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Alfred stand an der Tür und beobachtete Zamira, die aus dem Taxi stieg. Sie kam mit ihrer Reisetasche die drei Stufen hinauf und fiel Alfred um den Hals.

Herr Klee, ich bin froh, wieder daheim zu sein.

Daheim!, dachte Alfred, ein schönes Wort.

Sie war noch nicht ganz im Haus, als sie fragte:

Wie geht’s Herrn Feld?

Etwas besser.

Haben Sie mir einen Schreck eingejagt am Telefon.

Als wir von Prag zurückkamen, ging es ihm nicht gut. Ich habe sofort Doktor Perlmann gerufen. Der meinte, es sei eine Angina Pectoris.

Ist das schlimm?, fragte sie.

Während sie zu Moritz’ Zimmer gingen, sagte Alfred:

Es fühlt sich jedenfalls schlimm an. Enge in der Brust, Atemnot. Es dauert meist nur ein paar Minuten.

Sie waren am Zimmer angelangt, wo die Tür offen stand und der Patient aufrecht im Bett saß.

Zamira!, rief Moritz, welcome home!

Darf ich Sie drücken?, fragte sie und setzte sich aufs Bett.

Sie müssen mich drücken, sagte Moritz.

Sie nahm ihn in die Arme und er strich ihr übers Haar.

Sie machen uns Sorgen, Herr Feld.

Ich hätte auf jeden Fall mit dem Sterben gewartet, bis Sie wieder zurück sind.

Hören Sie auf mit dem Quatsch.

Gut sehen Sie aus, fand Moritz, wie war’s? Erzählen Sie.

Ja, sagte Alfred, was gibt’s Neues im Nahen Osten?

Er setzte sich dabei in Fannys Louis-Seize-Sessel, der in der Ecke stand.

Na ja, durch Syrien herrscht auch im Libanon angespannte Stimmung, begann Zamira zu berichten. Es kommen viele Flüchtlinge ins Land. Man hat mich beschimpft, weil ich gesagt habe, dass Assad mehr Menschen getötet hat als Israel. Ich habe nicht gesagt, wo ich arbeite.

Wie war die chaßene?, fragte Moritz.

Was ist das?

Die Hochzeit, erklärte Alfred.

Die chaßene war schön. Mein Onkel war supernett, aber mein Cousin war unfreundlich. Ich habe nicht gesagt, dass ich in Scheidung lebe. Dann werde ich nicht angemacht.

War Ihre Mutter auch da?, fragte Moritz.

Zamira nickte.

Ist was?

Möchten Sie, dass ich erzähle, was sie alles machen musste, bevor sie die Reisegenehmigung hatte?

Nein, sagte Alfred und erhob sich, wir können es uns denken und wir entschuldigen uns in aller Form dafür. Übermitteln Sie das bitte auch Ihrer verehrten Frau Mama.

Damit ging er nach draußen.

Herr Klee!

Moritz tätschelte ihre Hand.

Lassen Sie ihn, er leidet immer wie ein Hund, wenn Israel sich schlecht benimmt!

 

Am Abend erschien Doktor Perlmann. Zamira öffnete ihm die Tür und er verharrte einen Augenblick.

Ah, Zamira, sagte er, Sie sind wieder im Land, Gott sei Dank!

Und während er eintrat:

Wenn Sie nicht da sind, sind die beiden noch unerträglicher!

Sie lachte.

Wie war’s in Kairo?, fragte er.

Beirut, sagte sie.

Tatsächlich? Gut, ich will Ihnen nicht widersprechen. Ich schau mal auf die Intensivstation.

Rufen Sie, wenn ich helfen soll.

Er drehte sich nicht um, als er sagte:

Bleiben Sie bloß weg, sonst steigt sein Blutdruck noch mehr.

Als er an der offenen Tür zum Salon vorbeiging, sah er Alfred im Erker sitzen und über einem Sudoku brüten.

Freddy, sagte der Doktor und blieb in der Tür stehen.

Marian, was ich dich fragen wollte …

Er kam nah an den Arzt heran und sprach leise:

Sag, war es was Körperliches oder …

Er tippte sich an die Stirn.

Nein, es war sicher der Stress. Ihr seid auch meschugge, ihr zwei. Macht in fünf Tagen zweitausend Kilometer. Auf eure alten Tage.

Die meiste Zeit bin ich ja gefahren, sagte Alfred.

Umso schlimmer, meinte Perlmann, dann ist der Stress noch größer!

Du schmock!, sagte Alfred.

Nein, im Ernst, dein Bruder ist achtundsiebzig und auch wenn er äußerlich fit wirkt, so ist alles, was er unternimmt außerhalb der Normalität wohlgemerkt, mit Aufregung verbunden. Er muss sich auf neue Menschen einstellen, auf neue Situationen, und was ihr da unten erlebt habt, in der Heimat eures Vaters, war auch nicht schlecht. Warum muss man sich das antun?

Ich war gestresster als er, sagte Alfred.

Freddy, du bist Stress gewöhnt. Du warst Single, musstest dich selbst um alles kümmern. Dein Bruder hat im Elfenbeinturm gelebt. Hatte seine Uni, seine Frau, musste sich nie um etwas sorgen. Und wenn so jemand plötzlich in eine ungewohnte Lage kommt, kann das auf die Pumpe gehen. Kapiert?

Alfred nickte.

Damit machte sich Perlmann auf den Weg zu Moritz.

 

Zwei Wochen später am Jom Kippur war Moritz enttäuscht, dass ihn Alfred nicht zur Synagoge begleitete. Aber der wollte nicht heucheln, wie er sagte. Er sei bereits an Rosh Hashana gegen seinen Willen mit ihm in der Synagoge gewesen, das sei nun wirklich genug der Folklore. Also musste Moritz allein gehen.

Vor dem Betsaal traf er Norma und Halina, die sich nach Alfred erkundigten.

Fühlt er sich nicht gut?, fragte Norma.

Ich befürchte, er fühlt sich sogar sehr gut, erwiderte Moritz.

Verstehe, meinte Halina etwas verschnupft, allein mit dieser Amina.

Zamira, verbesserte Moritz.

Nachdem er gebetet hatte, wandelte er in den Pausen durch die Halle und traf immer wieder Bekannte. Nach dem Gottesdienst, gegen Abend, verließ er die Synagoge und ging nach Hause.

Du hättest mitkommen sollen, sagte er zu Alfred, der bereits am Tisch saß.

Warum?

Ich habe eine Menge Leute getroffen. Du jammerst doch immer, dass du keine sozialen Kontakte hast.

Ich hatte heute wunderbare soziale Kontakte!

Halina hat dich übrigens vermisst.

Ich sie nicht.

Ach? Ist dein Interesse schon wieder erlahmt?

Ich bin zu alt, um noch Balztänze aufzuführen!

Moritz wollte etwas erwidern, aber da kam Zamira ins Zimmer.

Sie stellte eine dampfende Schüssel auf den Tisch.

Sie erwartete offensichtlich ein Lob von Moritz.

Nu?, fragte Alfred. Ist das nichts? Sag schon was.

Moritz warf einen kurzen Blick über den Brillenrand in die Schüssel.

Ja, sehr schön, meinte er, ich hab seit Jahren kein Couscous mehr gegessen.

Aber wir. Als du heute an deinem Jom Kippur in deiner Synagoge warst und gefastet hast, haben wir zusammen gemütlich Couscous gegessen, stell dir vor.

Zamira verließ das Zimmer.

Guten Appetit.

Danke, Zamira, sagte Alfred.

Moritz wurde misstrauisch.

Was heißt das: »zusammen gemütlich«?, fragte er. Seit wann isst du in der Küche?

Wir haben hier gegessen. Hier am Tisch, so what! Ist dir Zamira nicht koscher genug?

Moritz wurde verhalten laut:

Alfred, wir hatten eine Abmachung. Und du hast diese Abmachung selbstherrlich aufgekündigt.

Schon, meinte sein Bruder, spielt a roll.

Moritz warf seine Serviette auf den Tisch.

Na, hör mal! Wie stehe ich denn jetzt da? Du als Robin Hood, ich, der Frühkapitalist aus Manchester.

Ach was! Lächerlich.

Moritz trat auf die Klingel und rief gleichzeitig in die Küche:

Zamira!

Alfred war das nicht angenehm.

Bitte, Moritz, lass das Mädel aus dem Spiel.

Zamira kam und stand unsicher in der Tür.

Ja, Herr Feld …

Moritz sagte im Befehlston:

Nehmen Sie sich einen Teller und setzen Sie sich zu uns.

Zamira ging wortlos an den Schrank.

Moritz sprach weiter:

Von nun an essen wir zusammen Abendbrot.

Alfred ergänzte:

Und Mittag auch, oder?

Moritz reagierte unwirsch:

Selbstverständlich. Mittag auch.

Zamira setzte sich.

Die Männer schauten sie an.

Sie lächelte.

Sie griff nach dem Löffel.

Heute Mittag, sagte Alfred, hatten wir so eine scharfe Soße …

Zamira sprang auf.

Harassa! Hole ich!

Sie lief aus dem Zimmer.

Alfred sagte kauend:

Weißt du noch? Das Couscous bei Gad in Jerusalem? Tausendmal besser!

Moritz flüsterte:

Was heißt! Kein Vergleich!

Zamira kam mit der Sauciere zurück.

Sie löffelte den Herren die Soße über die Hirse.

Dabei sagte Moritz kauend:

Zamira, Kompliment. Das Couscous, perfekt! Besser als bei unserem alten Freund Gad in Jerusalem.

Zamira strahlte:

Schön, dass Sie das sagen, Herr Feld. Das hat Ihr Bruder auch gesagt.

Am nächsten Morgen kam Doktor Perlmann zu einem Hausbesuch, bevor er in seine Praxis fuhr. Er erkundigte sich, wie Moritz das Fasten vertragen hatte, und als er anschließend in die Küche schaute, wo Zamira werkelte, fragte sie ihn, ob er einen Kaffee wolle. Obwohl der Arzt vor ein paar Minuten erst zu Hause einen getrunken hatte, sagte er nicht Nein.

Er setzte sich an den Küchentisch und fragte:

Ist Alfred noch nicht wach?

Doch.

Und wie ist er gelaunt?

Gut.

Dann hat er einen schlechten Tag, sagte der Doktor.

Sie lachte.

Er ist immer im Internet, liest Nachrichten. Er hat Angst, dass Israel Gaza angreift. Wegen der Raketen.

Das kann passieren, meinte Perlmann und griff dabei nach einem Buch, das auf dem Tisch lag. Er besah sich den Umschlag.

Rilke? So etwas lesen Sie?

Ja, sagte Zamira und stellte ihm den Kaffee vor die Nase, ich liebe Poesie. Beim »Panther« muss ich immer weinen. Leider weiß ich nix von Rilke. Und Sie?

Nun, Rilke war das Produkt einer amour fou zwischen einer Adligen und einem armen Müller.

Wirklich?, fragte sie und setzte sich.

Ja, sagte der Doktor, das ist doch bekannt. Rilke machte bereits mit zwölf Abitur und war der erste Mensch, der die Zugspitze im Winter in Halbschuhen bestieg.

Zamira schaute ungläubig.

Das wissen die Wenigsten. Nachdem er die Hieroglyphen entschlüsselt und die Quantenmechanik entdeckt hatte, durchschwamm Rilke aufgrund einer Wette den Ärmelkanal, er war sehr sportlich. Als seine Mutter von einer Pferdekutsche überfahren wurde, ließ er sich aus Schmerz über ihren Tod einen Schnurrbart stehen, nur weil er aussehen wollte wie sie. Und er nannte sich zu ihren Ehren von nun an Maria. Und das, obwohl seine Mutter Brigitte hieß. Rilke blieb ein rätselhafter Mensch.

Doktor!

Ich habe null Ahnung von Rilke, sagte er und nahm einen Schluck Kaffee.

Sie schmunzelte.

Alfred kam im Morgenmantel mit seiner Teetasse in die Küche geschlurft.

Was sitzt du hier rum? Warum bist du nicht in der Praxis?

Die Leute sollen ruhig ein wenig warten, sagte Perlmann und erhob sich, stell dir vor, du kommst zum Arzt und der hat sofort Zeit für dich. Zu so einem würdest du doch nicht mehr gehen, oder?

 

Wochen gingen ins Land. Die Kleefelds lebten in relativer Harmonie gemeinsam mit ihrem arabischen Hausmädchen, während die Eurokrise voranschritt, Frankreich ins Rutschen geriet, die Hamas Raketen nach Israel feuerte und ein Wirbelsturm die Ostküste der USA heimsuchte.

In der US-Wahlnacht schlief Zamira friedlich wie ein Säugling im Sessel, während Alfred und Moritz auf den Fernseher starrten. Es war früher Morgen und es liefen die Meldungen mit den aktuellen Ergebnissen aus den USA.

Als der Sprecher das Resultat von Ohio verkündete, hoben die Brüder ihre Gläser und stießen an.

Er hat’s geschafft, sagte Alfred, es ist gelaufen.

Gott sei Dank. Alles andere wäre eine Katastrophe geworden.

»Sandy« hat zwar das Leben der Menschen ziemlich durcheinandergewirbelt, sagte Alfred, aber der Hurrikan hat Obama zum Sieg verholfen.

In Gummistiefeln gewinnt man jede Wahl, sagte Moritz.

Alfred lächelte.

Das solltest du mal aufschreiben.

Dann leerte er sein Glas.

Ist sie nicht hinreißend?, fragte er seinen Bruder und zeigte auf die schlafende Zamira.

Ja, sagte Moritz, sie ist was ganz Besonderes.