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Moritz saß in seinem gestreiften Pyjama im Bett, vor sich einige Briefe und geöffnete Kuverts. Er sprach laut mit Alfred, den man durch die offene Badezimmertür gurgeln hörte:
Hier, diese Annemarie Born, die macht einen guten Eindruck: … und war ich viele Jahre im Dienst seiner Exzellenz, des Bischofs von Limburg.
Aus dem Badezimmer rief Alfred dazwischen:
Nicht koscher!
Moritz lachte. Er las weiter vor:
Oder die … Pauline König … die wäre was für dich, gelernte OP-Schwester, will sich verändern …
Als Nachtschwester!
Alfred kam, lehnte sich fotogen an den Türrahmen. Er trug ein T-Shirt und Boxershorts.
Es ist nicht eine dabei, die auch nur annähernd meinen Ansprüchen genügt.
Moritz lachte.
Hört! Hört! Seinen Ansprüchen! Na, was glaubst du? Angelina Jolie wird sich bewerben!?
Bestimmt nicht, solange du dein Gebiss veröffentlichst! Alfred zeigte mit dem Daumen in Richtung Badezimmer, wir sind doch nicht in der Pathologie.
Moritz nahm es gelassen.
Das ist kein Gebiss, sondern eine Brücke. Und teuer war sie auch.
Ja, ja. Golden Gate! Stell das Glas sonst wohin. Auf deinen Nachtkasten. Aber nicht mitten ins Bad. Das ist ja ekelhaft.
Moritz wehrte sich.
Das musst du gerade sagen. Hast du mal gehört, wie du aufstößt? Das ist ekelhaft!
Ich bin magenkrank.
Ah! Jetzt ist er plötzlich magenkrank! Auch nicht schlecht. Seit wann?
Seit wann! Seit wann! Ich hatte schon immer einen übersäuerten Magen. Und wenn ich dann so ein Gebiss sehen muss …
Was bist du so empfindlich? Du warst doch ein Horrorstar.
Alfred winkte ab.
Schlaf gut, rief ihm Moritz nach.
Ich lass mir von dir nicht vorschreiben, wie ich zu schlafen habe, sagte Alfred, bevor er die Tür schloss.
Irgendwann gab Alfred auf. Es war müßig, mit seinem Bruder über die Bewerberinnen zu streiten, und so überließ er ihm die Auswahl. Schließlich kannte Moritz die Anforderungen des Haushalts besser. Alfred erklärte sich bereit, sich fernzuhalten, wenn die Kandidatinnen ihren Besuch ankündigten.
Die Erste war Frau Finke.
Frau Finke war zweiundfünfzig Jahre alt und viele Jahre bei Schlecker Filialleiterin. Sie war es gewohnt, wie sie schrieb, selbstständig zu arbeiten, war entscheidungsfreudig und teamfähig. Moritz hatte der schmalen, dunkelhaarigen Frau mit dem strengen Dutt bereits das Haus gezeigt. Sie betraten am Ende der Führung Alfreds Zimmer.
Hier lebt mein Bruder, sagte Moritz. Er ist zwar etwas jünger als ich, aber nicht mehr so gut beieinander.
Ist er ein Pflegefall?, fragte die Frau unsicher.
Nein, das nicht. Aber wie gesagt, er kränkelt ein wenig.
Frau Finke sah sich das monumentale Filmplakat an. Moritz trat neben sie.
Sehen Sie, hier steht »Freddy Clay«. Das ist mein Bruder. Er war ein berühmter Filmstar.
Die Frau blieb noch einen Moment schweigend vor dem Poster stehen, dann sagte sie:
Ich geh nie ins Kino. Es läuft ja nur Quatsch.
Das wollte Moritz so nicht stehen lassen.
Es gibt auch gute Filme.
Es kommt ja alles im Fernsehen.
Was kommt schon im Fernsehen?
Manche Sachen sind ganz schön.
Na ja, manche …, sagte Moritz mechanisch und sah sich dabei um. Dann fand er, was er suchte. Er kam mit einer von Alfreds Autogrammkarten.
Möchten Sie vielleicht ein Autogramm?
Frau Finke verzog keine Miene.
Nein danke.
Haben Sie Kinder?
Zwei, sagte die Frau.
Dann nehmen Sie doch zwei mit, für die Kinder.
Er hielt ihr zwei Fotos unter die Nase.
Danke, aber meine Tochter ist geschieden und mein Sohn lebt in Detmold.
Moritz legte die Fotos wieder zurück.
So, Detmold … ausgerechnet … und was macht er da?
Er ist arbeitslos, sagte die Frau bedrückt.
Das kann er auch hier sein, dafür muss er nicht nach Detmold.
Frau Finke sah Moritz streng an.
Tja, ich muss mir das überlegen.
Ich auch, sagte Moritz.
Die nächste Bewerberin, Frau König, die ehemalige OP-Schwester, war eine untersetzte Mittvierzigerin. Sie stand verloren in der Küche herum, während Moritz hin und her ging und dozierte.
Wir sind kleine Esser, erklärte er, was isst man schon groß in unserem Alter? Kleinigkeiten.
Ja, sagte die Frau.
Sie können doch kochen, jedenfalls stand das in Ihrer Bewerbung.
Ja, ich kann kochen, meine Eltern hatten ein Wirtshaus.
Sie kommen aus Bayern, nicht wahr.
Die Frau bestätigte es.
Im Norden der Republik sagt man »Gasthaus« – also das Haus des Gastes. Bei Ihnen sagt man »Wirtshaus«, da hat der Wirt das Sagen. Daran kann man einiges erkennen.
Wie meinen Sie das?, fragte die Frau leicht aggressiv, wir sind auch gastlich.
Klar, sicher.
Eine peinliche Pause entstand. Moritz wollte das Gespräch wieder anschieben.
Abends essen wir meistens kalt.
Er ging zum Pinboard und zeigte ihr einen Plan.
Es ist nicht kompliziert bei uns, sehen Sie. Alles genau eingeteilt. Das ist der Speiseplan.
Für diese Woche?
Für alle Wochen, erklärte Moritz.
Es gibt jede Woche dasselbe?
Das gleiche, verbesserte er. Glauben Sie mir, das ist wunderbar. Man weiß immer, auf was man sich freuen kann.
In diesem Moment betrat Alfred die Küche. Er hatte eine Zeitung unter dem Arm. Er stellte eine volle Einkaufstüte auf den Küchentisch.
Das ist mein Bruder. Frau Kaiser, sagte Moritz.
König!, verbesserte ihn die Frau.
Alfred nickte kurz und ging wieder.
Die Frau sah ihm hinterher und sagte schnippisch:
Ich rufe Sie an.
Moritz und Frau Menschikowa, eine vitale Wolgadeutsche, standen im Keller vor einem Regal mit Marmeladengläsern. Jedes hatte einen ordentlichen, handgeschriebenen Aufkleber mit Inhaltsangabe und Datum.
Das ist mein Hobby, erklärte er.
Choppi? Sie verstand es nicht.
Nun, ein Steckenpferd …, versuchte Moritz zu erklären.
Pferd? Gaul?
Nein, es ist so. Meine Frau …
Frau?
Die Russin wusste nicht, was er meinte.
Ja, Frau. Aber meine Frau ist verstorben, versuchte es Moritz noch einmal.
Hn?
Sie ist tot!
Frau Menschikowa bekreuzigte sich und begann mit einem Klagegesang.
Oj, oj … armer Mann, Frau tot! Oj, oj …
Nein, nein, liebe Frau Mensch …, beruhigte er die Frau.
Menschikowa, sagen Ludmilla, sagte sie freundlich.
Frau Ludmilla. Das ist nicht so schlimm mit Frau, weil …
Sie unterbrach ihn entsetzt.
Nicht schlimm, wenn Frau tot? Das nicht sollen sagen …
Moritz sprach jetzt übertrieben langsam und betonte jedes Wort:
Doch, das ist sehr schlimm, aber meine Frau ist schon vor längerer Zeit verstorben.
Ah! Choroscho!, rief sie. Jetzt neue Frau!
Sie stupste ihn kumpelhaft am Arm.
Er lächelte gequält und fragte:
Sind Sie verheiratet? Sie Mann?
Frau Menschikowa machte eine abfällige Bewegung mit der Hand.
Mann meiner … pffft!
Jetzt war es Moritz, der nicht richtig verstand:
Pffft? Auch … tot?
Sie lachte heiser.
Nein! Hat er sich viel gesoffen, sie machte die Trinkbewegung, Wodka!
Und dann?, wollte Moritz wissen.
Und dann … weglaufen!
Das machte Moritz verlegen, ihm fiel nicht mehr ein als:
Ja, ja, so hat jeder sein Päckchen zu tragen …
Er wendete sich wieder seinem Eingemachten zu.
Also, Marmeladen sind meine große Leidenschaft.
Sie kam verschwörerisch an ihn ran und flüsterte:
Mann meiner ab … mit dreckige Judenchure!
Der Salon sah nicht mehr aufgeräumt aus. Moritz saß auf der Couch und blätterte ohne Hoffnung noch einmal alle Bewerbungen durch. Alfred war hinter dem »Corriere della Sera« verschwunden, den er sich manchmal aus Sentimentalität gönnte.
Morgen kommt noch mal eine, sagte Moritz.
Das liest man hier nie, meinte Alfred, dass es in der Zeit, während die arabischen Reitermilizen Darfur terrorisierten und Zehntausende von Menschen massakrierten, allein 22 Resolutionen der UN gegen Israel gab. Möchtest du wissen, wie viel gegen den Sudan ausgesprochen wurden?
Lass mich raten, sagte Moritz. Keine?
Bingo!, rief Alfred. Wenn in Gaza ein Mensch umkommt, sind hier Hunderte von Sympathisanten auf der Straße. Hast du schon mal eine Demo gesehen gegen die Ermordung von Christen in Nigeria? Oder die Hinrichtung von Schwulen im Iran? Immer nur, wenn es gegen Juden geht, werden die Menschen aktiv.
Moritz erhob sich.
Freddy, wir müssen uns nicht immer erzählen, was wir ohnehin besser wissen als die anderen.
Du hast recht, außerdem regt es einen nur wieder auf.
Weißt du, was mich aufregt? Wenn wir nicht umgehend eine Haushilfe finden, sieht es hier bald aus wie bei der Rebbezen im Bett!
Alfred hatte inzwischen die Programmzeitung in der Hand.
Wo ist die Fernbedienung?
Er sprang auf und begann, sie zu suchen. Moritz schaute ihm nach.
Ich will nicht fernsehen!
Aber ich. Stell dir vor: Es kommt »Schrecken der Nacht« auf 3sat. Da haben sie Themenabend Horror!
Muss ich das sehen? Diesen Schwachsinn!
Schwachsinn? Dieser Schwachsinn hat mich gut ernährt!
Er schaltete durch die Kanäle.
Freddy! Du hast ihn doch schon tausendmal gesehen. Von vorn, von hinten, in Zeitlupe, auf Hindi mit chinesischen Untertiteln.
Alfred unterbrach:
Das ist nicht dasselbe wie »live«!
Er zappte weiter durch die Kanäle.
Habe ich dir mal erzählt, wie Mauro Murano mich damals gecastet hat?
Ja! Ich kann es auswendig. Es war in Rimini am Strand!
Alfred war sauer.
Rimini! Es war in San Remo! Du schmock! »Die Nacht des Grauens« war in Rimini! »Schrecken der Nacht« war San Remo!
Alfred hatte den Sender rechtzeitig gefunden. Eine hübsche Moderatorin war zu sehen. Sie hielt ein Kärtchen in der Hand und sagte gerade:
Im Anschluss sehen Sie jetzt: »Schrecken der Nacht«, mit Harvey Stuart und Freddy Clay in den Hauptrollen.
Was nennt sie mich an zweiter Stelle? Die Kuh!
Moritz nahm seine Post und ging zur geöffneten Flügeltür.
Ich gehe ins Bett.
Alfred war außer sich.
Um halb elf geht er ins Bett! Fabelhaft! Du bist ausgesprochen ungemütlich!
Wie das hier aussieht! Räume lieber auf, anstatt deine alten schmonzes anzugucken. Aber nein! Er ist sich zu schade, der Herr Filmstar!
Alfred starrte auf den Bildschirm.
Schau dir wenigstens den Anfang an. Mein Auftritt ist nicht schlecht, sag ich dir!
Moritz sagte im Rausgehen:
Ich sehe deine Auftritte jeden Tag.
Dann war er weg.
Du mieser jid!, rief ihm sein Bruder hinterher.