Kapitel 12

»Also, was ist so wichtig, dass ich mitten in der Nacht noch mal herkommen muss?«, fragte Glenda, als sie bei der Drachenbahn zu ihnen stieß, und Ethan deutete zum Kopf des Drachen empor, der über dem aufgerissenen Maul zum ersten Mal zwei glitzernde Augen hatte.

»Jemand hat das Auge eingesetzt«, stellte er fest. »Gus sagt, es sei der Schlüssel zu der orangefarbenen Ringerstatue.«

»Ja, das ist Selvans’ Schlüssel.« Glenda ging zur Rückseite des massiven rostfarbenen Ringers und warf einen Blick durch die offen stehende Klappe ins Innere. »Wo ist die Urne?«

»Gus hat sie, und der Dämon ist nicht mehr drin. Gus ist gegangen, um Young Fred herzuholen. Aber wie sollen wir das hinkriegen ohne Seherin?«

Glenda rieb sich die Stirn. »Na gut, es geht um Selvans. Er ist nicht gerade der Hellste, und er bewegt sich langsam, aber er ist sehr stark. Wenn Young Fred ihn erschrecken kann, dann kannst du ihn dir vielleicht schnappen, ohne dass eine Seherin ihn stoppen muss. Aber du musst dich beeilen …«

Sie sprach noch weiter, aber Ethan hörte nicht mehr zu.

Hinter der Drachenbahn bewegte sich etwas und kam langsam hervor.

»Mom«, stieß Ethan warnend hervor und entspannte sich dann. »Ach, nichts. Es ist nur Carl Whack-a-Mole

Glenda fuhr herum. »Nein, nicht so spät noch, kann er nicht sein.«

Carl schwankte langsam auf sie zu, den riesigen Hammer des »Teste-deine-Kraft«-Kastens in der Hand.

»Ach, verdammter Mist«, entfuhr es Ethan, und er trat schützend vor seine Mutter. Er bemühte sich, rasch zu denken, aber dann erkannte er, dass er Zeit hatte: Carl bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer Schnecke.

»Capio ihn einfach, wenn Young Fred ihn erschreckt und er nicht auf der Hut ist«, empfahl Glenda, während Carl langsam heranschwankte.

»Klar.« Er war absolut bereit, Selvans in sich hineinzuzwingen, nur wusste er nicht, wie er ihn aus Carl herauslocken sollte, da Young Fred noch nicht da war. »Äh, buuh«, machte er, als Carl noch näher kam.

Carl schwang daraufhin den riesigen Hammer mit unglaublicher Kraft, und der massive Hammerkopf zischte knapp an Ethans Kopf vorbei.

»Ich dachte, er wäre langsam?«, rief Ethan und stieß Glenda beiseite, als er rasch rückwärts auswich.

»Oh, momentum«, rief Glenda, während Carl wie in Zeitlupe in einem Halbkreis dem Schwung des Hammers folgte.

Ethan zog seine Pistole.

»Du darfst Carl nicht erschießen!«, stieß Glenda erschrocken hervor.

Ethan schob das Schießeisen ins Halfter zurück und überlegte, während sie weiter zurückwichen.

Sie waren jetzt neben der Steuerkabine der Drachenbahn. Carl schwang wieder den Hammer, und Ethan wich ihm geduckt aus, sodass der Hammer in die Wand der Kabine krachte. Holzsplitter flogen umher.

»Hey, Carl!«, schrie Young Fred ein Stück hinter Ethan, und Carl schwenkte den Kopf herum, als sei er ihm zu schwer. Als Young Fred ihn erreichte, blickte er wie ein angestochener Bulle zu ihm auf.

Young Fred verwandelte sich in einen mächtigen, drei Meter hohen Teddybären – mit Raubtiergebiss.

Carl schrie auf und zuckte zurück, woraufhin Young Fred schrie: »Frustro!« Da brach ein riesiger orangeroter Dämon aus Carl hervor, der bewusstlos zusammenbrach.

Der Dämon wandte sich wie in Zeitlupe zur Flucht, aber Ethan rief: »Capio!« und griff nach ihm, sog ihn in sich hinein …

Es war, als würde er von orangerotem Schlamm erfüllt. Die Welt wurde zu einem schlickfarbenen, in Zeitlupe ablaufenden Film. Ethan fühlte ein schweres Gewicht auf seinem Herzen lasten und hörte die Stimme seiner Mutter in gedrosselter Geschwindigkeit: »Re…diiiiii…mmmiiiiii…oooohhhh…«

Im nächsten Augenblick wurde Selvans aus ihm heraus und in die Urne gezogen, und die Welt kehrte wieder zur Normalgeschwindigkeit zurück, während Gus den Urnendeckel mit einem Knall schloss und sprach: »Servo!«

»Was, zum Teufel, war denn das?«, ächzte Ethan, der sich an der zersplitterten Wand der Kabine festhielt, um wieder auf die Füße zu kommen.

»Selvans«, antwortete Glenda, »Kharos’ rechte Hand.«

»Kharos’ Kettenhund«, verbesserte Gus und bedachte die Urne mit einem wütenden Blick.

»Wer ihn da wohl herausgelassen hat?«, gab Glenda ruhig zu bedenken, als wäre es ein ganz alltägliches Problem. »Mab war es nicht, sie weiß inzwischen Bescheid.«

»Selvans selbst war es auch nicht«, meinte Ethan. »Wir sind vorhin von besessenen Teddybären überfallen worden. Mehrere Dutzend Teddybären.«

»Wir?«, fragte Glenda.

»Gus und ich«, antwortete Ethan, der keine Lust hatte, mit seiner Mutter über Weaver zu diskutieren.

Gus ließ sich nicht vom eigentlichen Problem ablenken. »Es gibt nur fünf Unberührbare, und die würden keine Teddybären besetzen, da sind sie zu stolz dazu. Die gehen nur in Menschen. Sogar Selvans würde sich keinen Teddybären aussuchen.« Er hielt inne, als sei ihm ein Gedanke gekommen.

»Was ist?«, drängte Ethan.

»Warte mal«, mischte Glenda sich ein. »Ihr wurdet von besessenen Teddybären überfallen?«

Ethan winkte nur ab und sah Gus eindringlich an.

»Na ja, die Unberührbaren würden nicht in Teddybären gehen«, wiederholte Gus. »Aber diese Minion-Dämonen, also die sind wie Viecher, die stürzen sich auf alles. Gemeine kleine Biester. Tückisch und gemein. Man erkennt immer, wenn die jemanden besetzen. Menschen, die von denen besessen sind, benehmen sich wie bösartige Besoffene. Deswegen besetzen sie lieber kleine Sachen und kommen immer in Horden.«

»Minion-Dämonen.« Ethan holte tief Luft. »Also gibt’s hier im Park mehr als eine Sorte Dämonen?«

»Minions«, stieß Glenda grimmig hervor. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«

»Die sollten gar nicht hier sein«, meinte Gus. »Der Eisenzaum außen herum soll sie eigentlich draußen halten. Sieht aus wie ’n einfacher Zaun, aber da steckt ’ne Menge Eisen drin. Hab ich 1926 extra machen lassen. Und da is’ ja noch der Fluss. Fließendes Wasser hält sie ab. Außer jemand bringt sie mit ’m Boot rüber.« Gus stand unruhig auf. »Wir müssen den Zaun überprüfen …«

»Morgen«, wehrte Ethan ab. »Wir überprüfen ihn morgen. Geh jetzt lieber in deinen Wohnwagen, und verriegele Tür und Fenster, und sieh zu, dass du etwas schlafen kannst. Morgen kümmern wir uns um das alles.«

Gus nickte und wandte sich dem Pfad zu, der hinter der Drachenbahn zu den Wohnwagen führte. »Ach, herrje«, rief er dann, hielt inne und bückte sich, um Carl Whack-a-Mole auf die Wange zu klopfen.

»So ist Delpha umgebracht worden, nicht?«, fragte Glenda leise. »Von Minion besessenen Teddybären.«

»Ich glaube, ja«, erwiderte Ethan. »Am Fensterrahmen war ein blauer Fellfetzen eingeklemmt.«

»Das ist alles Teil eines Planes.« Glenda stieß ein Schnauben aus. »Kharos hat einen Plan, und irgendjemand hilft ihm, ihn auszuführen.«

»Ray«, vermutete Ethan.

»Was ist passiert?«, fragte Carl Whack-a-Mole und versuchte, sich aufzusetzen.

»Ich kümmere mich um ihn«, wandte Glenda sich an Ethan. »Kontrolliere du schnell den Park vom Hauptweg aus. Sieh nach, ob euch auch keiner von den Minions entgangen ist.«

»Richtig«, erwiderte Ethan. »Teddybär-Kontrolle.«

Er ließ Glenda und Gus bei Carl zurück und ging eine letzte Patrouille um den Park. Keine Bären. Schließlich ließ er sich in der hellen Außenbeleuchtung des geschlossenen Dream Cream nieder und nahm das D-Gewehr auseinander. Er setzte es wieder zusammen, wiederholte den Vorgang mehrmals und bewunderte Weavers Entwurf. Als er die Uhr im Dream Cream zweimal schlagen hörte, ging er noch einmal zu den Wohnwagen, um nachzusehen, ob Gus und Glenda sicher eingeschlossen waren, dann zog er sich zu seinem Schlafsack hinter dem Teufelsflug zurück. Er lag allein in der Dunkelheit, fühlte einen Stein, der sich ihm in den Rücken bohrte, und starrte durch die kahlen Äste der Bäume hinauf zu den fünf roten Warnlampen, die an der Spitze des Teufelsflugs blinkten. Seine Gedanken kreisten um sein neues Leben oder vielmehr um das Leben, das ihm geblieben war. Nun ja, das Damoklesschwert schwebte über ihm, aber heute Abend hatte er sich zum ersten Mal wieder lebendig gefühlt, hatte bösartige Teddybären zurückgeschlagen und einen orangefarbenen Dämon überwältigt. Er verspürte nicht einmal das Bedürfnis nach einem Drink. Eigentlich wollte er …

Zwischen den Bäumen bewegte sich etwas. Er setzte sich auf und packte das D-Gewehr, bereit, dem nächsten angreifenden Teddybären den Arsch aufzureißen.

Da kam Weaver durch ein Gebüsch und trat auf die Lichtung. »Warum schlafen Sie im Wald?«

»Das beruhigt«, erwiderte Ethan und ließ das Gewehr sinken.

»Sie sind ein seltsamer Mensch.« Sie kam näher. »Danke, dass Sie mich nicht erschossen haben. Schon wieder.«

Sie aktivierte eine chemische Leuchtfackel und hängte sie an einen Zweig, dann streifte sie ihre Nachtsichtbrille ab und schüttelte sich in dem schwachen Licht das Haar aus. Aus einer Tasche ihrer Weste zog sie eine kleine schwarze Schachtel. »Ich habe meinen Bericht abgegeben. Ursula war nicht gerade begeistert, dass Sie eines der D-Gewehre haben. Heute Nachmittag war anscheinend die monatliche Inventur. Pech.« Sie öffnete die Schachtel, und eine Nadel glitzerte in dem Licht der Fackel. »Ich werde etwas Blut von Ihnen brauchen, um sie zu besänftigen.«

Ethan seufzte. »Und ich dachte, Sie wären wegen mir gekommen.«

»Bin ich ja. Ich bin wegen Ihnen gekommen, um Ihnen Blut abzunehmen und das D-Gewehr wieder mitzunehmen, damit Ursula aufhört, mich anzublaffen. Setzen Sie sich. Oder legen Sie sich, falls Ihnen beim Blutabzapfen flau wird.«

Blutabzapfen machte ihm nichts aus, aber er legte sich dennoch auf den Rücken.

»Also«, begann sie und kniete sich neben ihn, »welchen Arm?«

»Den hier«, antwortete er, streckte die Hand nach ihr aus, zog sie zu sich herab und küsste sie, und sie erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich, so wie sie alles tat, und das gefiel ihm, denn ihm gefiel alles, was sie tat.

»Was muss ich eigentlich noch tun, um endlich Blut von dir zu kriegen?«, japste sie, als sie sich endlich löste.

Er nahm ihr die Nadel ab und warf sie in die Büsche. »Wie wär’s, wenn ich dir das zeige?«, erwiderte er und rollte sich herum, und sie stieß hervor: »Autsch, ein Stein«, und lachte auf, und dann sprachen sie nichts mehr.

Gegen drei Uhr am Nachmittag ließ Ray sich neben der Teufelsstatue nieder, zündete seine Zigarre an und sagte: »Hör zu, es war ein schlimmes Wochenende, und ich will keine Klagen hören.«

DU WIRST KLAGEN, dachte Kharos. SOBALD ICH DICH ERST IN DEN FINGERN HABE

»Wir haben fast fünfzig Prozent Wirkungsgrad, gar nicht so übel. Die Minions haben gestern Nacht Delpha erledigt, allerdings hat sie ihnen einen Kampf geliefert. Ich musste mindestens zehn Minuten draußen vor dem Wohnwagen warten, bis sie endlich fertig mit ihr waren. Das war verdammt kalt, und …«

WAS IST MIT SELVANS?

»Hör mal«, brauste Ray auf. »Ich hab getan, was du mir gesagt hast. Aber Ethan war da und Glenda und auch noch Gus und Young Fred. Alle. Sie haben Selvans gekriegt.«

HABEN DIE MINIONS DEN HÜTER GETÖTET?

»Gus? Äh, nein.«

WARUM NICHT?

»Ethan hat ihn gerettet. Ethan und seine Freundin, die ein Gewehr hat, mit dem man Minions kaputtschießen kann. Und das ist der Rest der schlechten Nachrichten. Die Minion-Dämonen, die ich hergebracht habe, sind alle futsch. Ich hab keine Ahnung, wo Selvans bei dem Kampf war, wahrscheinlich hat er sich in der Drachenbahn verirrt, aber von den Minions sind jetzt nur noch zwei Dutzend purpurne Dämonenschlammpfützen übrig. Was für Zeug ist das eigentlich? Antimaterie?«

Einen Augenblick lang war Kharos in Versuchung, Ray zu befehlen, den Schlüssel in die Teufelsstatue zu stecken, damit er heraus und ihn erwürgen konnte. Aber es war noch zu früh dafür, und nun waren die Guardia alarmiert …

Immerhin, Delpha war tot. Die Guardia würden trauern. Das war gut. Und wenn man ihnen weiter zusetzte und sie jagte, wäre das noch besser.

BRING NOCH MEHR MINIONS HER.

»Hör mal, ich hab dir doch gesagt, dass ich die nicht mag, außerdem bin ich kein Dämonenchauffeur. Ich habe … hey!« Ray blickte auf das große Büschel Haar, das ihm in den Schoß gefallen war. »Du hast einen perversen Sinn für Humor.« Er fegte die Haare von seinem Schoß. »Na gut, hab schon verstanden, ich werde sie herbringen.«

SETZE SIE AUF DIE GUARDIA AN.

»Soll ich sie vor dem Gewehr warnen?«

NEIN.

»Also gut. Du willst, dass der Rest der Guardia gekillt wird. Kapiert.« Ray erhob sich.

WARTE.

Ray wartete ab.

GLENDA NICHT.

Ray hob die Augenbrauen. »Ist da was zwischen Glenda und dir? Ich muss dir nämlich sagen, dass sie sich in den vierzig Jahren, seit du zum letzten Mal draußen warst, verändert hat.«

LANGSAM VERLIERE ICH DIE GEDULD.

»Ja, ja«, erwiderte Ray. »Ich glaube, du weißt es nicht zu schätzen, was ich für dich tue. Die Risiken, die ich eingehe. Meine Stellung in dieser Stadt ist noch nicht wirklich stabil. Wenn die rausfinden, dass ich Dämonen einschmuggle, dann bringen sie mich zur Strecke, Bürgermeister hin oder her.«

WISSEN SIE, DASS DÄMONEN HIER SIND?

»Das werden sie, wenn sie mich mit einer Bootsladung Minions erwischen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich gehe eine Menge Risiken für dich ein, und bist du mir dankbar dafür? Nein.« Er schob sich die Zigarre zwischen die Zähne und marschierte über den Hauptweg davon.

DU WIRST STERBEN, dachte Kharos.

Dann dachte er daran, wie die Guardia von Horden von Minions überrannt würden, wie sich das Höllentor öffnen würde, der Hochgenuss, frische Seelen peinigen zu können … ein Buffet der Verzweiflung, jede wieder anders … und schließlich kehrte er zu seinem Plan zurück, wie er die Schlinge um die Guardia immer fester zuziehen würde.

Am nächsten Morgen kam Mab mit Frankie zum Frühstücken herunter, halb versöhnt mit Joe, der ihr das Abendessen zubereitet hatte, sie zum Lachen gebracht und später zum Höhepunkt gebracht hatte. Zumindest daran fand sie nichts auszusetzen. Sie traf Cindy in einer voll besetzten Gaststube und runzelte die Stirn. Wenn das Dream Cream an Sonntagen voller Frühstücksgäste war, war das nicht ungewöhnlich, doch an einem Montag im Oktober?

»Was ist denn hier los?«, fragte sie und ging hinter die Theke, um dabei zu helfen, Kaffee auszuschenken und Wechselgeld herauszugeben, während Frankie zur Tür hinausflatterte, um sich sein eigenes Frühstück zu besorgen.

»Ich glaube, das macht das neue Aphrodisiakum-Aroma«, meinte Cindy, die mit Tellern voller Waffeln mit pinkfarbener Eiscreme unterwegs war. »Anscheinend schlägt What-Love-Can-Do voll ein.«

»Ja, wirklich.« Mab blickte sich über die Theke hinweg um und sah, dass mit Ausnahme des Kerls mit der dicken Brille lauter Paare dasaßen und pinkfarbene Eiscreme löffelten, einschließlich Dick und Doof, wenn man sie als Paar sehen wollte. Der Dürre hielt heute Vorträge über Eisbecher.

»Weißt du, was meine Meinung is’, Quentin? Meiner Meinung nach is’ das rote Zeug hier jedem Bananensplit haushoch überlegen. Das is’ meine Meinung.« Der Brillen-Kerl saß währenddessen allein an der Theke und hatte wie üblich seine Zeitung vor sich und allen anderen den Rücken zugewandt, aber Mab bemerkte plötzlich, dass er nicht auf die Zeitung, sondern in den Spiegel hinter der Theke blickte. Er beobachtete den Raum.

»Das muss wohl am Zimt liegen«, meinte Cindy, die ihre Gäste betrachtete. »Würdest du der Lady da hinten nachschenken? Und bitte verschütte dabei etwas auf den Schoß dieses dürren Großmauls, der treibt mich zum Wahnsinn.«

Die Mittagszeit war bereits vorbei, als sich der Gastraum allmählich leerte. Mab ergriff ihre Arbeitstasche, winkte Cindy zu und machte sich auf den Weg zum Wahrsager-Automaten, um die letzten Stunden Tageslicht auszunutzen und mit dem Endanstrich zu beginnen, ein reiner Genuss für sie, denn die Farben waren herrlich, und sie sah deutlich vor sich, wohin jede Farbe gehörte.

So entwickelte sie in den nächsten Tagen einen gewissen Rhythmus. Vormittags half sie Cindy beim Servieren der What-Love-Can-Do-Eiscreme-Portionen, nachmittags strich sie den Wahrsager-Automaten und unterhielt sich dabei mit Frankie, und die Abende und Nächte verbrachte sie mit Joe beim Abendessen und im Bett. Noch nie hatte sie im Bett so viel gelacht, und je mehr sie lachte, umso glücklicher war Joe. »Du bist wirklich ein Clown«, meinte sie, und er erwiderte: »O ja«, kitzelte sie und brachte sie wieder zum Lachen. Er sprach noch immer nicht über die Dämonenjagd, aber er fragte sie interessiert nach ihrem ganzen Leben aus, ihrer Arbeit, ihren Träumen, und sie fühlte sich geschmeichelt. Und auf beunruhigende Weise durchschaut.

Am Abend zuvor hatte er sie angelächelt, eine der Champagnerflöten mit den Knochenhand-Stielen in der Hand, und gefragt: »Und nach dem Auftrag hier, wohin gehst du dann?«

»Es gibt da ein kleines Museum, für das ich Auftragsarbeiten mache«, erklärte Mab. »Die haben gerade ein Dutzend halb kaputte Karussellpferdchen geschenkt bekommen, die ich für sie instand setzen soll, wenn ich hier fertig bin. Das wird bestimmt nett. Und die Bildergalerie, die mir Bilder abkauft, will noch ein paar mehr von mir, und das finde ich …«

»Und was ist mit all den Leuten?«

»Was soll mit ihnen sein?«

»Vermisst du sie nicht, wenn du weggehst?«

»Nein«, antwortete Mab. »Ich hab’s nicht so sehr mit Menschen.«

»Wirst du Cindy nicht vermissen?«, bohrte Joe nach. »Und Glenda? Und mich

Da musste Mab an Cindy denken, wie sie sie über ihre Waffeln hinweg anlächelte, und an Glenda, wie sie ihre Zigarette weggeschnipst und Mab ermahnt hatte, einen Mantel anzuziehen, weil es kalt würde, und dann dieser Mensch mit den dicken Brillengläsern und Joe …

Wenn ich bei der Guardia mitmachen würde, könnte ich mit Frankie in Delphas Airstream-Wohnwagen wohnen, ich könnte Bilder von Dreamland malen und im Park arbeiten und jeden Tag mit Cindy frühstücken und jede Nacht mit Joe verbringen

Und sie wäre wieder eine »verrückte Brannigan«, die sich ihr Leben lang mit Dämonen herumschlug; was auch sonst bei ihrer verrückten Familie.

»Ja«, antwortete sie, »euch werde ich vermissen. Aber trotzdem gehe ich.«

Ray hingegen würde sie nicht vermissen. Er war bei ihr vorbeigekommen, um ihr sein Testament zu zeigen. »Siehst du«, begann er und schob ihr die Dokumente hin. »Du bist meine einzige Erbin.« – »Das trägt das Datum von gestern«, wandte Mab ein, und Ray blickte ärgerlich drein und betonte: »Jedenfalls bist du meine Erbin.« Dann reichte er ihr ein Blatt Papier. »Und nur um ganz sicherzugehen, solltest du auch ein Testament machen. Ich hab das von meinem Rechtsanwalt aufsetzen lassen.« Mab las. »Da steht, dass ich alles dir hinterlasse«, sagte sie dann. »Ray, ich habe nichts. Willst du zwei Koffer und einen Raben erben?« Dann fiel es ihr wieder ein: ein Zehntel von Dreamland. »Nein, das mache ich nicht«, schloss sie und versuchte, ihm die Papiere wieder zurückzugeben, aber er wehrte ab: »Nein, behalte sie, und denk darüber nach«, und marschierte davon, die Zigarre zwischen den Zähnen, nicht direkt wütend, aber fest entschlossen.

»Bei dem blicke ich überhaupt nicht durch«, sagte sie zu Frankie, stopfte die Papiere in ihre Tasche und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Dann war da Ethan und seine neue Freundin, die Kampf-Barbie, die ihn wenigstens einigermaßen aufmunterte. Er versuchte immer wieder, Mab zu überreden, zur Guardia zu gehen, genau wie Glenda es schon die ganze Woche über versuchte, aber bei ihm kam dabei ein eindeutiges Gewalttrauma zum Ausdruck, was eine nette Abwechslung war. »Wie wär’s, wenn ich meine Kraft an Weaver weitergäbe?«, meinte Mab schließlich, als sie am Donnerstagnachmittag zum Wahrsager-Automaten kamen. Im nächsten Augenblick war ihr dieser Gedanke bereits zuwider, doch Weaver erwiderte mit einem Lächeln: »Nein, danke, ich halte mich lieber an meine Ausbildung und an technische Mittel«, und so fühlte Mab sich in ihrer Abneigung bestätigt und beschloss, ihr gar nichts zu geben.

Und schließlich war da noch Vanth, die es aufgegeben hatte, Karten auszuspucken, und nun einfach auf telepathischem Wege mit ihr sprach, ihr Fragen über alles Mögliche stellte: ob sich alle Frauen so kleideten wie Mab (»Nein, ich bin ein Original«), ob Mab Kinder hatte (»Nein, und ich will auch keine«), ob Mab auch die übrigen Statuen restauriert hatte (»Ja, aber ich werde keine Schlüssel mehr hineinstecken«), und Dutzende anderer, mehr oder weniger neckischer Dinge. Vanth war eindeutig keine, die länger über etwas nachdachte, und sie schien auch kein besonderes Ziel zu haben, aber sie war freundlich und interessierte sich für vieles, und abgesehen von ihrer tagtäglichen Bitte, freigelassen zu werden, war sie eine angenehme Gesellschaft, so eine Art Muttertier, die sich immer wieder einmal zu Wort meldete, um Mab zu ermahnen, sich wärmer anzuziehen oder sich vor Fremden zu hüten.

Trotz all der Unterbrechungen hatte Mab den Wahrsager-Automaten bis Freitagvormittag, dem Tag, an dem die Journalisten erscheinen sollten, bis auf einige wenige Akzente von Silber auf den winzigen Fischchen fertig gestrichen. »Brauchst du Hilfe?«, fragte sie Cindy, als sie mit Frankie zum Frühstücken herunterkam. »Ich bin nämlich fast fertig, und die Zeitungsfritzen …«

Sie brach ab, als sie ein halbes Dutzend Fremder mit Notebooks und Handys im Gastraum erblickte.

»… sind schon da«, vollendete Cindy. »Nicht sehr viele, aber genug. Wir haben nicht viel Betrieb, weil ich What-Love-Can-Do aus der Menükarte genommen habe. Dieser Massenandrang hat mich verrückt gemacht. Setz dich, ich bring dir dein Frühstück.«

Mab wählte einen Barhocker am Ende der Theke. Auf dem vorletzten Hocker saß der Kerl mit der Cola-Flaschen-dicken Brille und las den Sportteil.

»Sie sind wohl ein absoluter Fan von Cindys Eiscreme«, sagte sie zu ihm.

Er wandte ihr den Kopf zu, die Augen scharf hinter den dicken Brillengläsern. »Sie überrascht einen immer wieder.«

»Ja, das ist wahr«, stimmte Mab zu. »Leben Sie hier in der Gegend?«

»Nein«, erwiderte er und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.

Okay, dachte sie, und im nächsten Augenblick stand Glenda neben ihr.

»Nein«, wehrte Mab ab. »Gehen Sie mir heute nicht auf die Nerven. Ich bin fast fertig mit dem Park, und ich möchte das heute genießen.«

Glenda stellte einen Pokal aus Bronze direkt vor Mab auf die Theke. Er war etwa dreißig Zentimeter hoch, mit reichen Bronzeapplikationen verziert und hatte zwei sich windende Drachen als Handgriffe und einen Phoenix, der um die glatte, runde Seite herum geformt war. »Der gehört dir.«

»Was ist das?«, fragte Mab, tief beeindruckt von der Schönheit des Stückes, gleichzeitig aber misstrauisch, da die Sache sicher einen Haken hatte.

»Das ist Delpha. Sie hat sich diese Urne schon vor langer Zeit ausgesucht.«

»Delpha.« Mab fuhr ein wenig zurück. »Delphas Asche

»Nimm sie«, bat Glenda und blickte ihr in die Augen. »Du hast ihre Seherkraft, du sollst auch ihre Asche haben.«

Mab zögerte, da nahm Glenda die Urne und steckte sie in Mabs Arbeitstasche.

Mab blickte Frankie an, der damit einverstanden schien.

»Na gut«, gab sie nach.

»Und jetzt muss ich dich um einen Gefallen bitten«, fuhr Glenda fort. »Ich muss das Orakelzelt heute Nachmittag wieder öffnen. Wir brauchen für die letzten beiden Screamland-Wochen einen Wahrsager. Nur heute und morgen und dann nächsten Freitag und Samstag. Mehr verlange ich nicht.«

Mab sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Ich kann nicht die Zukunft weissagen.«

»Das ist nicht schwierig«, erwiderte Glenda. »Die meisten Leute stellen dieselben Fragen. Über Liebe oder Beruf. Die Antworten kannst du dir leicht ausdenken.«

»Das kommt mir nicht fair vor.«

»Du wirst das besser können, als du glaubst«, meinte Glenda. »Wirst du’s tun? Für mich? Und für Delpha?« Sie blickte auf die Urne in Mabs Arbeitstasche hinab.

»Also gut«, antwortete Mab, dankbar, dass es nicht darum ging, Dämonen zu killen. Außerdem war sie Delpha etwas schuldig.

»Gut«, stellte Glenda fest, wandte sich ab und ging.

»Ich hätte sie fragen sollen, ob ich die Asche ausstreuen soll«, sagte Mab zu Frankie.

Frankie schüttelte sein Federkleid.

»Ich schätze, das heißt Nein«, vermutete Mab, da kam Cindy auf sie zu.

»Was wollte denn Glenda von dir?«

»Sie will, dass ich über’s Wochenende das Orakelzelt aufmache.« Mab blickte Cindy stirnrunzelnd an. »Weißt du, es ist wirklich schwer, ihr etwas abzuschlagen.«

»Erzähle«, forderte Cindy sie auf, aber da öffnete sich die Eingangstür, und zwei Familien mit Kindern strömten zur Theke, und so erwiderte Mab nur: »Später« und rutschte von ihrem Hocker. Sie beugte sich hinunter, um ihre Arbeitstasche zu nehmen, und hielt beim Anblick der Urne inne. Dann wuchtete sie die Arbeitstasche auf den Hocker und ließ den Blick unentschlossen auf der Urne ruhen.

Mit einem Seitenblick auf den Brillen-Kerl neben sich stellte sie fest, dass auch er die Urne betrachtete.

»Hübsche Drachen«, meinte er.

»Ach. Ja.« Mab nickte. »Aber was soll ich damit tun?«

»Haben Sie sie gern gehabt?«

»Sie?«

»Die alte Dame in der Urne.«

»Ja«, antwortete Mab und erkannte, dass es die Wahrheit war. »Ich habe sie nicht lange gekannt, aber ich mochte sie sehr.«

»Dann stellen Sie sie irgendwohin, wo es ihr gefallen würde und wo Sie sie sehen und in Erinnerung behalten können«, empfahl er und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.

»Also gut«, sagte Mab zu seinem Profil, hängte sich die Arbeitstasche über die Schulter und machte sich auf den Weg zum Wahrsager-Automaten, um die restlichen winzigen silbernen Fischchen anzumalen, bevor sie um Mittag herum das Orakelzelt öffnen musste. Und damit würde der Park vollständig restauriert sein. Fertig. Und sie wäre auch fertig. Fertig mit Dreamland.

Sie hielt inne, denn der Gedanke machte sie nicht glücklich.

Mach es einfach zu Ende, befahl sie sich selbst und verließ mit Frankie und Delpha das Dream Cream.

In den vergangenen vier Tagen hatte Ethan versucht, aus den Guardia eine echte Kampftruppe zu machen, war aber gescheitert.

Glenda hielt hartnäckig daran fest, alles so zu machen wie immer. Gus hatte Selvans’ Urne wieder in die rostrote Ringerstatue eingeschlossen, Glenda den Drachenauge-Schlüssel zur Aufbewahrung gegeben, und nun konzentrierte er sich darauf, alles für den großen Tag vorzubereiten, den nächsten Freitag, an dem Halloween begann. Er überprüfte die Golfkarren, ob sie auch tadellos funktionierten, da die Zeitungsfritzen nicht gern zu Fuß gingen, wie er betonte, und ließ die Drachen-Achterbahn jeden Abend laufen, wobei nach wie vor zweimal Rattern fehlten. Young Fred stand allem gleichgültig gegenüber, und Mab wollte nichts mit der Guardia zu tun haben, was Ethan in seinem Wunsch bestärkte, die Dämonen lieber mit natürlichen, technischen Mitteln einzufangen als mit übernatürlichen. Außerdem hatte er mit Weaver alle Hände voll zu tun, denn sie forderte von ihm tagsüber sein Wissen über Dämonen und nachts seinen Körper, nicht gerade die schlimmste Situation für ihn, wenn auch Carl Whack-a-Mole nicht glücklich über den Verlust seines Superdrachens war und von Ethan verlangte, ihm den Preis eines neuen zu bezahlen. Dabei erwähnte er mit keinem Wort, dass er von einem Dämon besessen gewesen war, was Ethan erneut zeigte, dass die Menschen sich später nicht daran erinnerten. Ethan bezahlte zähneknirschend die geforderten fünfundsiebzig Dollar, dachte aber bei sich, dass die Nächte mit Weaver es mehr als wert waren.

Schließlich fragte Carl: »Und wem hast du zwei Dutzend Teddybären geschenkt, du großzügiger Spender?«, und Ethan erwiderte zögernd: »Die waren von Minion-Dämonen besessen.« – »Ach, verdammter Mist«, schimpfte Carl. »Hast du sie alle erledigt?« – »Äh, klar«, antwortete Ethan, und Carl schlug ihm auf die Schulter und meinte: »Gut gemacht. Sag Glenda, die Guardia schuldet mir ein paar Bären.« Dann ging er wieder an seine Arbeit. Ethan hatte das Gefühl, dass er noch einiges über Dreamland lernen musste.

Zusammen mit Weaver blockierte und sicherte er den Liebestunnel: Sie schlangen Ketten um das erste Boot und brachten Bewegungsmelder an, die sämtliche Zugänge überwachten. Sollte Tura wieder ein Opfer in den Tunnel locken wollen, würde sie nicht weit kommen, und Ethan würde es sofort erfahren. Außerdem war Weaver in ihren vielen gemeinsamen Stunden in der Dunkelheit mit einigen Informationen rübergekommen, dass Ray Brannigan gesehen worden war, wie er Minion-Dämonen über das Wasser und höchstwahrscheinlich in den Park beförderte. »Und ihr habt nicht daran gedacht, ihn zu stoppen?«, fragte Ethan verärgert, und Weaver meinte: »Mein Partner glaubt nicht an das Böse. Er meint, dass alles und jeder gebessert oder zumindest genauer untersucht werden sollte, also habe ich ihm versprochen, dass ich nur beobachte und nicht einschreite, solange keine Menschenleben in Gefahr sind.« – »Das muss ja hart für dich sein, nicht auf Sicht gleich ballern zu dürfen«, spottete Ethan, aber er war ihr trotzdem dankbar für diese Information. Ein Grund mehr, Ray für immer auszuschalten, sobald sie Halloween hinter sich gebracht hatten.

Aber das war auch der einzige Lichtblick, fand Ethan, während er mit Weaver am Freitagnachmittag auf Patrouille durch die Tunnels der Bahnen ging, seine Mark-23 in der einen Hand, eine Taschenlampe in der anderen. Gus wollte das eigentlich selbst besorgen, aber Ethan hatte ihn zurückgeschickt, den Park im Freien und im sicheren Sonnenlicht zu beobachten, und hatte ihm versprochen, dass sie auch den Wachturm überprüfen würden.

»Ich hasse es, Patrouille zu gehen«, bemerkte Weaver im Konversationston, während sie sich dem Tor näherten. »Ich weiß, dass es notwendig ist, aber …«

Ethan fühlte, dass etwas vor ihnen war, ließ sich rasch auf ein Knie nieder und zog mit geübter Hand die Pistole, während die Lampe in seiner anderen Hand auf das Tor gerichtet war.

Das Tor wurde aufgestoßen, und ein Pirat aus Plastik rannte auf ihn zu, das Entermesser hoch erhoben, purpurrot glühende Augen, und Ethan feuerte zweimal. Die Kugeln schlugen genau zwischen den rotglühenden Augen ein, wo sie ein einziges schwarzes Loch hinterließen. Hübsch, dachte Ethan, aber der Pirat kam weiter direkt auf ihn zu.

Dann blendete ihn fast das Mündungsfeuer, als Weaver ihr D-Gewehr abfeuerte. Ethan blinzelte und sah den Piraten auf den Rücken fallen, das kreisrunde Geschoss in seiner Mitte eingegraben. Die Plastikteile lösten sich in einer Pfütze aus dunklem, leerem Dämonenschlamm, der sich zischend in den Steinboden fraß.

»Da sind noch mehr«, warnte Ethan und erhob sich, denn es kamen keine weiteren aus dem Turm heraus, doch er war sich seines Gefühls sicher.

Im Kellergeschoss des Wachturms bewegte sich etwas.

»In Deckung!«, schrie Ethan und riss seine Pistole hoch. Er feuerte, Weaver ebenfalls, wobei seine Kugeln den heranstürmenden Piraten bremsten und ihre ihn explodieren ließen, woraufhin mehrere Piraten hinter dem ersten kehrtmachten und die Treppe hinaufhasteten. Ethan riss das leere Magazin aus der Mark-23 und stieß ein neues hinein. »Verdammt, beschaffe mir endlich ein D-Gewehr.«

»Ja, ja, ja.« Weaver stieg über die Plastikteile und die Schlammpfützen hinweg in das Kellergeschoss des Wachturms und strebte der Treppe zu. »Ursula zählt sie jetzt jeden Tag, und du kennst ja die Bedingungen: Du informierst mich über die Dinge hier und lässt dich von meinem Partner untersuchen.«

Ethan folgte ihr die Treppe hinauf und blieb vor der Tür stehen. Von der anderen Seite war kein Laut zu hören, aber er zweifelte nicht daran, dass hinter der Tür etwas auf sie wartete. Er konnte es direkt fühlen.

Er blickte Weaver an. Er hielt drei Finger in die Höhe und deutete auf die Tür. Sie nickte.

Sie kamen durch die Tür gestürmt.

Ethan duckte sich vor dem Enterhaken, der auf ihn zuflog, und feuerte, so rasch er konnte. Die Pistolenmündung war nur wenige Zentimeter von dem Piraten entfernt. Die großen 45er-Kugeln rissen Fetzen aus dem Plastikpiraten, während der seinen Haken an Ethan vorbei auf Weaver schleuderte, und dann explodierte der Arm – und der ganze Pirat –, als sie feuerte.

Säureartiger purpurner Schlamm bespritzte Ethans kugelsichere Weste und fraß sich hinein, während Weaver unablässig feuerte und zwei weitere Piraten wegpustete, bis die übrigen über die Steinstufen an der Wand davonstoben und dabei zwitschernde Laute von sich gaben, die wahrscheinlich in Dämonensprache bedeuteten: He, das war nicht ausgemacht.

Sie schienen das Dämonengewehr nicht erwartet zu haben.

Ethan sah sich prüfend in dem großen Raum um, der einst der alte Speisesaal des Turms gewesen war und noch voller alter Restauranttische und solider Holzstühle stand, doch er konnte keine weiteren Dämonen entdecken.

»Nur drei?«, fragte Weaver enttäuscht.

»Mit den beiden im Tunnel sind es fünf«, rechnete Ethan. »Zwölf Piraten sind es auf dem Piratenschiff, also sind noch sieben da, die du wahrscheinlich jeden Augenblick abballern darfst.«

Sie lud nach.

Sie befanden sich im Erdgeschoss des Turms, auf der Höhe der Zugbrücke. Er blickte sich um und sah die massive Tür aus Holz und Eisen, die einen Gutteil der Außenwand einnahm und, wie er wusste, zum Bootsschuppen mit dem Steg führte, mit der kleineren Tür in der Mitte der Zugbrücke. Es gab keinen anderen Weg hinaus. »Die müssen alle da oben sein«, meinte Ethan und lud nach. »Bist du bereit?«

Weaver nickte.

Sie stiegen die Treppe hinauf, und Ethan blieb oben stehen und lehnte sich an die Tür, als lauschte er. Und wieder hörte er nichts und fühlte auch nichts auf der anderen Seite.

»Hier sind sie nicht«, stellte er fest. »Die müssen ganz nach oben geflohen sein. Pass aber auf alle Fälle auf.«

Sie öffneten die Tür und betraten, sich gegenseitig deckend, den Raum, aber da war nichts außer der alten Restaurantküche mit staubbedeckten Regalen. Ohne stehen zu bleiben, stieg Ethan die nächste Steintreppe hinauf zum Obergeschoss des Turms, dicht gefolgt von Weaver.

Vor der Tür stoppte er und wich ein wenig zurück.

»Sie sind hinter der Tür.«

»Woher weißt du das? Ich höre nichts.«

»Ich weiß es einfach.«

Mit einem Fußtritt stieß Ethan die Tür auf und begann sofort zu schießen, während die Minion-Piraten mit vor Wut glühenden Augen auf ihn eindrangen. Seine Kugeln warfen sie zurück, bremsten ihre Attacke, während Weaver mit dem Dämonengewehr so rasch feuerte, wie sie konnte, aber es waren zu viele, und sie waren zu schnell …

Ethan bemerkte eine Bewegung von links, fuhr herum und sah den einäugigen Piraten-Käpt’n auf sich zurennen.

»Das ist ihr Anführer, knall ihn ab!«, schrie Ethan Weaver zu und hob seine Pistole erneut, aber bevor er feuern konnte, wandten sich die anderen Piraten dem Kapitän zu, stürzten sich förmlich auf ihn und zwangen ihn zu Boden, wobei sie seinen Plastikmantel zerfetzten. Weaver erledigte sie einen nach dem anderen mit Schnellfeuer, und Dämonenschlamm spritzte nach allen Seiten.

Als auch der letzte nur noch ein wüster Haufen von Plastikfetzen und zischendem Schlamm war, ließ Weaver ihr Gewehr sinken. »Verdammt, was war denn das?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Ethan. »Vielleicht haben sie was gegen Rangstufen.«

»Ich habe daran gedacht, so was mal mit Ursula zu machen«, meinte Weaver. »Aber die haben nicht mal von ihm abgelassen, um sich gegen mich zu schützen. Man sollte doch annehmen, dass sie Überlebensinstinkte haben, auch wenn sie das Böse sind.«

»Es sind Dämonen, die denken nicht.«

Ethan sah sich mit prüfenden Blicken um und ignorierte den wabernden Dämonenschlamm, der sich durch die Plastikreste fraß und den Steinboden stumpf werden ließ.

Ein fünfseitiger Holztisch mit fünf Stühlen beherrschte die Mitte des Raums. Steinstufen führten an der Rückwand des Raums nach oben zum Dach, und unter ihnen waren alte Kisten und Schachteln gestapelt. Zu seiner Rechten stand ein großer Schrank und daneben ein Waffengestell voller Lanzen, Speere, Spieße, Schwerter und Streitäxte.

Weaver nahm ein Schwert in die Hand. »Hübsch.«

»Eisen. Also wegen der Waffen sind sie nicht hierhergekommen.« Ethan blickte sich wieder im Raum um. »Haben die auf uns gewartet?«

Weaver ließ das Schwert durch die Luft sausen. »Gut ausbalanciert. Ich mag klassische Waffen. Willst du nicht auch eines nehmen?«

»Ich habe ein Messer«, erwiderte Ethan und eilte zur Tür. Dieser Piratenangriff war kein Zufall gewesen, die Minions hatten nicht einfach nur Dampf abgelassen. Sie waren hier im Hinterhalt gelegen, und das hatte etwas zu bedeuten. Er wusste nur nicht, was.

Aber Glenda würde es vielleicht wissen. Oder Ray, wenn er ihn an der Gurgel packte. Irgendjemand würde ihm jetzt ein paar Antworten geben müssen. Sofort.

Der Park füllte sich schon mit Besuchern, als Mab zum Orakelzelt hinübereilte. Die Journalisten hatten sich über das ganze Gelände verteilt und machten Fotos von Menschen in Halloween-Kostümen, die kreischend mit den neu gestrichenen Achterbahnen fuhren, begeistert Cindys Eiscreme aus Waffeltüten leckten, über die Parkangestellten lachten, die mit graugrünem Make-up als Untote verkleidet überall ihr Unwesen trieben. Es würde eine wunderbare Werbung für den Park werden, solange niemand versuchte, einen Dämon zu interviewen. Mab öffnete die Gleittüren von Delphas Orakelzelt und ging hinein, und Frankie auf ihrer Schulter gab glucksende Laute von sich vor Freude, wieder hier zu sein.

Er flatterte hinauf zu den Dachsparren, und Mab stellte ihre Tasche auf dem Tisch ab. Sie war darauf vorbereitet gewesen, das Zelt zuerst aufräumen und säubern zu müssen, aber Delpha hatte das offensichtlich bereits getan. Das Einzige, was sie noch vorfand, war die geschnitzte Holzkiste voller Tarotkarten und die Schachtel, die Delpha an dem Tag genommen hatte, als sie Mab die Zukunft weissagte. Mab nahm ihre Tasche, ging zur anderen Seite des Tisches – Delphas Seite, dachte sie – und ließ ihre Tasche zu Boden sinken, wobei Delphas Urne einen metallenen Ton von sich gab. Sie überlegte, dann fiel ihr der Rat des Brillen-Kerls im Dream Cream ein, und sie stellte die Urne auf den Tisch.

Delphas Schal lag säuberlich zusammengefaltet oben auf der Schachtel, dunkelblauer Chenille mit einzelnen silbernen Fäden und mit aufgenähten silbernen Sternchen an den Enden. Mab überlegte, schlüpfte dann aus ihrem Malerkittel – der würde bei Besuchern kein Vertrauen erwecken – und schlang stattdessen den Schal um sich.

Er war warm, wunderbar warm, wie eine Chenille-Umarmung. Sie probierte einige Methoden aus, ihn um sich zu drapieren, und entschied sich schließlich dafür, ihn sich über Kopf und Schultern zu legen und dann vor der Brust locker zu verknoten, denn so gab er ihr am meisten Wärme. Sie dachte gerade daran, zu einem heißen Tee ins Dream Cream zurückzugehen, da kam ein Pärchen durch die offene Tür herein, eine junge Blondine und ihr Freund. Sie kicherte, er verdrehte die Augen gen Himmel.

»Hallo«, begrüßte Mab sie und setzte sich. »Ich bin Mab.« Ich sehe die Zukunft. Echt.

»Draußen am Zelt steht aber ›Delpha‹«, entgegnete der junge Mann und hielt seinem Mädchen einen der Stühle hin.

Mab warf einen Blick auf die Urne, die Delpha mit Bronze-Drachen umschloss. »Ja, die ist auch hier.«

»Hör auf, Bill«, bat das Mädchen und gab ihm einen leichten, mahnenden Stoß. »Er ist Reporter«, erklärte sie Mab, »deswegen sieht er alles ein bisschen skeptisch.«

»Aha, Bill«, erwiderte Mab, ein wenig nervös. »Entspannen Sie sich. Also, wie lautet Ihre Frage?«

»Müssen wir eine Frage stellen?«, erkundigte sich Bill, während er sich setzte. »Sehen Sie nicht einfach so unsere Zukunft?«

Machen Sie’s nicht noch schwerer, als es schon ist, Bill. »Haben Sie eine Ahnung davon, wie viel Mist in Ihrer Zukunft liegt? Stunden, Tage, Monate, Jahre vollgestopft mit allem möglichen Zeug. Wie lange wollen Sie denn hier sitzen, und wie viel Geld haben Sie dabei?«

»Ich habe eine Frage«, stieß die Blondine hervor.

»Natürlich hast du das, Honey«, meinte Bill und verdrehte erneut die Augen.

Mab blickte zu Frankie hinauf und sah, dass auch er Bill für einen ausgemachten Trottel hielt. »Wissen Sie, Bill, Sie sollten wegen dieses nervösen Augenrollens mal zum Augenarzt gehen. Das wirkt so unhöflich und bevormundend.«

»Tja, tut mir leid«, erwiderte Bill, offensichtlich lügend. »Aber ich glaube nicht an dieses Zeug.«

»Na, da sind wir uns ja schon mal einig. Aber wie auch immer, Ihre Verlobte glaubt daran, und es ist einfach gemein, sie so herablassend zu behandeln, also hören Sie auf damit.«

»Jawohl«, bekräftigte Honey.

»Sie glauben auch nicht daran?« Bill lachte. »Das ist ja ein guter Witz. Ein Schlager für meinen Artikel.«

»Ich habe nicht daran geglaubt«, erwiderte Mab, »bis ich vom Zauberstab berührt wurde, und jetzt sehe ich einiges mehr. Einen Zehner, bitte.«

»Zehn Dollar?«, fragte Schätzchen, »früher hat das doch immer fünf gekostet.«

»Und Sie waren früher brünett«, entgegnete Mab. »Alles ändert sich.«

»Uii, das können Sie sehen?«

»Jeder kann das sehen«, meinte Bill. »Dein Haaransatz verrät es.« Er nickte Mab zu. »Topp.« Er zog seine Geldbörse hervor und warf einen Zehner auf den Tisch. »Das kriegen Sie, wenn ich glauben kann, dass Sie wirklich in die Zukunft sehen.«

»Es ist nicht immer nur die Zukunft«, erwiderte Mab, die sich an Delphas Aussagen über sie erinnerte. »Manchmal ist es eine tiefere Sicht der Gegenwart. Nicht besonders lustig.«

»Sie müssen noch an Ihren Sprüchen feilen«, meinte Honey. »Die verderben einem die Stimmung.«

»Sie wollen lachen? Dann gehen Sie zu einem Clown«, sagte Mab. »Was ist Ihre Frage?«

Honey strahlte Bill an. »Ich will wissen, ob wir auf immer und ewig glücklich zusammenleben.«

»Und ich will zehn Pfund abnehmen«, knurrte Mab. »Geben Sie mir Ihre Hand.«

Honey streckte ihr die Rechte hin, und Mab erinnerte sich an Delpha und sagte: »Die andere.«

Honey streckte ihr die Linke hin, und Mab nahm sie vorsichtig, unsicher, was oder ob sie etwas sehen würde …

Zuerst war da gar nichts, und Mab dachte: Ich wusste, dass das nicht funktioniert. Dann war da etwas – keine Bilder, keine Stimmen, nur ein Gefühl, Liebe und Sehnsucht und Furcht … Schrecken, dachte sie und versuchte zu fühlen, worum es ging, denn Honey strahlte keine körperliche Angst aus, sondern Einsamkeit, Hilflosigkeit, etwas jenseits des Wunsches nach Liebe, das fast überwältigend war …

Mab ließ verblüfft ihre Hand sinken. Das Mentale funktionierte. Was sollte sie jetzt damit tun?

»Was ist?«, fragte Honey alarmiert.

»Sie lieben ihn sehr«, stellte Mab fest.

»Ja, das ist wahr«, antwortete Honey.

»Aber Sie haben Angst, dass etwas nicht ganz stimmt, Sie haben schreckliche Angst …«

»Nein«, stieß Honey hervor, und ihr Lächeln verblasste. »Nein, hab ich nicht, hab ich nicht …«

»Geben Sie mir Ihre Hand, Bill«, forderte Mab, und als er zögerte, fügte sie hinzu: »Sie glauben sowieso nicht an den Quatsch«, da streckte er seine Hand aus.

Mab nahm sie, entschlossen herauszufinden, was Honey unbewusst bereits wusste. Wenn dieser Mistkerl sie …

Liebe, unerschütterliche Liebe, und Schuldbewusstsein und Angst

»Ach herrje«, stieß Mab hervor, »Sie lieben sie auch.«

»Natürlich«, erwiderte Bill, und Honey begann wieder zu lächeln.

»Aber Sie werden ihr wehtun, Sie werden sie verlassen.« Mab blickte Honey voller Mitgefühl an. »Er liebt Sie, so sehr er kann, aber er kann Sie nicht sehr lieben.«

»Was?«, fragte Honey. »Warum nicht?«

»Honey, sie rasselt nur mit den Ketten«, beschwor Bill sie und versuchte, seine Hand wegzuziehen.

Das blanke Entsetzen steht ihm in den Augen, dachte sie und fühlte zum ersten Mal ein Wort: Terrornein, das ist es nicht … »Terry«, sagte sie, und Bill starrte sie betroffen an. »Terry, kennen Sie einen Terry?«

»Natürlich kennen wir einen Terry«, antwortete Honey. »Das ist Bills bester Freund. Sie spielen jeden Sonntag zusammen Basketball.«

Sie spielen nicht Basketball. »Sie müssen es ihr sagen«, ermahnte Mab ihn. »Das ist nicht fair. Sie liebt Sie so sehr, aber sie fühlt, dass da etwas nicht stimmt, und das macht sie elend.«

Bill sah Honey an, die noch immer verständnislos dreinblickte. »Ich will nicht …«

»Seien Sie nicht gemein, Bill«, mahnte Mab und ließ seine Hand los. »Man lügt nicht jemanden an, den man liebt. Wenn man jemanden anlügt, dann benutzt man ihn, weil man seine eigenen Bedürfnisse für wichtiger hält als die der anderen.« Sie musste an Joe denken: Nein, er ist anders. »Sehen Sie sie doch an, Bill. Sie hat es nicht verdient, belogen zu werden. Niemand verdient das.«

»Bill?«, stieß Honey fragend hervor.

Bill erhob sich. »Komm, lass uns gehen.«

Honey erhob sich ebenfalls. »Es ist alles gut. Du liebst mich. Das hat sie gesagt.«

»Wollen Sie Ihr Geld zurück, Bill?«, erkundigte Mab sich.

»Nein«, erwiderte er und verließ das Zelt, und Honey beeilte sich, ihn einzuholen.

Mab blickte zu Frankie hinauf, der auf einem Dachsparren hockte. »Dieser Job ist zum Kotzen.«

Aber ich kann wirklich wahrsagen.

Eine brünette Frau in den Vierzigern kam durch die Öffnung ins Zelt und nahm Platz. »Ich möchte etwas über meinen Geliebten hören.«

»Natürlich wollen Sie das«, meinte Mab. »Das macht einen Zehner.«

Es würde ein langer Tag werden.