich quietschend, die Angeln waren noch locker.

Im Inneren lag dicker Staub wie eine graue Decke auf allem. Die Rückseite der kleinen Vanth-Statue wirkte platt, und Mab erkannte unter dem Staub eine Art Schal oder Kopftuch, das ihr vom Kopf herabhing. Sie tastete und fühlte zwei Klammern, die oben an der Statue befestigt waren. Als sie sie öffnete, fiel der Schal herab, und Mab griff gerade noch rechtzeitig zu und schüttelte ihn aus.

Er war himmelblau, madonnenblau, und aus einem so feinen, glatten Gewebe, dass der Staub sich sofort ablöste. Nochmals schüttelte Mab ihn aus, bewunderte eine Weile, wie schön er war, legte ihn dann sorgsam zusammen und steckte ihn in ihre Arbeitstasche.

»Also dann.« Sie legte die Hände um die Hüfte der Vanth-Statue und zog daran, um das Gewicht abzuschätzen, da rollte sie aus dem Kasten und hätte Mab fast zu Boden gestoßen – gerade konnte sie sie noch stoppen. Sie holte ein sauberes, weiches Tuch aus ihrer Tasche und begann, den Staub vom Rücken der Statue zu wischen, wobei sie eine wunderschöne Lackierung freilegte, die vor Sonne und Wetter geschützt in dem besonderen Blau dieser Statue erstrahlte. Mab arbeitete sich bis zur Vorderseite vor, wo sie schließlich den Staub sanft aus dem zart gemalten Gesicht wischte. Als sie fertig war, trat sie ein wenig zurück, um zu betrachten, was sie da vor sich hatte.

Vanth war von heiterer Schönheit, mit dickem kastanienbraunem Haar und großen himmelblauen Augen. Sie hatte die Arme erhoben, die Hände schienen nach etwas zu greifen, und in ihrer Rundlichkeit wirkte sie fast mütterlich. Während Mab sie noch betrachtete, begann die Statue plötzlich, auf sie zuzurollen.

»Holla«, sagte Mab und packte mit beiden Händen Vanths Arme. »Immer langsam mit den …« Ihre Stimme erstarb, als sie in diese gemalten blauen Augen blickte. Da war etwas hinter ihnen.

»Vanth?«, stieß sie hervor. »Du bist da drinnen, nicht? Hier halten sie dich gefangen. In deiner … Urne … Zelle Dingsbums.« Sie wartete, aber es geschah nichts, außer einer wachsenden Überzeugung in ihr, dass sie recht hatte und dass Vanth besser wieder in ihre Kiste zurückkehren sollte. Möglichst bald.

»Warte hier«, sagte sie zu der Statue. »Ich muss deine Bude erst sauber machen. So ein Schweinestall.«

Sie wartete einen Augenblick und trat dann zurück, und die Statue blieb stehen.

»Gut. Gib mir eine halbe Stunde, um die Kiste zu putzen. Geh ja nicht weg

Sie nahm ihr Reinigungsmittel und noch ein paar Lappen zur Hand und kroch halb in den Kasten hinein, wo sie einen raschen, aber gründlichen Hausputz vornahm. Keine der Anstrichfarben musste ausgebessert werden, da sie alle gut geschützt und gut erhalten waren.

Tja, wenn nun Vanth da in ihrer Statue saß, konnte sie daraus entweichen? Fufluns hatte seine Statue genommen und war davongerannt, als sie den Schlüssel betätigte, also konnte Vanth das sicherlich auch. Nein, Moment mal, Vanth konnte nicht heraus, da ihre Statue nicht aufgeschlossen worden war. Auch Fufluns war erst ausgebrochen, als sie die Panflöte in die Clownhand gesteckt hatte. Solange sie also nichts irgendwo hineinsteckte … Sie hatte die Fensterscheibe geputzt und wischte nun das Mechanikgehäuse und die Glaskugel, die darauf geklebt war, sauber. Dann kroch sie rückwärts aus dem Kasten und wandte sich zu der Vanth-Statue um. »So. Jetzt ist es wieder schön für dich.«

Vanth stand reglos da.

Tja, gut, das bedeutete, dass sie noch immer darin eingeschlossen war.

Mab schob die Statue in den Kasten zurück und fühlte, wie sie in Rillen im Boden rollte, die ihr Halt gaben. Sie holte den blauen Schal aus ihrer Tasche, klammerte ihn wieder an Vanths Kopf fest und drapierte ihn dann um ihre Schultern und Arme. Sie schloss die Klappe und verriegelte sie und ging dann um den Kasten herum zur Vorderseite, erneut all diese Schönheit bewundernd: die zarte, kleine Statue, die kunstvoll gestalteten Seiten, die sie bald neu anstreichen würde, das geschwungene Dach mit dem Raben auf der Spitze …

»Was hältst du davon, Frankie?«, rief sie hinauf.

Er trippelte von einem Fuß auf den anderen, nicht gerade glücklich, aber er flog auch nicht davon.

»Ganz deiner Meinung. Keine Panik, aber vorsichtig sein.« Sie trat näher an den Kasten heran und blickte hinein. »Du bist da drin, Vanth, nicht wahr?«

Die Mechanik knirschte, und eine Karte landete in dem Auffangschälchen.

Mab griff danach.

HALLO, MAB.